Fort Geoff » Episode 001: Aufbruch, Einbruch, Ausbruch

Zahara atmete tief ein und Rauch füllte ihre Lungen. Sie hielt ihn einige Sekunden, dann blies sie drei fast perfekte Ringe in die kalte Nachtluft. Die eisgrauen Augen der Frau waren weit geöffnet und man konnte ein kindliches Glitzern in ihnen erkennen, wenn man genau hinsah – doch hier war niemand, der hinsehen konnte. Es war 4:47 Uhr nachts auf hoher See. Außer ein paar Matrosen, welche die Nachtschicht aufs Auge gedrückt bekommen hatten und sich so gut es ging drückten und versteckten, war keine Menschenseele mehr an Deck der Black Ostrich.
Ganz in Gedanken versunken zog die junge Frau erneut an ihrem Joint und lehnte sich zurück gegen die Reling, die Beine im Schneidersitz überkreuzt. Den Blick hatte sie seit stunden nicht vom Himmel abgewandt und die Kälte, die Zahara längt in ihren eisigen Klauen hielt, bemerkte sie kaum. Der Grund für diese geistige Abwesenheit fiel langsam und weiß vom Himmel: Schnee. Für viele Menschen nichts besonderes, doch für Bewohner des South Blue durchaus eine Seltenheit. Zahara hingegen stammte von Gazierah, einer heißen, steppenartigen Insel auf der seit Anbeginn der Zeit nie etwas anderes fiel als spärlicher Regen. Dies war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie die weiße Pracht des Winters mit eigenen Augen sehen konnte. Keine Geschichten, keine Bilder – sie konnte es auf der Haut spüren, auf ihrer eigenen Haut!
Saliet und Dakā hatten sich zwar wacker gehalten, waren jedoch nach einigen Stunden ins Trockene, warme geflüchtet. Gdân waren hart genug im Nehmen um sich von ein wenig Schnee nicht groß beeinflussen zu lassen, doch wahrhaftig wohlfühlen würden sie sich wohl nur im heißen Klima Gazierahs.
Gazierah. 36 Tage waren es nun schon, seit Zahara die Insel hinter sich gelassen hatte. Kurz nach ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie auf einem Steckbrief ihr eigenes Schwert erkannt und seitdem war sie auf der Suche danach – oder eher der Jagd? Es befand sich nämlich im Besitz des Piraten Oliver „Buzzard“ Levass', der sich vor einiger Zeit einmal mit der Marine angelegt hatte und seitdem auf der Flucht war. Zahara folgte Gerüchten und schipperte durch das South Blue auf der Suche nach Hinweisen. Bisher hatte sie schon zwei Inseln aufgesucht, die sich jedoch beide als kompletter Fehlschlag erwiesen hatten. Keine Spur von Buzzard, keine Anhaltspunkte. Auch jetzt folgte sie nichts weiter als einem Gerücht. „Ich hab' gehört, er sei schon weiter weg, am Rande des Blues.“, hatte Zahara in einer der vielen Kneipen aufgeschnappt, die sie besucht hatte. In diesen abgelegenen Teil des South Blues war sie nun unterwegs. Genauer gesagt ging es nach Fort Geoff, der einzigen großen Insel in der Nähe. Was sie sich von dieser dritten Reise erhoffte, wusste sie selbst nicht so richtig. Ihr Schwert tatsächlich bald in den Händen halten zu können war noch in weiter Ferne und das war der jungen Frau schmerzlich bewusst. Manchmal musste sie deswegen über sich selbst den Kopf schütteln – sie hatte nicht den blassesten Schimmer, warum genau dieses Schwert wichtig war oder ob es tatsächlich einmal ihr gehört hatte – und trotzdem war es der einzige Fokus ihrer Aufmerksamkeit.
Zahara wollte dieses Schwert – und wenn sie diesen verdammten Piraten bis ans Ende der Welt verfolgen musste. Wobei, erst einmal finden, dann verfolgen. Doch im Moment war Zahara ziemlich zufrieden, fast schon glücklich. Das erste Mal in ihrem Leben etwas Schnee auf der Haut. Wem würde das nicht gefallen?

Zahara – am nächsten Morgen. So lange hatte es nämlich gedauert, bis sie die Schnauze voll hatte von diesem schmelzenden, kalten Dreck aus dem Himmel. Sie war und blieb wohl für immer ein Kind der Steppe. Sie konnte sich glücklich schätzen, auf der letzten Insel noch einen wärmenden Mantel gefunden zu haben. Braunes, unbehandeltes Leder mit ein wenig Baumwolle gefüttert. Er war nicht sonderlich schön, hielt aber warm. Mehr oder weniger. Als die Black Ostrich den Hafen Thomasons anlief hinterließ Zahara ihre Kajüte ohne auch nur einen kleinen Finger für dessen Ordnung zu tun. Dafür gab es Angestellte.
Zwei letzte Nacht entwendete Steaks waren das heutige, blutige Frühstück ihrer beiden vierbeinigen Gefährten. Sie selbst hatte zu hungern – zum Einen fehlte das Geld, zum Anderen die Verfügbarkeit leckeren Essens. Sie verstand bis heute nicht, wie man morgens Brot mit süßer Marmelade essen konnte. Mettwurst mit Zwiebeln oder Leberwurst mit Senf. Darunter musste man nicht einmal anfangen.

Thomason war schon um kurz nach sechs Uhr morgens in Hochbetrieb. Die letzten Fischer beluden ihre Boote mit Netzen und fuhren hinaus aufs Meer, andere Schiffe wurden angetaut und ein wuselnder, einheitlicher Mob trug Kisten kreuz und quer über die steinernen Stege. Vollkommen ohne Organisation, ohne Ziel – so sah es zumindest für Zahara aus. Sie verstand von Schifffahrt und allem, was dazu gehörte, in etwa so viel wie von der Schneiderei (zu viele Löcher waren schlecht).
Ihr Blick wanderte zur kalten Morgensonne, die gerade begann gegen den Horizont zu kämpfen und sich gewaltsam empor streckte. Zahara blieb stehen und blies den letzten Rest des Kalla-Rauchs aus ihrem Körper, ehe sie den weißen Stummel ins Meer schnippte. Mit wachen, zusammengekniffenen Augen verschaffte sich die Frau einen Überblick des Hafenviertels und kam relativ schnell zum Schluss, dass hier jeder viel zu beschäftigt war um ihr etwas Zeit zu schenken. Sie zog die Schultern hoch um sich gegen den eisigen Wind zu wappnen und schritt mit gesenktem Kopf in Richtung Stadtinneres. Saliet und Dakā folgten ihr auf dem Fuße, Seite an Seite um sich etwas zu wärmen.
Zaharas erste Anlaufstation war in der Regel die örtliche Kneipe, doch um diese Uhrzeit war mit Sicherheit keine geöffnet. Die wenigen Passanten, die sie erwischte und denen sie den Steckbrief Buzzards unter die Nase hielt, hatten keine Ahnung. Relativ schnell war sie auch zuvor schon als Kopfgeldjäger angesehen worden – dabei war Zahara das Geld eigentlich ziemlich egal.

Quietschend öffnete sich die goldene Tür des Café Rochmilde. Die Besitzer – ein alterndes Ehepaar – schmückten gerade die Wände und Tische, offenbar in Vorbereitung des anstehenden Festes. Zahara setzte sich an einen Tisch nahe des Ausgangs und nahm die Speisekarte unter die Lupe.
„12-facher Espresso.“, sagte sie in strengem Ton, als sich der ältere Herr endlich zu ihr begeben hatte. Dieser nickte zwar, machte aber ein entschuldigendes Gesicht. „Es tut mir Leid, Miss, aber Hunde sind hier nicht gestattet.“ Zahara hob den Kopf und besah sich ihr Gegenüber genauer. Pummelig. Vermutlich sehr einfach gestrickt.
„Das sind keine Hunde.“, sagte sie und schnalzte mit der Zunge, woraufhin sich die beiden gdân unter den Tisch neben ihre Füße legten und keinen Mucks mehr von sich gaben. „Sie werden keine Probleme machen.“
Man hörte, dass für Zahara die Sache erledigt war und dass sie nun nur noch auf ihren Espresso wartete. Offenbar machte sie das sehr deutlich, denn Henrik Glove nickte nur und zog sich zurück. Zahara leckte sich über die blauen Lippen und faltete den Steckbrief Buzzards auf dem Tisch aus. Wo sie wohl am ehesten an Informationen kommen würde? Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Marine oder irgendwelche anderen zwielichtigen Gestalten auszufragen. Doch erst einmal konnte sie sich in aller Ruhe diesem viel zu schwachen Gesöff widmen, dass die Leute hier „Kaffee“ nannten.
Jämmerlich.
Und warum zum Teufel dudelte eigentlich die ganze Zeit diese grauenhaft kitschige Musik in diesem Laden? Lange würde Zahara hier nicht bleiben.

Thomason war zwar die Hauptstadt der Insel Fort Geoff, trotzdem handelte es sich über eine eher übersichtliche Ortschaft. Zumindest, wenn man wie Kai aus einer wahren Metropole stammte. Außerdem bedeutete übersichtlich für den oft in Gedanken versunkenen Händler nur, dass es etwas länger dauern würde, bis er sich verirrte; dass er irgendwann die Orientierung verlor, war von Vornherein klar. Die Frage war wie gesagt nur, wann.
Für die ersten Schritte aus dem kleinen Gasthaus konnte Kai jedoch noch den Überblick behalten, fand er sich doch nach der Überquerung einer Nebenstraße auf einer der großen Handelsmeilen wieder, die nach einigen Häuserblocks in einen großen Marktplatz mündete. Kai ließ sich von dem bereits steten Strom an Menschen davon treiben, die entweder ihrer Arbeit nachgingen oder bereits nach den preiswertesten Schnäppchen des Tages Ausschau hielten. Sein Weg führte ihn an zahlreichen Schaufenstern dabei, die er mit geübtem Blick im Bruchteil einer Sekunde untersuchen konnte, stets auf der Suche nach einer möglichst lukrativen Geldanlage.
Leider schien in Thomason trotz des prachtvoll verschneiten Panoramas, dem hellen Blau des Himmels und dem ersten Schmuck für irgendeine anstehende Festlichkeit nicht alles prächtig zu laufen: Die Preise, egal wofür, waren vergleichsweise hoch, und die Mienen der Händler entsprechend düster. Besonders auffallend waren die horrenden Summen, welche ein Waffenschmied für ein paar Pistolen von eher unterdurchschnittlicher Qualität verlangte. Noch vor einem Jahren hätte Kai direkt neben dem Eingang jenes Geschäfts einen Bauchladen mit deutlich höheren Kalibern für deutlich niedrigere Preise eröffnen und sich das Vielfache der Reisekosten verdienen können. Heutzutage hätte er lediglich die Waffen verkaufen können, die seinen Notbestand ausmachten – acht Pistolen und zwei Gewehre, die er zu seiner eigenen Sicherheit bei sich hatte, oder besser: Die auf seinem Zimmer auf ihn warteten. Die Reise in die Innenstadt von Thomason hatte er aus lauter morgendlichem Übermut völlig unbewaffnet angetreten.
Der Gedanke an die möglichen Folgen seiner Vergesslichkeit verblasste, als Kai auf dem weiten Marktplatz ankam, der von vornherein sein Ziel gewesen war. Etliche Leute ware damit beschäfitgt, Stände mit den unterschiedlichsten Waren aufzubauen: Nahrungsmittel reihten sich an Schnittblumen, gefolgt von Winter- wie Sommerkleidung, Tüchern und Stoffen mit Mustern endloser Farben und Formen, bis hin zu kleinen Buden mit warmem Essen oder Zeitschriften und kleinen Büchern.
Erneut war jedoch weniger die Vielfalt des Angebots bemerkenswert, als die teilweise unverschämten Preise. Beinahe wäre Kai das zufriedene Lächeln aus dem Gesicht gefallen, als er sah, dass ein viel zu pummeliger Landwirt 500 Berry für einen einzigen Kohlkopf verlangte. Das war mehr als das Dreifache des üblichen Preises! Sicher, eine leichte Steigerung war nach dem gestrigen Schneefall vermutlich angemessen, um die Nachfrage künstlich etwas anzukurbeln, aber das… das…
Kai konnte nicht anders, als an den Gemüsestand heranzutreten, einen der Köpfe in die Hand zu nehmen und ausgiebig zu untersuchen. Während der Besitzer, welcher noch immer mit dem Aufbau seines kurzlebigen Ladens beschäftigt war, nur langsam auf seinen ersten Kunden des Tages aufmerksam wurde, drehte Kai das runde Gemüse mehrmals um die eigene Achse, betrachtete es aus jedem Blickwinkel, zupfte an ein paar Blättern, schüttelte es, roch daran, und knabberte zu guter letzt an einem kleinen Fetzen. Erst in diesem Augenblick trat das Pummelchen an Kai heran, wobei ihm Schweiß über die Stirn rollte. Unter schweren Atemzügen, die Hände nervös aneinander reibend, schaute er zu dem deutlich größeren Mann herauf und ächzte:
„E-äh… E-entschuldigt, junger Herr, a-aber dürfte ich fragen, was ihr… was ihr mit meiner Ware da anstellt, ich meine… die abgerissenen Blätter muss ich euch wohl berech-“
„Auf welcher Grundlage fußt dieser Preis?“
Der Gemüseverkäufer war sichtlich überrascht von diesem harschen Einspruch dieses ihm fremden Kunden, doch andererseits wirkte das Männchen auf Kai wie jemand, der schon bei viel weniger zusammenzucken würde.
„W-wie meinen…?“
„Ich meine, wie kommst du darauf, dass auch nur eine arme Menschenseele einen halben Tausender für dieses, wie ich es aus Ermangelung eines besseren Begriffs leider nennen muss, Stück grünen Mülls ausgeben würde?“
Kais lächelndes Gesicht wandte sich abrupt vom Salatkopf in dieser Hand ab und fixierte den Händler. Der wandte sich sofort ab, Scham deutlich ins Gesicht geschrieben. Nein, Kai war nicht der erste, der ihm derlei ins Gesicht hat, sonst wäre der Kerl überraschter und ein klein wenig ängstlicher gewesen. Stattdessen machte das Pummelchen den Eindruck, genau zu wissen, was passieren würde. Was das war? Kai konnte nur raten, was sein Gegenüber erwartete: Eine heftige Diskussion, vielleicht eine Backpfeife, und letztendlich entweder einen Preisnachlass, oder…
Die Augen des schlaksigen Händlers folgten dem Blick des kleinen Pummelchens, als sich etwa fünf Stände weiter etwas Ähnliches abzuspielen schien. Nur war die dortige Situation etwas weiter fortgeschritten, besah man sich so des im Schneematsch liegenden Mannes, der unter dem schweren Stiefel eines Marinesoldaten zitterte.
Das war die zweite Besonderheit des Marktplatzes, und Kai schämte sich fast, erst jetzt ihr Ausmaß zu entdecken: Für den lokalen Handelsplatz einer vermeintlich freien Stadt tummelten sich hier viel zu viele Marines. Sicher, gerade beim Aufbau der Stände gab es immer wieder Streit unter den einzelnen Händler, was eine entsprechende Präsenz der örtlichen Sicherheitskräfte erforderte. Der Marktplatz von Thomason konnte aber mit einem Soldaten pro drittem oder viertem Stand auftrumpfen, und das ohne mit ein zu berechnen, dass vielleicht auf jeden dieser klar sichtbaren Männer noch mal einer kam, der sich in den Schatten hielt und nur dann auftauchen würde, wenn ein übermütiger Händler oder Kunde die Situation falsch einschätzte.
Mit einem leisen Rascheln fiel der angezupfte Salatkopf zurück zu seinen Brüdern. Eine knappe Handbewegung später zitterte kein 500er, sondern ein 5.000er Berry-Schein vor dem Gesicht des Händlers in der Luft. Kai bückte sich zu dem Pummelchen wie zu einem Kind herunter, wedelte noch einmal mit dem Geld vor seiner Nase, schob es ihm sachte in eine seiner Hosentaschen, klopfte ihm auf die Schulter und flüsterte dem Pummelchen abschließend leise ins Ohr:
„Keiner hier wird merken, wenn einem deiner überteuerten Klumpen ein oder zwei Blättchen fehlen, wenn du es nicht gerade an die große Glocke hängst. Doch genug mit Gemüse; wie wär’s, wenn du mir nun meine ursprüngliche Frage beantworten würdest. Und zwar ausführlich, bitte. 5.000 Berry ausführlich. Also… was geht hier vor?“

Einige Minuten und zwei Scheine ärmer, dafür um eine ganze Menge Informationen reicher, steuerte Kai die Ausläufer des Marktplatzes an. Noch immer lächelnd passierte er eines von zahlreichen Kaffeehäusern, wobei er diesmal jedoch keinen Blick auf das Schaufenster vergeudete – nicht nur, weil sich gerade etwa ein halbes Dutzend Marinesoldaten daran machte, den Laden zu betreten, sondern auch, weil ihm die Geschichten des Händler etwas auf den Magen schlugen. Zwar würde Kai die Informationen noch gegenprüfen müssen – am besten im Gespräch mit irgendeinem Schuster; wo steckten diese Kerle nur? – doch irgendwie konnte der Händler nur schwer glauben, dass die Worte des Pummelchens Lügen sein könnten.
Besser wäre es zwar, aber letztlich heißt das nur, dass wir dieses Städtchen etwas früher verlassen müssen, als gedacht.
Dass der Text seines neuen Lieblingslieds doch besser auf Thomason passte, als Kai es sich je erträumt hätte, ließ das Lächeln des jungen Mannes merklich breiter werden.

Der Kaffee war so schwach wie erwartet. Zahara konnte es kaum erwarten, wieder ihre eigenen Bohnen aufbrühen zu können. Dafür brauchte sie aber erst einmal eine Mühle und eine vernünftige, qualitativ hochwertige Kanne. Beides lag derzeit außerhalb ihres Budgets, was die gute Frau leicht nervte.
Sie zog ein paar Münzen heraus und legte sie vorsorglich auf den Tisch – sehr viel Kleingeld, dafür etwas zu wenig. Das Nachzählen sollte lang genug dauern, damit sie längst über alle Berge war. Zahara wollte sich schon zum Aufbruch bereit machen, als sie das Quietschen der Tür hörte und fünf in blau gekleidete Männer das Café betraten. Marines. Das konnte man auf den ersten Blick erkennen. Auf Gazierah hatte Zahara nur selten Kontakt mit ihnen gehabt, doch in letzter Zeit lief sie den blauen Helfern immer häufiger über den Weg. Die Männer schienen mürrisch gelaunt, denn nur einer (ein junger, blonder Bursche) machte ein paar Späße – keiner der anderen lachte darüber. Interessanter als ein kleines Bataillon Marines früh morgens in einem Café war jedoch die Reaktion des Besitzers dieses Etablissements: Er freute sich nicht über fünf zahlende Kunden sondern wirkte eher verängstigt. Neugierig geworden hob Zahara den Kopf und musterte die Neuankömmlinge noch etwas genauer. Lag die Abneigung des Besitzers an einem dieser Männer persönlich oder an ihrem Beruf?
Zaharas bisherige Erfahrungen mit der Marine waren ziemlich gemischter Natur. Sie hatte beobachtet, wie Zivilisten grundlos zusammengepfercht wurden. Zehn Minuten später hatte ihr einer der Blauen äußerst freundlich den Weg erklärt, ihr eine Stadtkarte geschenkt und Saliet gestreichelt. Ein wirkliches Bild hatte die junge Frau also noch nicht vom Militär dieser Meere – eine Vorstellung von der Weltregierung schon gar nicht. Das war für Zahara lediglich ein Begriff ohne Körper. Leere Floskeln, die sich nur in genau diesen blauen Uniformen zeigten – und das auch noch sehr undurchsichtig.
Zuvor noch hatte Zahara die Ehefrau Henriks über den Markt sprechen hören, der gerade aufgebaut wurde und eigentlich wäre das auch ihr nächstes Ziel gewesen. Doch wenn schon fünf Marines vor ihrer Nase saßen, konnte man diese doch auch direkt über Oliver „Buzzard“ Levass ausfragen. Als sich die Frau erheben wollte, nickte einer der Männer ihr bereits zu. Kein begrüßendes Nicken jedoch, viel eher machte er seine Kumpanen auf sie aufmerksam. Die ganze Gruppe machte keinen sonderlich hilfreichen Eindruck, doch Zahara klammerte sich an jeden Strohhalm und ließ sich von abschätzenden Blicken der Männerwelt nicht davon abhalten (wenngleich sie den Typen am liebsten in deren gerade angekommenen Kaffee spucken würde). Sie krallte sich also den Steckbrief und marschierte zielgerichtet auf den Tisch der Marines zu.
„Habt ihr den Mann hier gesehen? Er hat mir etwas gestohlen.“, sagte Zahara. Ihr erschien es als klug, zumindest ein bisschen das Opfer zu spielen, denn sie wollte nicht unbedingt als Kopfgeldjägerin angesehen werden. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Typen auch nicht sonderlich beliebt waren. Nun stand sie da also in Leder gehüllt und mit deutlichem Akzent und versuchte Hilfe von schlecht gelaunten Marines zu erhalten. Es fehlte ihr zumindest nicht an Engagement!
Die Männer in Blau antworteten nicht sofort, sondern besahen sich erst Zahara und tauschten dann einige Blicke aus. Letztendlich war es der blonde Jüngling, der die Hand nach dem Steckbrief ausstreckte – er wurde jedoch von einem seiner Kumpanen zurückgehalten.
„Etwas gestohlen also, hm?“, fragte ein großer, breitschultriger Marine mit braunen Haaren nach. Ein ungepflegter Dreitagebart spross in seinem Gesicht und er roch nach altem Schweiß. Zahara nickte nur. Ihr Bauchgefühl sagte eindeutig, dass sie soeben irgendwie einen Fehler begangen hatte. Diese Männer hier waren zu raubeinig, zu grimmig.
Der Braunhaarige erhob sich. „Glaubst du wirklich, wir kaufen dir diesen Scheiß ab, Missy? Kopfgeldjäger haben diesen Trick schon angewendet als du noch im Bauch deiner Mami geschlummert hast! Aber lass dir eins sagen: Nicht hier. Fort Geoff ist keine dieser verweichlichten Inseln, auf denen Pack wie Du tun und lassen kannst was du willst. Habe ich mich klar ausgedrückt?!“ Barsch und laut kamen die Worte über den Tisch geweht und Zaharas Kiefer verkantete sich wütend. Jede Faser ihres Körpers schrie danach, sich diese Ungerechtigkeit nicht bieten zu lassen. Doch was sollte sie tun? An ihren Dolch würde sie schnell kommen – und dann? Ihm die Kehle aufschlitzen und dafür ein Leben lang hinter Gittern verbringen?
Die ergebene Loyalität ihrer Begleiter war ein von Zahara sehr geschätztes Gut. Doch noch geschätzter war deren für Tiere überdurchschnittliche Intelligenz. Statt wie der klassische Hund zornig angerannt zu kommen, blieben die beiden gdân zurück unter ihrem Tisch und beobachteten lediglich. Sie hätten die Situation mit Sicherheit nur schlimmer gemacht.
„Johnson, beruhig dich doch mal...“, ertönte es plötzlich etwas kleinlaut von der anderen Seite des Tisches. Der junge Blonde war unsicher und man merkte ihm an, dass er seinem Vorgesetzten, wie Zahara den Abzeichen nach vermutete, nur ungern ins Wort fiel. Die blauen Augen Johnsons fixierten den Jüngling kurz und der schwieg sofort. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder Zahara.
„Möchtest du was sagen? Nein? Braaaaves Mädchen. Jetzt sei ein guter Hund und verzieh dich, klar? Machst du Ärger, finden wir dich.“
Zahara war keine nette Person. Zumindest nicht oft. Beleidigungen nahm sie nicht sonderlich gut auf und Zweideutigkeiten wurden in der Regel in den falschen Hals gesteckt. Direkte, ernst gemeinte Beleidigungen, setzten darauf noch eine ganze Schippe drauf. Sie wollte diesem Typen an die Kehle sprengen. Jetzt. Sofort.
Reißen. Zerfetzen. Die Wirbelsäule, die knackt so schön. Zieh sie ihm raus, direkt aus seiner Kehle., fuhr es ihr durch den Kopf und Zaharas Augen wurden stumpf. Sie benötigte ihre ganze Willenskraft um in dieser Situation nicht nachzugeben. Oh was für eine Befriedigung es wäre. Ein Schnitt, rotes Nass, Genugtuung. Der jungen Frau lief ein eiskalter Schauder den Rücken hinab, als sie sich umdrehte und ohne ein weiteres Wort aus der Tür schritt – Saliet und Dakā folgten sofort.
Draußen im kalten Wind musste sich Zahara erst einmal auf ihre Knie stützen. In ihr brodelte so viel Adrenalin und ein niederer Drang, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie lehnte sich mit einer Hand gegen eine nahe Backsteinmauer und legte ihre Stirn an den kalten Stein. Fast zwei Minuten verharrte sie so, bis sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Sie hasste es, sich beherrschen zu müssen. Diesem Stück Scheiße nicht das zu geben, was er verdiente. Sie wusste genau, was sie bei der nächsten Gelegenheit tun musste. Bestrafen. Das war die angemessene Behandlung für diesen Johnson. Sie musste ihn nur alleine erwischen. Ihr Blick wanderte zurück zum Café.
Bereiten die sich gerade auf eine Schicht vor? Oder die Nachtschicht. Nein, wohl nicht. Die würden ins Bett fallen, keinen Kaffee trinken. Schicht dauert lange. Reißen. Soll ich warten? Zahara begann zu zittern, schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Sie war wegen ihrem Schwert hier. Oliver „Buzzard“ Levass. Nicht für Johnson, nicht für ihre persönliche Agenda. Es war ein schwerer Entschluss, doch Zahara fasste ihn: Sie würde einfach gehen. Dabei würde sie sich scheiße fühlen und hassen, doch sie würde diese Sache einfach hinter sich lassen – sofern sie nicht später davon eingeholt wurde.
Nicht wirklich Zufrieden mit der Situation machte sich Zahara auf den Weg in Richtung Markt. Dabei kamen ihr noch einige viel zu laute Kinder entgegen, von denen zwei in den nächsten Müllhaufen gestoßen wurden. Kinder nervten.

Zahara spazierte von Stand zu Stand. Tomaten lagen neben Salatköpfen und Gurken, hier und dort gab es etwas Obst, das aufgrund der Jahreszeit allerdings kaum sonderlich gut schmecken konnte. Im South Blue hatte man es aufgrund des wärmeren Klimas dahingehend noch gut, doch dieses „gut“ war meistens eben nicht gut genug. Als Zahara jedoch an einem Händler vorbei kam, der tatsächlich noch einige Weintrauben hatte, konnte die junge Frau nicht anders, als dem Mann eine viel zu hohe Summe in die Hand zu drücken. Mit den Trauben in der Hand (oder eher dem Mund) konnte man diese nervige Insel doch schon viel besser verkraften. Zahara hatte schnell gemerkt, dass die Marine-Quote hier deutlich höher war als in anderen Orten. So viel Militär hatte sie noch nie auf einem einfachen Markt gesehen, der noch nicht einmal besonders gut besucht war. Nicht einmal fünfzig Menschen tummelten sich in dieser unmenschlichen Frühe auf dem Platz.
Sich immer wieder eine Traube in den Mund werfend, kam Zahara an einem der wenigen Waffenstände vorbei. Sein Angebot war nicht besonders gut. Hinten lagen einige alte Pistolen und ein Gewehr. Auf einem zweiten Tisch lagen verrostete Dolche, drei Säbel und ein viel zu großes Claymore. Wer zum Teufel kaufte so etwas? Ein Gegenstand war der jungen Frau jedoch sofort ins Auge gefallen: Ein leicht geschwungener Dolch – Tanto, wurden sie genannt. Seine Klinge glänzte wunderschön und zeigte keine Spuren von Gebrauch oder schlechter Verarbeitung. Schlicht gehalten, konnte eine zweite Waffe sicherlich nicht schaden, oder? Zaharas jetzige war nämlich keinesfalls sonderlich... gut. Eine alte, mittelmäßige Klinge, die mehr riss als schnitt.
Ihr Ziel im Auge gab es nur zwei Probleme: Das eine war groß, das andere klein und Brillenträger. Namentlich Preis und Verkäufer (zuordnen darf der werte Leser selbst, er ist ja Student und ach so „eigenständig“). Die kleine Brillenschlange machte einen aufgeweckten und wachen Eindruck – die kleinen Augen erinnerten an die einer Maus und folgten Zahara ohne Pause. Offenbar befürchtete der Mann schon, was Zahara auch tatsächlich plante: Das gute Stück stehlen. Kaufen konnte sie es so oder so nicht, der Preis war nämlich schlichtweg mehr, als die Frau bei sich trug. Da war die Frage, ob sie ihn bezahlen würde vollkommen hinfällig.
Doch Zahara wusste auch, dass hier sehr viele Marines patrouillierten und sie nicht einfach nach dem Tanto greifen konnte. Das wäre dann wieder das Leben-Hinter-Gittern, das wir vorhin schon besprochen hatten. Deshalb musste ein alter, aber sehr effektiver Trick her: Ablenkung. Wie praktisch, dass Zahara gleich zwei gut erzogene Gehilfen an ihrer Seite hatte, nicht?
Sie ging in die Knie und streichelte die beiden gdân hinter den Ohren. Unverständliche, exotisch klingende Worte wurden in ihre Ohren geflüstert und als sie sich wieder erhob, schlichen ihre beiden Gefährten hinfort.
„Das Schwert dahinten – wie viel willst du dafür?“, fragte Zahara nun und deutete auf ein Katana von mittlerer Qualität. Der Händler nahm die Waffe in die Hand und tat so, als würde er sie erst einmal gründlich prüfen. Als ob er seine Ware nicht in- und auswendig kannte. „12.500 Berry.“, sagte er schließlich und Zahara machte ein erstauntes Gesicht. Meinte der Typ das ernst? Sie musste sich zusammenreißen um nicht zu lachen und tat stattdessen selbst so, als würde sie die Waffe genauer unter die Lupe nehmen. Interessant war, dass unser kleiner Händler das Schwert trotzdem nicht aus der Hand gab.
„Dafür zahle ich nicht mehr als 5.000. Die Tsuba ist verrostet.“ Ein missmutiger Ausdruck trat auf das Gesicht des kleinen Mannes, als er den Kopf schüttelte. „Gute Frau, das wäre unter dem Einkaufspreis. 12.500 Berry ist bereits ein sehr guter Preis. Aber wissen sie was? Ich würde für sie sogar auf 11.000 herunter gehen. Nennen sie es guten Willen, weil sie heute mein erster Kunde s-hey!“, entfuhr es dem Mann, als plötzlich ein großer, brauner Hund hinter seinem Tresen auftauchte und seine Nase in einige Kisten steckte. Der Händler wirbelte herum und fuchtelte mit dem Katana herum um ihn zu verscheuchen. Gleichzeitig wurden zwei nahe Marines angeknurrt und so deren Aufmerksamkeit gefesselt. Diese zwei Sekunden kollektiver Unaufmerksamkeit nutzte Zahara nun, um das Tanto in ihre Tasche wandern zu lassen. Niemand schrie auf – also war der erste Teil erfolgreich verlaufen.
Die gdân verzogen sich sofort wieder um nicht in größere Schwierigkeiten zu geraten und würden Zahara in einigen Minuten wieder aufsuchen. Das war nicht das erste Mal, dass Zahara mit Hilfe der beiden Brüder etwas Geld sparte. „11.000 sind mir immer noch zu viel. Können wir uns vielleicht auf 6.000 einigen?“, fragte sie und erntete das erwartete Kopfschütteln. Hätte der Händler tatsächlich eingewilligt, wäre sie in einigen Problemen gesteckt. Stattdessen handelten die beiden noch etwas weiter und bekamen sich über den Preis in die Haare, ehe Zahara nach einigen Minuten als enttäuschter Kunde abzog. Irgendwann würde er schon merken, dass eines seiner Messerchen fehlte, doch dann wäre sie längst nicht mehr auf diesem völlig überteuerten Markt.
Sich Traube um Traube in den Mund werfend (sie flogen immer höher in die Luft) ging Zahara durch die Straßen Thomasons, stets Ausschau halten nach einer Möglichkeit, endlich an einige Informationen zu gelangen...

„Perfekt!“
Zum schätzungsweise hundertsten Mal trat Kai probeweise auf, doch die Stiefel schmiegten sich immer noch nahezu wie eine zweite Haut um seine Füße. Wer hätte gedacht, dass man in Thomason dch noch gute Ware zu einem vernünftigen Preis fidnen konnte? 4.000 Berry für ein paar Lederstiefel waren wirklich ein Schnäppchen.
Mit dem breitesten Lächeln des Tages übergab Kai der kleinen Frau, die ihn nicht nur über den Herstellungsprozess der Schuhe informiert hatte, die vereinbarte Summe in einem 5.000er und fünf 500er Scheinen, tanzte ein wenig hin und her, um zum hundertersten Mal die Sohlen zu prüfen, und verließ den Laden trotz der Ausgaben mit positiver Bilanz.
Vor dem kleinen Geschäft verdichtete sich der Menschenstrom allmählich, während Kai die Massen zu überschauen und einzuschätzen versuchte, wie viele Marines sich momentan auf den Straßen tummelten. Da er mittlerweile wusste, wonach er suchen musste, gestaltete sich dieser Versuch als ziemlich erfolgreich: Am einen Ende der Straße erspähte Kai etwa vier oder fünf Männer in einem kleinen Pulk, auf der anderen Seite marschierten drei Männer umher, und hier und da lehnte ein einzelner Soldat an einem Geschäft oder Wohnhaus und sah mit starrem Blick geradeaus.
Nein, Zweifel hatte Kai mittlerweile keine mehr: Die hiesige Marine plante etwas. Nur um der Bevölkerung zu zeigen, wer Herr im Haus war, musste man nicht durchweg Präsenz zeigen; da genügten auch einige vereinzelte Machtdemonstrationen. Es musste einen anderen Grund dafür geben, dass scheinbar die gesamte kampffähige Belegschaft der hiesigen Basis auf den Straßen der Stadt patrouillierte. Doch warum… diese Frage konnten ihm weder der Gemüseverkäufer erklären, noch die Schusterin, geschweige denn derjenige, wegen dem Kai überhaupt auf Fort Geoff war.

Vor ein paar Tagen, auf einer ganz anderen Insel…
„Eine komplette Waffenlieferung, sagst du? Im Wert von wie viel? Fünf Millionen? Sechs?“
Der alte Knacker lehte sich zurück, seufzte, und fummelte vergeblich mit seinem Feuerzeug am Ende seiner Zigarette. Irgendwann hustete er, auch ohne einen einzigen Zug gemacht zu haben, und pfefferte Zigarette wie Anzünder in eine der vielen düsteren Ecken seines Büros.
„Reiner Warenpreis? So, wie die Leitung die Sache zu vertuschen versucht, waren es mindestens zehn. Der Wiederverkaufswert fällt natürlich kleiner aus, aber wem sag‘ ich das.“
Trotz den letzten Worten seines Gegenübers begann Kai, auf dem drehbaren Sessel herumzuwirbeln. Zehn Millionen Berry Warenwert… das wäre ein guter Anfang. Ein sehr, sehr guter Anfang, den er entweder in den direkten Ausbau seiner Geschäfte investieren konnte, oder aber in weitere Kontakte bei der Marine. Wenn Kai sich als derjenige verkaufen könnte, der der Weltregierung heldenhaft ihre Ware zurückbrachte…
Nach einem leisen Kichern hielt Kai seine Stuhl abrupt an und schaute zurück zu Jacobson, der sein ergrautes Haupt auf einen Arm gestützt gerade so aufrecht hielt. Dem alten Kerl sah man an, dass er die letzten Tage wenig Schlaf bekommen hatte. Manchmal glaubte Kai, dass einer seiner ältesten Bekannten absichtlich jeder Ruhe aus dem Weg ging, aus Angst davor, dass jedes Nickerchen sein Letztes sein könnte. Das würde auch erklären, warum er so freigiebig wie noch nie seine Informationen preisgab – ihm war es egal, wer erfahren könnte, dass er einen Zivilisten in offizielle Geheimnisse eingeweiht hatte. Lange würde er eine mögliche Strafe doch eh nicht absitzen können.
„Und wo sagtest du, befindet sich dieser Levi… Level…“
„Levass“, fiel ihm Jackson müde ins Wort. „Oliver Levass, genannt ‚Buzzard‘. Merk‘ dir wenigstens den Namen des Kerls, den du um seine Beute bringen willst. Zuletzt hat man ihn wohl Richtung Fort Geoff abdampfen sehen. Sicher, der South Blue ist da unten ziemlich vereinsamt, aber allein diese mickrige Insel ist gefährlich genug für jeden Piraten, der sich auch nur in ihre Nähe wagt.“
Noch immer lag die Akte des neuen Kommandanten der Insel offen auf Jacobsons Schreibtisch. Ein Emporkömmling, wie er im Buche stand: Mit 16 in die Marine aufgenommen, drei Jahre später offiziell zum Soldaten ernannt, sein erstes Kommando mit 25. Seitem versuchte der Knabe verzweifelt, sich durch einen großen Coup einen Namen zu machen, um in die Oberliga aufzusteigen, bis jetzt jedoch vergebens.
Jacobson folgte dem Blick seines Gastes und klopfte nachdrücklich mit einem seienr knochigen Finger auf die Akte. „Wenn du mich fragst, hat dieser Idiot Levass schon eingebuchtet, meldet das Ganze den Oberen aber noch nicht, weil er irgendwas mit ihm vorhat. Vielleicht konnte er sich bei der Festnahme die Waffen nicht unter den Nagel reißen, vielleicht hat Levass sie irgendwo versteckt, oder vielleicht will er einfach noch ein wenig allein Spaß mit seiner Trophäe haben.“
Lächelnd nickte Kai seinem Bekannten zu, jedoch ohne die Augen von der Akte zu nehmen. Unter der Obhut dieses Stiefelleckers würde Kai nur schwer an Levass herankommen, wenn der Pirat sich wirklich hat schnappen lassen. Wenn nicht, so würde irgendwer auf der Insel hoffentlich mehr wissen.
„Im Grunde muss ich also nur irgendeinen auf Fort Goff stationierten Marine ausquetschen, um herauszufinden, ob Levass wirklich bereits verhaftet ist. Der Rest scheint Verhandlungssache.“
Jacobson bellte ein kratziges Lachen, das sich schnell in ein kratziges Husten verwandelte. Erst nach einer Weile fasste er sich wieder soweit, dass er seiner Belustigung Worte verleihen konnte. „Ja, sicher, Verhandlungssache. Du schmierst einfach irgendeinen kleinen Marine, der auf der Straße patrouilliert, lässt dich von ihm in die Basis begleiten, und verhandelst dann mit einem ehrgeizigen Marine über Geheimnisse, von denen du eigentlich gar nichts wissen dürftest.
Hör zu, Jungchen: So wird das nicht laufen. Vor einem Jahr hättest du als ‚Killing-Kai‘ vielleicht Erfolg gehabt. Heutzutage kennt man dich nicht mehr. Wenn du Glück hast, wird man dich hochkant von der Insel werfen. Wenn du Pech hast, trägst du dabei Betonschuhe. Ich hab‘ gehört, dass Fort Geoff seit dem Kommandowechsel eine einzge Marinebasis sein soll: Überall Soldaten, für die Disziplin alles ist, weil sie wissen, welche Strafen sonst auf die warten. Solche, die nur gefeuert werden, gehören zu den Glücklicheren.“
Die Warnung seines alten Bekannten verlieh Kais Lächeln einen leichten Schliff. „Dann kann ich ja froh sein, kein Marine zu sein, richtig?“

Mit einem leisen Kichern fädelte sich Kai in die Menschenmasse ein, passierte ohne einen zweiten Blick einen blonden Marine, der einer ziemlich stark tätowierten Frau hinterherheilte, und fokussierte die Grenze von Thomason, wo sich zwei hohe Wachtürme vor einer massiven Felswand gen Himmel reckten. Selbst der eher orientierungsschwache Händler wusste dank dieser klaren Wegmarkierung, wohin ihn seine Schritte letztlich leiten müssten:
Mitten in die Höhle des Löwen.

Die Trauben waren viel zu schnell leer gefuttert. Sobald die Letzte in einem wunderschönen Bogen in Zaharas Mund gelandet war, war dieser auch wieder schmerhaft bewusst geworden, was für einen horrenden Preis sie für dieses kurze Vergnügen bezahlt hatte. Seufzend warf sie die Reste auf die Straße und steckte die Hände in die Manteltaschen. Langsam aber sicher kroch die Kälte trotz des Innenfutters in ihre Knochen. Sie war sich sicher, dass ihre Lippen längst völlig blau waren.
Hinter sich hörte sie schneller und lauter werdende Schritte auf sich zueilen. Sie kniff die Augen zusammen und umfasste mit der linken Hand ihren Dolch, während sie sich vorsichtig über die Schulter umsah. Jung, blond, Marine. War der nicht... der Kerl aus dem Café! Sieht nicht wütend aus... schaut mir aber direkt in die Augen und hebt die Hand. Überrascht blieb Zahara stehen, hob die Brauen und wartete, bis der Mann zu ihr aufgeschlossen hatte. Sie war sich unsicher, wie sie mit dem Typen umgehen sollte. Einerseits war er Teil dieser Gruppe, gegen deren Anführer sie noch immer einen abartigen Groll hegte. Andererseits hatte er Johnson beruhigen wollen. War das hier einer der Guten?
„Hey! Du-“ Außer Atem war er zumindest. Hatte er sich beeilt, um Zahara einzuholen? „Ich heiß Dennis. Dennis Flower. Ich-“ „Komm erstmal zu Atem, Dennis.“
Stimmlage und Gesichtsausdruck des jungen Mannes gaben viele Informationen preis. Seine Körpersprache sagte ganz eindeutig, dass er mit Zahara kein Problem hatte. Im Gegenteil sogar – sein Gesicht leuchtete ein wenig und sein Körper war ihr gegenüber offen zugewandt. Zaharas Tipp: Der Kerl hatte Gefallen an ihr gefunden. Trotz der Aktion im Café? Ich muss geiler aussehen, als ich dachte., schoss es der jungen Frau durch den Kopf und sie musste zwangsläufig lächeln. Vielleicht war das hier ihre Möglichkeit, an Informationen zu kommen. Der älteste Trick im Buch, hm? Hatte das dieser Johnson nicht gesagt? Dann würde sie es eben mit dem zweitältesten probieren.
„Ich kenn dich aus dem Café.“, stellte sie lächelnd fest und fand Gefallen an der Art, wie Dennis zur Antwort nickte. „Genau. Ich... ich wollte mich für Johnson entschuldigen. Er ist eigentlich kein schlechter Kerl, aber wir sind hier alle ziemlich angespannt. Der neue Kommandant, der hier seit ein paar Monaten die Zügel in der Hand hält, führt ein ziemlich hartes Regime. Wenn wir nicht spuren, fliegen wir sehr, sehr schnell.“, erklärte Dennis und redete dabei etwas schneller, als man es wohl erwarten würde.
Er war ihr nachgerannt um ihr das zu sagen? Das war beinahe zu einfach. „Oh. Dieser Johnson vorhin hat mir trotzdem ganz schöne Angst eingejagt – ich bin keine Kopfgeldjägerin, musst du wissen. Ich hab doch nichtmal Waffen dabei, wie sollte ich da Köpfe jagen?“, fragte Zahara und berührte Dennis sachte am Oberarm. Männer waren immer bereit, Frauen zwei Dinge zu glauben: Erstens, dass sie ihn attraktiv fanden und zweitens, dass sie hilflos waren. Genau diese Punkte wollte sich Zahara zu Nutzen machen.
„Es ist nett, dass du nochmal gekommen bist. Hast du gerade was zu tun?“, fragte sie und nahm die Hand nicht von seiner Schulter. Fast hätte sie gelacht, als die Wangen Dennis' leicht rot wurden.
„Äh-Ich? N-Nein, nein. Also Ja, ich bin gerade im Dienst, aber das geht schon. W-Warum fragst du?“
„Hier auf der Straße kann man sich doch nicht unterhalten, außerdem ist es ganz schön kalt.“ Dennis wollte gerade seine Jacke ausziehen und der Dame anbieten, diese hielt ihn aber sofort zurück. Was für ein Weichei.
„Verträgst du noch einen Kaffee?“

Die beiden Turteltäubchen saßen wenige Minuten später in einem anderen Café und Dennis hatte soeben für zwei heiße Cappuccino gezahlt. Sie hatten sich über Zaharas „interessanten Hunde“ ausgetauscht und über ihre „ach so schönen und exotischen Tätowierungen“. Diese hatte all das über sich ergehen lassen um nun, da sie mit Getränken an Ort und Stelle gebunden waren, die Informationsmaschinerie anzutreiben, während sie mit dem Fuß sachte über Dennis' Bein strich. Jeder vernünftige Beobachter hätte gemerkt, dass Zahara auffällig schnell Gefallen an dem blonden Marine gefunden hatte. Schneller, als es eigentlich der Fall hätte sein können, denn der hübscheste war der Kerl auch nicht. Dem war das aber egal – er fühlte sich bestätigt und das reichte, um sein Selbstvertrauen bis ins unendliche zu pushen.
„Weißt du was über Levass?“, fragte sie nun und hüllte ihre Lippen in Schaum. Die Reaktion des jungen Mannes sagte ihr aber alles, was sie wissen musste: Er kannte den Namen!
„N-Ich... ich kenne den Namen, aber ich hab keine Ahnung, was er angestellt hat. Johnson hat vorgestern mit einem seiner Vorgesetzten über ihn geredet. Vielleicht hat er ja auch deshalb so gereizt reagiert vorhin. Tut mir Leid, wirklich! Wo kommst du eig-“
„Schade. Du hast gar keine Ahnung, worüber die beiden geredet haben?“, fragte sie und unterbrach Dennis direkt. Es interessierte hier keine Sau, wo sie her kam. Dennis wollte an ihre Wäsche, Zahara an ihr Schwert und beide spielten Spielchen um ihr Ziel zu erreichen.
„Nein, wirklich nicht. Sorry! Was hat er dir eigentlich geklaut?“
„Oh, ähm... ein Schwert. Also, eigentlich nicht meines. Hat meinem Vater gehört, der vor ein paar Wochen verstorben ist.“
„Das tut mir schrecklich Leid für dich...“
„Was? Oh, ja. Deshalb will ich es unbedingt wieder haben. Das hier ist es.“, sagte Zahara und holte erneut den mitgenommenen Steckbrief hervor. Dennis besah sich das Bild genauer, während seine und Zaharas Hände ineinander übergingen und ein Ausdruck trat in sein Gesicht, der Zahara sehr erregte: Erkenntnis.
„Das hab ich schonmal gesehen!“
Die Frau aus Gazierah schluckte und schwieg still. Rede. Rede, du kleiner Mistkerl!
„Das steht in der Schatzkammer der Marine-Basis! Ich habs vor ner Woche dort gesehen, als ich etwas für Johnson holen sollte. Weißt du...“ Zahara hörte nicht mehr zu. Ihre Augen waren groß geworden und starrten Löcher in die Tischplatte. Dennis konnte das nicht wissen, doch hatte er Zahara gerade die größte Freude bereitet, seit sie Gazierah verlassen hatte. Ihr Ziel, ihr Schwert, befand sich auf dieser Insel. Damit rückte Levass vollkommen in den Hintergrund – wenn das Schwert in Obhut der Marine war, war der Kerl wohl gefasst worden. Es interessierte sie auch kein Stück, ob die örtlichen Blauen etwas mit ihm geplant hatten. Nein, alles, was zählte, war dieses Schwert. So schnell die Freude aber auch in Zaharas Gesicht gestiegen war, so schnell verschwand sie auch wieder, als sie das große Problem erkannte: In. Der. Marine. Basis.
Sie hatte keine rechtliche Grundlage, das Schwert als ihr eigenes hinzustellen. Himmel, mehr als ein starkes Déjà-vu hatte sie ja selbst nicht. Wie um alles in der Welt sollte sie da rein gelangen? Einfach einbrechen war wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Ihre Augen wanderten zu Dennis. Aber vielleicht musste sie ja gar nicht einbrechen?
„...ein, tag aus. Ich weiß gar nicht, warum er uns überhaupt diese sinnlosen Befehle gibt. Weißt du wie viele Marines in der Stadt sind?"
„Dennis?“
„Äh... ja?“
„Kannst du mich mit in die Basis nehmen? Du würdest mir damit wirklich einen riesigen Gefallen tun.“, sagte Zahara und streichelte dabei die Hand des Mannes. Befriedigt konnte sie sehen, wie sich sein Atem etwas beschleunigte, als er darüber nachdachte. Sie konnte ihn mit sich selbst ringen sehen. Die Chance, Zahara damit für sich zu gewinnen kämpfte gerade mit der Tatsache, dass Zivilisten wohl ungern im Herz der Marine gesehen wurden.
„Vielleicht gibt es dort jemanden, der mir weiterhelfen kann!“, fügte sie hinzu und versuchte so gut es ging, die verletzliche Dame von Welt zu spielen. Das klappte aber nur sehr, sehr bedingt, denn die Aufregung, die in ihr erwacht war, ließ sich kaum zügeln. Sie war so nah am Ziel und es gab nur noch so wenig, wenngleich große, Hürden zu bewältigen.
„Bitte, Dennis.“
Ein breites Grinsen trat auf Zaharas Gesicht, als sie sich vorbeugte und einen Kuss auf die stoppelige Wange des blonden Mannes hauchte. Einen Weg hinein hatte sie. Doch das würde wohl kaum reichen...

„Ich wiederhole: Kein Eintritt. Und jetzt verschwindet!“
Wie oft hatte ihn die Wache nun schon abgewiesen? War es das fünfte, oder schon das sechste Mal? Ein sturer Bursche auf alle Fälle. Kais Lächeln wurde breiter.
Bereits etwa eine halbe Stunde diskutierte er nun bereits mit einem der beiden Wachleute, die den einzigen Tunnel bewachten, welcher durch die massive Kraterwand von Fort Geoff führte und die Stadt mit der Marinebasis verband. Flankiert von zwei hohen Wachtürmen war der einzige, offizielle Weg zur Basis unmöglich zu nutzen, wenn die Marine einen nicht in ihrem Heiligtum sehen wollte.
Natürlich gab es trotzdem Mittel und Wege, über die man in die Basis gelangen konnte. In Begleitung eines Marines – als Besucher oder Gefangener –, in der Verkleidung eines Soldaten, bei Nacht mit ein wenig schleicherischem Glück, oder aber durch einen der inoffiziellen Stollen, die jedoch nicht ungefährlich sein sollen. Kai hatte sich für nichts davon entschieden.
Der Händler kratzte sich am Hinterkopf, verbeugte sich knapp in einer entschuldigenden Geste, und plapperte ungehindert weiter drauflos. „Schon gut, schon gut, mein lieber Herr Soldat. Ihr möchtet mich nicht einsperren – noch nicht, wie ihr sagt –, mir keinen Besucherausweis ausstellen, und auch keine der ‚erhöhten Gebühren’ akzeptieren, die ich euch angeboten habe. Ich wollte eigentlich nicht, dass es dazu kommt, aber…“
Gespielt nervös blickte Kai hastig über beide Schultern, um sich anschließend verschwörerisch nach vorn zu beugen. „Ich habe einen Auftrag. Bin in offizieller Angelegenheit hier, ihr wisst schon. Top Secret. Die Sache geht leider nur euren vorbildlichen Kommandanten und mich etwas an. Allein, dass ich euch darüber etwas erzähle, bringt mich, die Basis, und ganz besonders euch in Gefahr. Also bitte, guter Mann, zu eurem eigenen Wohl, lasst mich durch.“
Der Wächter reagierte, wie nicht anders zu erwarten war. Ein zwielichtiger Kerl, der nach Bitten und Betteln jetzt mit Verschwörungstheorien ankam? „Natürlich!“, lachte er nur. „Ich habe es euch auch nicht gesagt, aber in Wahrheit bin ich der Kommandant der Insel, und schiebe hier nur Wachdienst, um den Kontakt zu den niederen Massen nicht zu verlieren. Ihr könnt mir also ruhig von dieser Angelegenheit erzählen! Entweder das, oder ihr verschwindet, und zwar hurtig!“
Kai rieb sich die Hände, nickte ein paar Mal, und legte den Kopf leicht schief. Sein Lächeln verließ keinen einzigen Augenblick sein Gesicht. „Ach ja, natürlich, ihr glaubt mir nicht. Und wieso auch? Es könnte ja jeder hier ankommen und behaupten, dass er etwas Persönliches mit dem großen Kommandanten zu besprechen hat.“ Diesmal war es der Soldat, der nickte. „Gut, gut. Wie gesagt, ich dürfte euch eigentlich nichts davon erzählen, aber…
Sagt euch der Name ‚Levass’ etwas?“ Kaum purzelten die zwei wichtigsten Silben dieses Satzes über Kais Zunge, da veränderte der Torwächter auch schon seine Haltung. Es waren kleine Zeichen – sein Körper versteifte sich, die Augen weiteten sich leicht, er schluckte, sah einmal ganz kurz zur Seite – doch Kai genügten sie, um einen kleinen, mentalen Freudensprung zu machen. Der Köder war ausgelegt, die Beute nahte. Bald schnappte die Falle zu.
Doch noch wehrte es sich, das kleine Tierchen. Wie eine Schlange begann es, sich zu winden. „Levall? Nie gehört. Und jetzt verschwindet endlich!“, keuchte der Wächter und legte eine Hand auf den Knauf seines Säbels, den er locker an der Hüfte trug. Die heiße Verhandlungsphase, wie Kai diese Augenblicke liebte!
„Levass, mein guter Mann, Levass. Und irgendetwas sagt mir, dass ihr den Namen schon mal gehört habt. Von eurem direkten Vorgesetzten? Irgendeinem Offizier? Oder gar von eurem Kommandanten? Nun, ich weiß nicht genau, wie das Thema in der Basis genau gehandhabt wird… Aber das, was ich weiß, lässt mich vermuten, dass der Name zumindest kursieren muss. Hat euch jemand angewiesen, nicht über den Kerl zu sprechen? Also, gar nicht?“
Der Wächter wurde nervöser. Ja, der Name huschte ganz offensichtlich durch die Gänge der Basis – jeder kannte ihn, doch keiner wollte oder durfte über die Sache reden. Vermutlich wussten die meisten Marines über diese Sache auch nicht mehr, als in der Zeitung stand. Nun, das, und dass sie eben nicht über diesen kümmerlichen Piratenabschaum reden sollten.
Doch eine Ausnahme gab es sicherlich. Eine Ausnahme gab es immer. „Ihr solltet nicht über Levass reden, bis irgendjemand den Eindruck machte, mehr zu wissen als gut für ihn ist, oder?“
Ein kleines Zucken. Ganz offensichtlich sollten die Soldaten alle Nachfragen bezüglich Levass melden. Wieso, das mussten die Arbeiterameisen natürlich nicht wissen. Die mussten nur wissen, was passierte, wenn sie nicht jede Information weitergaben, die sie bekamen.
Zeit für das letzte Aufbäumen. Die Beute war gefangen, wusste es nur noch nicht. Im Bruchteil einer Sekunde strafften sich die Gesichtszüge des Mannes, seine Haltung wurde entspannter, nur seine Hand auf seinem Schwert wurde härter, ebenso wie sein Blick. Aus steinharten Augen blickte er Kai über die Nasenspitze hinweg an und ließ mit der wohl tiefsten Stimme verlauten, zu der er in der Lage war:
„Hört zu, ihr seht mir wie ein vernünftiger Kerl aus. Ihr wollt handeln? Schön. Geht jetzt, und niemand wird erfahren, dass ihr versucht habt, einen Marinesoldaten zu bestechen. Tatsächlich wird niemand auch nur erfahren, dass ihr überhaupt hier wart. Und glaubt mir, das wäre für alle Beteiligten das Beste.“
Kai lächelte weiter. War er doch tatsächlich an einen der wenigen Gutmenschen in Blau gestoßen! Andernfalls befände sich Kai nun bereits auf direktem Wege zum Kommandanten, und zwar möglicherweise in Ketten. Stattdessen zeigte sich der gute Mann eher ängstlich und besorgt, was die ganze Sache anging. Der hiesige Kommandant regierte wohl tatsächlich mit eiserner Hand.
Dem weißhaarigen Händler taten seine folgenden Worte fast Leid, besiegelte er doch damit die Verwicklung des Torwächters in die ganze Sache. Leider konnte Kai nicht anders, als entschuldigend den Kopf zu schütteln und zu sagen: „Bedauerlicherweise muss ich mit eurem Kommandanten reden. Dringend. Wenn ihr also so lieb wärt und irgendeine höhere Instanz anrufen und ihnen folgende Worte ganz genau ausrichten könntet? ‚Ich weiß, wo die Ware ist’.“
Keine fünf Minuten später fand sich Kai, flankiert von zwei Marinesoldaten, auf dem schattigen Weg durch massiven Fels hindurch in Richtung der großen Marinebasis SB-6 wieder.

Der Weg nach SB-6 war nicht besonders lang, aber dafür sehr anstrengend. Nicht körperlich natürlich, doch die Scharade bezüglich Dennis musste aufrecht erhalten werden und das zehrte stark an Zaharas Nerven. Wer der Blonde nicht so verdammt nützlich, hätte er sich vermutlich längst eine gefangen. Von dem etwas verwirrten, schüchternen Mann von vorhin war nämlich kaum mehr etwas zu erkennen. Stattdessen war er jetzt der Marine-Macker, auf den wohl alle Frauen (seiner Meinung nach) stehen würden. Manche Männer waren ziemlich bescheuert.
Seine Hand um ihre Hüfte gelegt marschierten die Beiden einen steinigen Weg lang. Nicht weit entfernt konnte man schon die natürliche Festungsanlage sehen: Berge. SB-6 war nämlich in einem Krater (Ja wirklich, ein echter KRATER!) gebaut worden, hatte Dennis während der kleinen Reise berichtet. Es gab wohl nur einen einzigen, großen und stark bewachten Tunnel hindurch, sodass die Marinebasis als uneinnehmbar galt (lag wohl am KRATER). Dennis offenbarte jedoch auch, dass es unterirdisch einige eingefallene und nicht mehr genutzte Schächte, Stollen und Tunnel gab, die ebenso irgendwo in die Basis führen würden. Aber die würde niemand mehr benutzen, der noch ganz bei Trost und dem sein Leben lieb war. Zahara erfuhr von den rigorosen Maßnahmen des neuen Kommandanten, musste sich anhören, dass Dennis seiner letzten Freundin den Laufpass gab, weil diese ihn mit seinem besten Freund betrogen hatte und... nun ja, irgendwann hörte sie nicht mehr zu sondern schwelgte in Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe.
Ich werde Dennis nie dazu bringen können, mir einfach das Schwert aus der Schatzkammer zu bringen – so dumm ist er nicht. Einfach so geben werden die Typen es mir auch nicht. Ob ich es stehlen kann? Dafür bräuchte ich... Ablenkung. Viel Ablenkung und am besten noch einen Generalschlüssel. Ob da drin irgendwo noch ne Uniform rumliegt? Ich werde improvisieren müssen. Und... irgendwann muss Dennis weg, der ist sonst nur im Weg.
Zahara plante noch eine Weile in Gedanken vor sich hin, kam aber zu kaum neuen Erkenntnissen. Sie musste rein und dann sehen, was sich machen ließ. Doch eins war sicher: Ohne dieses Schwert würde sie Fort Geoff nicht verlassen.

„Noch einer? Ach du Schande, das ist Flower mit Anhang.“ Der mürrische Ausdruck auf dem Gesicht der Wache trat beiseite und ein breites Grinsen zeigte sich stattdessen.
„Du weißt ganz genau, was der Kommandant derzeit von Besuch hält, Flower!“, rief er den beiden Neuankömmlingen entgegen, behielt seinen Gesichtsausdruck aber bei.
„Ach stell dich nicht so an.“, antwortete Dennis und zwinkerte der Wache zu – Zahara hätte am liebsten laute Würgegeräusche von sich gegeben. „Ich möchte sie nur ein bisschen herumführen, außerdem liegt etwas von ihr in der Basis. Vielleicht kann man ihr ja weiterhelfen, ohne durch zwanzig bürokratische Türen manövrieren zu müssen.“
„Na ich hoff' für dich, die Dame zeigt dir ihre Dankbarkeit!“, sagte die Wache lachend und winkte die beiden durch das Tor. Zahara konnte vor sich, am Ende des Tunnels noch sehen, wie ein schmächtiger Mann von zwei deutlich stärkeren in die Basis eskortiert wurde. Dennis schien es auch zu bemerken.
„Oh? Schon wieder ein Gefangener?“, sagte er und nickte in die Dunkelheit des Tunnels hinein. Die Miene der Wache veränderte sich schlagartig ins ernste.
„Führ' deine Braut einfach durch die Basis ohne Ärger zu machen!“, bellte er und damit war die Sache erledigt. Zahara verschleierte so gut es ging ihre Neugierde. Viele Gefangene derzeit, die Marine war gereizt... vielleicht ließ sich daraus ja später noch etwas Ablenkung schaffen?

Der Tunnel war an die 100 Meter lang, die verbrachten sie aber schweigend. Zahara hatte das Gefühl, dass auch Dennis angespannter wurde, je näher er der Basis (KRATER!) kam. Als sie die Dunkelheit verließen und ins Licht der Morgensonne traten, schirmte die junge Frau sofort das Gesicht ab. Sie bemerkte, dass sie sich noch gar keine Gedanken über die Basis selbst gemacht hatte – nun sah sie, dass sie deutlich größer war, als Zahara bisher angenommen hatte. Sie befanden sich zwischen zwei hochgewachsenen, gut besetzten Wachtürmen und vor ihren Augen erstreckte sich ein riesiger Übungsplatz, auf dem an die zehn Rekruten gerade von einem vernarbten, alten Mann zur Sau gemacht wurden. Zahara erkannte aber sofort, dass eben dieser alte Sack verdammt gut wusste, wie man mit einem Schwert umging – denn die Rekruten hatten ihm kaum etwas entgegen zu setzen.
Am Ende des Platzes erhoben sich insgesamt fünf andere Gebäude, die mehr oder weniger ineinander übergingen. Drei davon waren direkt in die Felswand hineingebaut worden und sahen so aus, als ob sie Schlafsäle, Küchen und Essensräume beherbergten. In der Mitte hingegen war ein kleines, dafür wichtig anmutendes Gebäude – da auch der dünne Gefangene soeben dort hineingeführt worden war, vermutete Zahara, dass sich dort die Arrestzellen und in den oberen Stockwerken wohl auch die wichtigeren Persönlichkeiten der Marine aufhielten. Sie tippte darauf, dass sich dort die Schatzkammer befand. Zu ihrer Missgunst aber führte der Weg, den Dennis sofort einschlug, in Richtung Baracken.
„Dort drin sind unsere Baracken.“ … Zahara besah sich Dennis mit blödem Gesichtsausdruck. Da waren also die Baracken? Pff. Krater.
„Ein paar hundert Marines schlafen jede Nacht darin, daher ist es die meiste Zeit verdammt laut. Du glaubst gar nicht, wie die Schnarchen!“
„Du nicht?“
„Nein, natürlich nicht!“, sagte er und wurde ein wenig rot.
„Was ist in dem da?“, fragte Zahara und deutete auf das zentrale, kleinere Gebäude.
„Dort drin sitzt unser Kommandant und seine obersten Offiziere. Hauptsächlich Verwaltungskram wird dort geregelt. Größere Besprechungen werden auch dadrin abgehalten.“
„Und die Schatzkammer ist...“
„Oh, ganz dort rechts, beim Gefängnis. Es gibt noch eine im Zentralgebäude, aber da werden nur ganz besondere Sachen gelagert.“ Jetzt erst konnte Zahara sehen, dass einige der Fenster vergittert waren. Dann wurde unsere weißhaarige Gestalt wohl doch nicht direkt in eine Zelle geworfen. Oh, der Glückliche.
„Macht es dir was aus, wenn wir uns erst um mein Schwert kümmern? Ich würde es so gerne mal wieder sehen, weißt du? Danach kannst du mich in aller Ruhe rumführen, ja?“
Dennis zuckte mit den Schultern und legte wieder seinen Arm um Zaharas Hüfte. Tiefer als zuvor, bemerkte sie. Sie biss sich grimmig auf die Lippe und ließ sich in Richtung Erinnerung schieben.
Reißen. Zerfetzen.

Die nur allzu typische Situation ließ Kai schmunzeln. Egal, ob man mit einem kleinen Gauner, einem Freischaffenden, einem Großhändler und einem Marinekommandanten ein kleines, geschäftliches Schwätzen halten wollte, es war immer das gleiche: Der Bittsteller wurde erstmal warten gelassen, um die eigene Machtposition zu festigen. „Du willst was von mir, also sitzt du dir erstmal deinen Hintern platt“. Nun, Kai hatte in seinem vergleichsweise kurzen Leben schon sehr oft dekorativ in der Ecke gesessen und gewartet, bis man ihn hinein bat. Geduldig war der junge Mann also allemal, und außerdem konnte er die Zeit ja auch produktiv nutzen – zum aus dem Fenster schauen, beispielsweise.
Fast ein Dutzend Gebäude umfasste die Marinebasis SB-6, und Kai war natürlich ins Kleinste geführt worden, das die Verwaltung und die Räumlichkeiten der Leitung beherbergte. Die Baracken, das Gefängnis, die Mensa und eine Art Sporthalle oder Trainingszentrum hatte Kai derweil nur von außen bewundern dürfen, zumindest bisher; wenn alles glatt lief, würde er das zweite Gebäude mit den hübschen Gittern vor den Fenstern in Bälde auch von innen betrachten dürfen. Der Rest der Basis hingegen interessierte ihn recht wenig: Hier trainierten ein paar junge Kerle mit einem wettergegerbten Alten den Schwertkampf, dort führte ein Soldat wohl seine neuste Freundin herum, und ab und an sah man in irgendwelchen Fenstern andere Rekruten ihrer Arbeit nachgehen.
Auf den ersten Blick deutete damit nichts darauf hin, dass in der Basis ein heftiger Drill herrschte. Nirgendwo buddelten unbrave Soldaten unnötige Löcher, es gab niemanden, der einfach nur im Matsch saß und weinte, und schlaffe Körper baumelten schon gar nicht im Wind. Eigentlich machte die Basis damit einen friedlichen Eindruck, obgleich vielleicht auffallend war, dass fast zu wenig los war. Kein Wunder bei dem Aufgebot in der Stadt, aber trotzdem waren es irgendwie wenige Männer. Auf der anderen Seite schloss Kai auch nicht aus, dass die Anblicke, die der Kommandant vor möglichen Besuchern geheim halten möchte, irgendwo in den Eingeweiden der Basis zu finden sind. Wenn es unbeachtete Tunnel im Fels gab, so gab es bestimmt auch beachtete Stollen abseits des Haupteingangs, in denen man sicherlich hervorragend verbotene Experimente durchführen und teure Schätze lagern konnte.
Beim Gedanken an letztere begann Kais linkes Bein nervös auf und ab zu wippen. Selbst wenn bei der Verhaftung von Levass nichts sichergestellt werden konnte, müsste eine Basis doch auch so irgendwelche Beweisstücke lagern, wie beispielsweise Waffen, irgendwelche Karten von versteckten Fleckchen, oder einfach nur Akten mit pikanten Geheimnissen über wichtige Personen der Weltregierung. So oder so musste es in dieser Basis einfach etwas geben, das sich zu Geld machen lassen konnte. Am besten zu viel Geld.
Zunächst galt es aber, Kais Besuchsrecht etwas, nun ja, zu erweitern. Das Verwaltungsgebäude einer Marinebasis an der Seite zweier Muskelpakete durchstolpern zu dürfen war zwar durchaus eine tolle Erfahrung, aber auf Dauer doch etwas monoton. Die Ruhepause, wie man es genannt hatte, welche nun schon… hmm, doch nur ein paar Minuten dauerte, schaffte der Langeweile leider keine Abhilfe.
Umso glücklicher war Kai dementsprechend, als die Türe zu seinem eigenen, kleinen Privatwartezimmer aufgesperrt – ja, gesperrt – wurde, woraufhin ihn eine bebrillte Sekretärin mit zu einem Zopf gebundenen, roten Haaren endlich ins Allerheiligste führte. Der Eingang hierzu war eine breite Doppeltür, von der die Dame nur einen Teil aufzog.
Arnold Benedict war eigentlich ein unauffälliger Kerl. Er war von durchschnittlicher Statur, hatte eine durchschnittliche Kurzhaarfrisur in durchschnittlichem Schwarz, ein durchschnittliches Gesicht, sowie eine durchschnittliche Brille mit runden Gläsern. Kurzum: Traf man Benedict auf der Straße, muss man sich arg anstrengen, um sich auch nur an seine Existenz zu erinnern. Nur ausgesprochene Gedächtniskünstler können sich derweil wenigstens an seine Brille erinnern.
Nun saß dieser durchschnittliche Mann jedoch in einem beinahe gigantischen Ledersessel hinter etwas, das mal ein jahrhundertealter Ebenholzbaum gewesen sein mag; jetzt war es lediglich ein Klotz von einem Schreibtisch. Der ganze Raum war voll gestellt mit Aktenordnern und –schränken, überall flog Papier umher, und natürlich war der Boden vor lauter Dokumenten nicht wirklich zu erkennen. Es war ein unglaubliches Chaos, ganz so wie man sich jede einzelne Behörde der Weltregierung in seinen schlimmsten Alpträumen vorstellt.
Ein einfacher Mann, umgeben von etlichen Akten. Gut, als Kommandant konnte er damit durchkommen, vor allem mit all den Abzeichen auf seiner Uniform. Doch irgendwie fehlte ihm das gewisse Etwas für einen hinterhältigen und auf Disziplin achtenden Menschenschinder. Irgendwie passte das alles so wenig zusammen, dass Kais Lächeln beinahe leicht zusammengefallen wäre.
„Schatz, hier ist der Mann, der behauptet, etwas über den Verbleib ‚unserer Ware’ zu wissen“, ertönte es da von der Seite. Die rothaarige Sekretärin zog die Tür hinter Kai zu und postierte sich direkt neben den Kommandanten der Basis, mit dem sie ganz offenbar verheiratet war. Hmm, das zumindest stand nicht in den Akten.
Benedict nickte seiner Angetrauen dankbar zu, zauberte aus dem Nichts ein weißes Tuch hervor, und tupfte sich damit die Stirn ab, bevor er mit einem Handzeichen seinem Besuch bedeutete, sich ihm gegenüber auf einen wackeligen Hocker zu setzen. Eine nette Taktik: Der Boss saß im gemütlichen Chefsessel, der Bittsteller musste aufpassen, nicht auf dem Boden zu landen.
„So, so, so. Informationen über Levass also?“ Benedict besaß eine überraschend hohe, fast weiblich klingende Stimme. So, wie seine Frau den Arm um seine Hüfte geschlungen hatte, konnte man fast meinen, dass die Dame ihren Gatten als Handpuppe benutzte. Leider zerbrach die Illusion, als die Hand der Rothaarigen an ihre Seite zurückkehrte, wobei ein aufmerksamer Blick Kai direkt traf. Oh, das wird noch interessant.
„Dann erzählen sie doch einfach mal, was sie zu wissen glauben, Herr… wie war doch gleich ihr Name?“
Den steten Schlitzen, zu denen Kais Augen verzogen waren, konnte man es kaum ansehen, doch anstatt den Kommandanten der Basis anzuschauen, betrachtete er die rothaarige Sekretärin. „Kai. Kian Kai ist mein Name, Benedict-taichou. Auch bekannt als Killing Kai, Kill Kai, Koroshi… aber meine Freunde nennen mich Nyan-Kai.“ Bei seinem letzten Spitznamen musste selbst der Händler breiter als gewöhnlich grinsen. „Vor allem solche Freunde, die ein Geschäft gern mit etwas Alkohol begießen.
Also, wie wäre es, wenn sie irgendwo in diesem Chaos eine Flasche mit vielen Prozenten auftreiben, und ich ihnen dafür verrate, wie sie an ihre Waffen kommen?“

Der Gefängnistrakt war größer als Zahara erwartet hatte. An jeder Tür stand eine bewaffnete Wache – und wenn es nur in den nächsten Gang mit der nächsten Tür führte. Zusätzlich war in jedem Durchgang ein kleines Fenster angebracht, sodass man selbst durch eine geschlossene Tür im Notfall überblicken konnte, was dahinter geschah. Die Zellen selber waren nicht besonders groß, dafür zahlreich vorhanden. Sie reihten sich nahtlos aneinander, waren von steinernen Wänden umgrenzt und die Vorderseite mit einem Kreuz-Gitter versehen. Keine klischeehaften Stäbe wie in Filmen, wo jeder zweite sich durchquetschen konnte. Hier musste man schon durch ein 20x20 Loch passen um die Freiheit zu sehen – außer natürlich, man knackte das schwere Schloss, mit dem die Metalltüren verriegelt waren oder bestach eine der Wachen (es liefen ja genug rum, da würde sich schon eine finden).
Dennis und Zahara waren nur kurz durch ein paar Gänge gelaufen und die junge Frau stellte fest, dass erstaunlich viele Gefangene den Weg in die Basis gefunden hatten. Die wenigsten sahen aus wie Schwerverbrecher. Levass hatte sie auf die Schnelle nicht entdecken können, aber bei so vielen Zellen war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einfach in einem anderen Flügel untergebracht war, wo vermutlich auch die Zellen selbst noch ausbruchsicherer waren.
Die vielen Wachen ließen sich alle jedes Mal aufs Neue erklären, warum Dennis mit seinem tätowierten Anhang hier durch musste und das kostete viel, viel Zeit. Zeit, die Zahara eigentlich nicht verschwenden wollte. Doch es war ein notwendiges Übel und wenn es sie dem Schwert näher brachte, konnte sie dieses Opfer bringen – zumindest in einem gewissen Maße. Als Dennis mit einem hier stationierten Bekannten knapp zwei Minuten über Belanglosigkeiten tratschte, war sie aber schon kurz vorm Platzen. All die Erregung zu zügeln viel ihr unglaublich schwer; sie war nie die geduldigste Person gewesen.
Nachdem sie eine weitere schwere Holztür passiert hatten, sah Zahara aber ein Licht am Ende des Tunnels. Dieses Licht hatte ebenfalls Gitterstäbe, war aber ein sehr viel größerer Raum, in dem unzählige Fässer und Kisten standen. An den Wänden waren Regale angebracht und es häuften sich die verschiedensten Waffen und Alltagsgegenstände. Offenbar wurde hier alles auf einen Haufen geschmissen, was nur irgendwie mit Gefangenen zu tun hatte. Zahara konnte einen Karton voll Schwerter sehen, fünf Streitäxte, sogar ein Morgenstern lag alleine auf dem Boden herum. Daneben türmten sich schwere Wintermäntel, Geldbörsen (die ziemlich leer aussahen), ein paar Koffer und einige Dokumente, die lose verstreut herumlagen. Ihr Schwert konnte sie jedoch nicht erkennen. Plötzlich kam sie auf den Gedanken, dass sich Dennis auch einfach geirrt haben konnte und das Schwert verwechselte. Oh, was sie dem armen Kerl nur antun würde. Falsche Hoffnung war mit das schlimmste Gefühl der Welt und etwas, das Zahara so schnell nicht verzieh.
„Hier wären wir. Wo ist denn nur Meister Karlsson?“ Dennis sah sich suchend um, doch im selben Moment trat ein alter Mann in Robe aus einer Tür und schloss gerade seinen Hosenstall, ehe er die nassen Hände an der Hose abwischte.
„Ah, Karlsson! Euch habe ich gesucht, guter Mann.“
„Hm... kenne ich eu- Ah! Dennis! Du warst aber auch schon eine Weile nicht mehr hier unten. Was führt dich in die gute Stube? Und wer ist deine hübsche Begleitung, wenn ich fragen darf?“, säuselte der alte Mann. Zahara schätzte ihn auf Anfang 60. Seine Haut war von Falten überzogen und sein Rücken schon ein wenig gebuckelt, doch er schien noch beweglich genug um sich herabzubeugen und einen kratzigen Kuss auf ihre Hand zu hauchen.
„Und was haben wir hier?“, fragte er mit hochgezogenen Brauen, als er in die Knie ging und Zaharas Begleiter begutachtete. „Ist es möglich... Aber ja doch! Mein liebes Fräulein, wie um alles in der Welt haben sie es geschafft, zwei gdân abzurichten? Ich dachte, das würde nur den... ah, natürlich. Was brachte sie dazu, ihre Heimat hinter sich zu lassen?“
Zahara versuchte gar nicht erst, ihre Überraschung zu verbergen. In einem Keller einer Marinebasis saß ein alter, braunhaariger Gelehrter auf einem Stuhl und kannte ihre Heimatinsel? Die Neugierde hatte sie ergriffen und für ein paar Sekunden vergaß sie ihr Schwert.
„Woher wissen sie das?“, fragte sie ganz direkt und ehrlich. Karlsson winkte ab und lachte laut und mit starker Stimme.
„Ich war nicht immer so alt. Bevor ich hier stationiert wurde, habe ich mich in Westhaven Port um verschiedene... Güter gekümmert. Wie wäre es, wenn du jetzt meine Frage beantwortest? Was führt dich hier her?“
„Ich- Dennis sagte, er hätte in der Schatzkammer etwas gesehen, das mir gehört. Ein Schwert – Erbstück meines verstorbenen Vaters.“
„Oh, das ist ja ein erstaunliches Glück! Durch Zufall auf die richtige Insel gekommen und den richtigen Mann kennengelernt? Na wenn das kein Schicksal ist. Dann wollen wir doch mal sehen... wie sieht dieses Schwert denn aus?“ Dennis grinste übrigens verlegen, während Zahara sich kaum zügeln konnte.
„Knapp einen Meter lang, breite Klinge. Der Griff ist mit rotem Samt überzogen und ein ebenso rotes Tuch hängt vom Ende herab.“ Karlsson zog einen dicken Schlüsselbund aus seiner Robe und schloss die Tür der Kammer auf.
„Du hast Glück, ich weiß sogar von welchem Schwert du redest.“, sagte er und blieb stehen. „Wäre nur noch eine Sache zu klären: Wie kannst du beweisen, dass es tatsächlich dir gehört?“ Zahara hatte diese Frage erwartet und Angst davor gehabt, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf antworten sollte.
„Ich hab ihnen doch gesagt, wie es aussieht! Wie sollte ich das sonst wissen?“, fuhr Zahara den alternden Mann an und klang deutlich barscher als sie es geplant hatte. Karlsson jedoch lächelte nur milde.
„Das dachte ich mir schon. Darf ich dann wenigstens fragen, warum sie Waffen bei sich tragen?“ Immer noch dieses Lächeln im Gesicht. Zahara lief es eiskalt den Rücken herunter. War dieser Kerl keiner der einfachen Marine-Soldaten? Kein zweiter Dennis, sondern...
„Was?“, fragte sie und hob unschuldig die Hände. Ob er nur bluffte?
„Die Ausbeulung dort. Wenn ich mich nicht irre ist das der Griff eines Dolches. Liege ich falsch?“ Zaharas Herz schlug schneller. Dieser verdammte Greis!
„Eine Frau muss sich verteidigen!“, erwiderte sie hektisch, sah aber sofort, dass Karlsson nicht einmal im Traum dran glaubte, ihr jetzt noch ihr Schwert auszuhändigen. Stattdessen steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff. Eine Sekunde später hasteten zwei Marines durch eine der Türen und stellten sich fragend, aber kampfbereit neben Karlsson und Dennis auf. Letzterer wollte schon den Mund öffnen um zu widersprechen, doch der alte Mann war schneller.
„Es ist ganz einfach. Sie sind bewaffnet in eine Marinebasis eingedrungen – haben sogar den guten Dennis erpresst!“
„Sie hat mich nic-“
„Schh! Nicht jetzt, Dennis. Wo war ich? Ach, genau. Sehen sie, wertes Fräulein, sie sind eine Unruhestifterin. Ich weiß nicht, was genau sie hier geplant haben, aber wir können uns derzeit kein Chaos hier erlauben, so Leid es mir tut.“ Karlsson zuckte mit den Schultern und nickte den beiden Marines zu. Ehe sich Zahara versah, hatten diese sie mit festem Griff gepackt und waren dabei, die beiden Dolche aus ihrer Kleidung zu entfernen. Sofort erfüllte ein lautes, angsteinflößendes Knurren den Raum, als sich die beiden gdân mit wutverzerrten Gesichtern aufbauten.
„Pfeifen sie sie zurück, oder...“, sagte Karlsson und hob lächelnd einen alten Vorderlader auf den Kopf Saliets. Zahara schluckte, fast blind vor Wut.
„Sperrt die Hunde in den Zwinger und unsere Freundin hier in eine Zelle, bis alles über die Bühne gelaufen ist. Danach werft sie von der Insel – ich habe jetzt ein ausgiebiges Frühstück verdient. Wenn mich die Herren also entschuldigen würden..."
"Du behinderter Wichser! Lasst mich lo- BLEIB HIER DU MISTKERL!"
Während Karlsson verschwand und Dennis mit offenem Mund da stand, wurde Zahara wüst in eine der Zellen geschmissen. Auf dem kalten Steinboden saß sie nun, den Kopf in den Händen gebettet. Ihre Augen traten fast aus ihrem Schädel heraus und ihre Hände zitterten stärker als bei jedem Heroinsüchtigen auf Entzug.
Reißen. Zerfetzen. ZERFETZEN!

Schlp, schlp, schlp, schlp, schlp.
Genüsslich trank Kai den gereichten Alkohol auf die für ihn typische Weise, indem er an der kleinen Sakeschüssel, die man ihm extra besorgt hatte, wie eine Katze schlabberte. Kenner hätten den Händler wohl dafür verdammt, einen guten Cognac auf solche Weise herabzuwürdigen, doch seine Gastgeber schienen sich nur bedingt an Kais Angewohnheit zu stören. Womöglich gaben sie sich aber auch einfach nur Mühe, ihre Abscheu nicht zu zeigen, weil sie neugierig waren. Immerhin hatte Kai noch immer kein Wort darüber verloren, was er nun überhaupt von den beiden Marines wollte, was er ihnen anzubieten hatte, und warum sie ihn nicht ins Gefängnis werfen sollten. Drohungen in diese Richtungen hatten beide nämlich schon fallenlassen, und wenn man sich so ansah, wie Benedict immer schneller mit seinen Fingern auf dem schweren Tisch trommelte, war es wohl langsam an der Zeit, die Sache aufzuklären.
Kai nahm einen letzten, winzigen Schluck, stellte das Schüsselchen dann vor sich auf den Tisch, lehnte sich so gu es ging auf seinem Hocker zurück, und begann zu erzählen.
„Ein guter Tropfen, wirklich. Nun denn, ich bin sicher, dass sie sich fragen, warum ich hier bin.“
Kai musste ein Kichern unterdrücken, als Ehemann wie Ehefrau mit den Augen rollten. Die beiden hatten sich wohl gesucht und gefunden, auch wenn die Rothaarige auf den ersten Blick zu ansehnlich für den einfachen Kommandanten wirkte. Andererseits wogen dessen Ambitionen seine mangelnde körperliche Anziehungskraft wohl mehr als auf. Ambitionen, macht, Geld… alles das gleiche, in der Hinsicht.
„Lassen sich mich ihnen zunächst meine Glückwünsche aussprechen. Ich glaube nicht, dass außerhalb dieser Insel wirklich jemand weiß, dass Levass schon gefasst ist. Gerüchte? Sicherlich. Wir befinden uns hier zwar in einem der am weitesten abgelegenen Teile des Blues, was ihn eigentlich zum perfekten Versteck für Verbrecher macht, doch in den letzten Monaten haben sie ihren Job einfach zu gut gemacht, Benny. Ich darf sie doch so nennen, ja?“ Der skeptische Blick des Kommandanten wurde einfach übergangen; Kai war in Fahrt und würde seinen neuen Spitznamen für den Mann garantiert nicht aufgeben. „Gut. SB-6 ist mittlerweile dafür bekannt, ein hartes Regiment zu führen, und da fragt man sich natürlich schon, wie lange ein so ambitionierter Kommandant ‚seine Gewässer’ von Piraten befahren lässt.
In Ordnung, Gerüchte. Doch sicherlich handeln gute Geschäftsmänner nicht allein aufgrund haltloser Behauptungen, denken Sie doch auch, oder? Nun, belassen wir es dabei, dass ich gewisse Kontakte habe, die mir bestätigt haben, dass Levass mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit schon gefasst ist. Die Chancen standen so gut, dass ich mich selbst von der Lage hier überzeugen wollte, da ich, wie sie vielleicht wissen, etwas… nun, nicht verzweifelt bin, was die Erschließung neuer Geschäftsfelder angeht, aber doch unter genügend, wie ich leider zugeben, hauptsächlich selbst erschaffenem Druck stehe, um auch nach den kürzeren Strohhalmen der Packung zu greifen.“
Kai konnte den beiden Marines anmerken, dass sie mit jedem seiner Worte mehr und mehr ihre Geduld verloren. Mit den beiden zu spielen war eine Sache, doch das Geschäft deshalb zu gefährden eine ganz andere. Zeit, den Sack langsam zuzumachen.
„Doch ich schweife ab. Wenn sie Levass also haben, warum haben sie die Verhaftung nicht gemeldet? Nun, Fakt ist, dass sie als ziemlich ambitionierter Kerl gelten, Benny, der die Sache nur dann an die große Glocke hinge, wenn er alles geklärt hat, was es zu klären gab. Mit Blick auf Levass umfasst das zwei Dinge: Ihn selbst und die Waffen, die er gestohlen hat. Ich schlussfolgere also, dass sie die Waffen nicht haben.“
In diesem Augenblick beugte sich Beni, wie er die Sekretärin nach ihren karmesinroten Haaren getauft hatte, fragend nach vorn, das eigentlich hübsche Gesicht zu einer Grimasse verzogen. „Sie ‚schlussfolgern’? Sie kommen also tatsächlich hierher, ohne handfeste Beweise, mit einem Haufen Vermutungen, weil sie uns ein Geschäft anzubieten haben, dessen mögliche Existenz sie ‚geschlussfolgert’ haben?“
Kai verzog kaum sein Gesicht, sondern öffnete nur ganz leicht sein rechtes Auge – gerade genug, um den Hauch eines blauen Schimmers entdecken zu können. Als die Frau erneut den Mund aufmachte, kam er ihr direkt zuvor:
„Glauben sie mir, Fräulein, dass ich nicht hier wäre, würde ich sie nur veralbern wollen. Dafür wäre mir schon allein meine Zeit viel, viel zu schade, denn auch wenn ihr Cognac in Ordnung ist, stellt ihr beider Gesellschaft nicht das dar, was ich mir für meine Freizeit wünsche.
Ich weiß, mein Name hat an Prestige verloren, doch wenn sie sich wirklich bereits ausgiebig mit Mitteln und Wegen beschäftigt haben, an Levass heranzukommen und die Waffen auf die eine oder andere Weise aufzutreiben, müssen sie schlichtweg auf ihn gestoßen sein. Immerhin habe ich nicht nur ihren Vorgänger, Benny, bei der einen oder anderen Gelegenheit beliefert, sondern auch ihr Problemkind, Levass. Ich kenne ihn, er kennt mich. Können sie von sich behaupten, den guten Mann wirklich zu kennen? Nein? Das dachte ich mir.“
Soweit es sein wackeliger Hocker eben ermöglichte, beugte sich Kai vor, stützte sich auf den schweren Tisch und sah zum ersten Mal seit langem Benedict an. Der Kommandant war das schwache Glied der Kette, das alles dafür tun würde, die Sache so schnell wie möglich in den Griff zu kriegen. Er wollte die Waffen, und würde jeden akzeptieren, der sie ihm glaubhaft versprach.
„Was ich ihnen biete, das sind meine Dienste als Waffenhändler, der sowohl mit der Marine, als auch mit Piraten Kontakt pflegt. Ich kann Levass dazu bringen, mir zu verraten, wo er die Waffen versteckt hält – garantiert. Sollte ein Teil der Lieferung bereits versetzt worden sein, kann ich ihn sogar zurückverfolgen und wiederbesorgen. Sollten sie auf die Grandline verkauft, oder sogar eingeschmolzen worden sein, kann ich ihnen im schlimmsten Fall sogar baugleiche Objekte besorgen. In jedem Fall, in absolut jedem Fall werden sie ihren Vorgesetzten ihre komplette Lieferung gemeinsam mit Levass präsentieren können.
Doch ich sehe es ihnen an, die Frage aller Fragen: ‚Was will er dafür’? Nun, eigentlich nur eine winzige, kleine Sache: Ich würde gerne ihr Freund sein.“
Kai hatte erwartet, dass beide über dieses scheinbar schlichte Angebot lächeln. Ein kleines, ungläubiges Augenzwinkern. Stattdessen brach Beni in schallendes Gelächter aus, während Benny völlig ernst blieb.
„Ihr wollte unsere Freund sein? Ist das euer ernst? Sollen wir euch zu Gartenpartys einladen, zu eurem Geburtstag kommen, euch Ansichtskarten aus dem Urlaub schicken? Nur dafür besorgt ihr uns ein ganzes Schiff voller Waffen? Wenn ihr das wirklich könnt, das sei mal dahingestellt! Unser Freund sein, pah, dass ich nicht…“
Mit einer simplen Geste, dem Heben der Hand, brachte Benedict seine Angetraute zum Schwiegen. Soviel dazu, wer in dieser Ehe die Hosen an hatte. Mit fester, wenn auch leiser Stimme fragte der Marinekommandant anschließend: „Was für eine Art Freundschaft schwebt ihnen vor?“
Kais Lächeln wurde breiter. Benedict war definitiv der Typ Mensch, den man allzu gern unterschätzte, bis er einem in den Rücken fiel. Und das mit einer Kälte, die selbst einen Hitzkopf wie Beni in die Schranken wies. Vielleicht war die Gesellschaft des jungen Mannes doch nicht so unangenehm.
Der Händler lehnte sich wieder etwas zurück und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Kommandanten. „Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich nicht mit ihnen beiden befreundet sein möchte, sondern einzig mit dem Kommandanten dieser Basis, beziehungsweise dem, der er werden wird, wenn ihn Levass’ Verhaftung befördert hat. Was ich mir weiterhin unter Freundschaft vorstelle, nun… Freunde helfen sich gegenseitig. Sie unterstützen sich bei ihrer Arbeit, richten einander Freundschaftspreise ein, tauschen Gefallen aus, und machen sich mit anderen ihrer Freunde bekannt.
Doch das wichtigste ist wohl, dass sich Freunde vertrauen. Wenn der eine Freund dem anderen einen Gefallen tut, pfuscht besagter zweiter Freund dem ersten nicht ins Handwerk. Er unterstützt ihn, so gut es geht, stellt seine Methoden derweil aber nicht infrage. Immerhin weiß Freund Nummer eins besser, was er wie anzupacken hat. Wir verstehen uns?“
Benedict nickte knapp. So weit, so gut. Bleib nur noch die wirkliche Frage aller Fragen zu stellen, für die sich Kai noch ein wenig mehr zurücklehnte, den linken Arm vor seine Brust hob, sich mit der rechten Hand spielerisch am Kinn kratzte, und beinahe unschuldig anhob:
„Also, was sagen Sie? Freunde?“

Zehn Minuten später fand sich Kai erneut in Begleitung zweier Muskelmänner wieder. Diesmal jedoch hielten sie ihn fest bei den Armen gepackt, ganz als ob seine Hände nicht in Handschellen gelegen hätten. Zu dritt durchstreiften sie einen langen Korridor, passierten zahlreiche vergitterte Zellen, in denen offenbarer Abschaum genauso wie Zivilisten saß, und passierten schließlich eine massive Eichentür. Hinter dieser lagen nur eine Handvoll Zellen, die jedoch mit mehreren Schlössern gesichert waren, aus massivem Metall bestanden, nur über ein kleines, vergittertes Fenster verfügten, und somit ganz offenbar den Eindruck von separaten Sicherheitszellen erweckten.
Durch die kleinen Fenster konnte Kai beim Weg zum Ende des Ganges nur einmal eine andere Person erkennen: Eine schwarzhaarige Frau mit auffallend vielen Tätowierungen. Es war die Dame, die er zuvor an der Seite eines blonden Marines gesehen und für dessen neuste Eroberung gehalten hatte. Offenbar verlief es für die junge Frau ebenso unerwartet wie für Kai selbst, der schließlich in der letzten Zelle auf der rechten Seite landete. Unwirsch wurde er in den kleinen Raum gestoßen, bevor die Tür hinter ihm mit einem metallischen Donnern zuflog.
Nun, das verlief wirklich anders als erwartet.

Mal saß Zahara an die Wand gelehnt da, mal marschierte sie in der kleinen Zelle auf und ab und versuchte durch das kleine Fenster irgend einen Weg nach draußen zu finden. Doch den Weg fand sie nicht. Nicht sofort und auch nicht in zehn Minuten. Stattdessen wurde ihr immer klarer, in was für einer beschissenen Situation sie sich gerade befand – und wegen wem sie hier drin saß: Sich selbst. Sie hatte spontan gehandelt, ohne Planung oder groß Gedanken zu verschwenden. Sie hatte eine Gelegenheit gesehen und sie am Schopf gepackt – und war damit ziemlich auf die Fresse geflogen. Hinter Gittern eingesperrt, das erste Mal in ihrem Leben. Und eins konnte man darüber sagen: Zahara hasste es wie die Pest. Nicht tun und lassen zu können, was man wollte, das Gefühl der Machtlosigkeit und das dreckige Grinsen auf den Gesichtern der Wachen – Zahara würde es ihnen am liebsten rausschneiden.
Ein tiefe Grollen drang aus ihrer Kehle und sie schlug vor Wut gegen die Zellentür. Der Schmerz in ihrer Faust tat gut, beruhigte sie aber kaum. Wie ein eingepferchtes Tier drehte sie ihre Kreise und sie wollte und wollte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Stattdessen tauchte immer wieder das alte, lächelnde Gesicht Karlssons auf, der nicht einmal ein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass sie wegen irgend einer internen Agenda hier reingesteckt worden war. Wie war einfach nur im Weg, ein Mittel zum Zweck gewesen – und es war klar: Zahara war kein Collateralschaden. Wenn man sie schon einsperren wollte, dann sollte sie es sich auch verdient haben. Im Umkehrschluss bedeutete das: Sie musste nun, da sie die Strafe ja schon erhalten hatte, zumindest das Gleichgewicht wiederherstellen. Chaos stiften, Dinge in die Luft jagen und diesen verfluchten Marines ihr Leben und ihren Plan zur Hölle machen – das war sie ihnen schuldig.
Just als sie diesen Entschluss gefasst hatte, öffnete sich am Ende des Ganges eine Tür. Zahara lugte sofort durch das kleine Fenster, ließ das Vorhaben aber schnell wieder sein. Ein weiterer Gefangener, mehr nicht. Die Befriedigung, doch im Recht gewesen zu sein, brachte ihr da auch nichts. War der Weißhaarige eben ein Verbrecher – nutzte ihr das irgendetwas? Wohl kaum.
Der Mann wurde in eine der Zellen neben ihrer eigenen gesperrt und Zahara begann wieder auf und ab zu laufen. Kurz dachte sie daran, dass ihre beiden gdân auch einfach hingerichtet worden sein könnten – sie verdrängte den Gedanken jedoch, da sie das endgültig in einen Blutrausch versetzt hätte. Letztendlich gab es nur einen einzigen Punkt, über den sie nachdenken musste: Die Flucht. Erster Schritt war das Verlassen der Zelle, zweiter das Bergen von gdân, Schwert und Mantel. Der Dritte dann das Entkommen aus der Basis – wenn irgendwie möglich konnte man dazwischen noch unzählige weitere Punkte einstreuen, die alle mit dem Leid dieser verdammten Marinebasis zu tun hatten.
Sollte sie eine der Wachen in ihre Zelle locken und versuchen sie zu überwältigen? Das konnte schwer in die Hose gehen; Zahara lag etwas an ihrem Leben. Eine Herzattacke vortäuschen? Leider wurden ihr beide Dolche abgenommen – sie hatte keinen Weg schnell und leise zu töten. Sie würde es laut und dreckig machen müssen, mit Steinen, Fäusten und Wänden. Ein Laut des Unmuts war zu hören, als Zahara erneut gegen die Tür schlug. Ob ihr Zellennachbar mehr Durchblick hatte? Die junge Frau war an einem Punkt, an dem sie keinerlei Hilfe abschlagen würde.
„Hey, Ghost!“, rief sie daher durch das kleine Fenster ihrer Zellentür und trat gegen die steinerne Wand. „Weißt du was die Mistkerle planen?“ Es sollte inzwischen nämlich glasklar sein, dass die Marine irgend etwas im Schilde führte. Unzählige bewaffnete Soldaten in der Stadt, der Kommentar der Wache am Anfang des Tunnels und letztendlich Karlssons Worte, die Zaharas Bauchgefühl nur bestätigt hatten. Irgend etwas großes war kurz davor, zu passieren, etwas wichtiges. Und die Marine wollte kein Risiko eingehen. Grimmig bemerkte Zahara im Stillen, dass sie ihr lieber einfach ihr Schwert hätten geben sollen – weniger Ärger für alle Beteiligten.
„Ich will hier raus und ich nehme stark an, dass du hier drin auch nicht verrotten willst, oder?“ Was Zahara für sich behielt war die Tatsache, dass sie keinerlei Idee hatte, wie sie das bewerkstelligen sollten. Deshalb musste der als „Ghost“ getaufte Fremde wohl beweisen, was er in seiner bleichen Rübe hatte. Tatsächlich ließ er einige Zeit auf seine Antwort warten. Zahara war bereits unsicher, ob er sie gehört hatte, als endlich die viel zu fröhlichen Worte durch die Mauer drangen.
"Verrotten? Oh, mein liebes Fräulein, das würde ziemlich lange dauern, und ich glaube nicht, dass man uns bis dahin allein lässt. Sonst hätte man uns ja auch gleich töten können. Abgsehen davon habe ich für meinen Teil auch sowieso nichts getan, um eine derart harte Strafe zu verdienen. Sie?"
"Hier hat man es glaube ich nicht so mit dem an-die-Vorschriften-halten. Selbst wenn - ich habe nicht vor, hier drin mehr Zeit als notwendig zu verbringen."
"Oh? Auf mich haben die Soldaten in der Stadt ziemlich pflichtbewusst gewirkt. Um nicht zu sagen übereifrig. Davon unabhängig wundere ich mich, ob sie wirklich wissen, wieviel Zeit wirklich 'notwendig' ist. Ich meine, dafür müsste man wissen, warum man hier sitzt, nicht?", kam es wieder zurück durch die Wand. Zahara fragte sich in dem Moment, ob auf der anderen Seite ein vollkommener Idiot oder ein viel zu intelligenter Typ saß - doch auch bei Karlsson lag sie falsch, weshalb sie das Urteil noch ein wenig aufschob.
"Weil die Marine irgend einen Scheiß vorhat und mich - ich vermute einfach mal uns - solange aus dem Weg haben will, damit alles glatt über die Bühne läuft. Abgesehen davon: Du hörst dich gerne selbst reden, oder?" Als Antwort hörte Zahara erst einmal ein Kichern.
"Naja, leider scheint es hier niemanden zu geben, dem ich lieber zuhören würde. Aber darf ich anmerken, dass sie auch nicht gerade auf den Mund gefallen zu sein scheinen?" Zahara seufzte und klang langsam aber sich etwas genervt.
"Schon vergessen? Ich will hier raus. Lieber jetzt als später."
"Wenn sie hier raus wollen, dann klingt das für mich so, als wäre das auch ihr Problem, und nicht meines. Es sei denn, sie wollen meine Hilfe für einen kleinen Obolus erstehen. Das wäre natürlich etwas völlig anderes." War ja klar. Nichts im Leben war umsonst, oder? Gleichzeitig hörte sich das aber so an, als ob der Kerl zu viel wollte - schließlich konnte er ja kaum hier drin bleiben wollen, oder?
"Das klingt für mich so, als willst du für etwas bezahlt werden, von dem du genauso profitierst wie ich."
"Ich profitiere davon, wenn sie aus dem Gefängnis kommen? Interessant."
"Wenn du lieb lächelst, darfst du mich begleiten. Pure Nächstenliebe meinerseits - du verstehst.", sagte Zahara und lächelte dabei übertrieben gespielt gegen die Wand.
"Das alles steht leider unter der Voraussetzung, dass ich hier ebenso wie sie ausbrechen möchte. Wenn die Marine dort draußen allerdings wirklich etwas vor hat, wäre es da nicht besser, in einem kleinen, vergitterten Raum zu sitzen, als draußen auf der Straße herumzuirren?"
"Weichei."

„Könntet ihr beide Turteltauben endlich mal die Klappe halten?!“
Als sich die dritte Stimme in das kurze Gespräch einmischte, musste Kai ein leises Gackern unterdrücken. Alles verlief tatsächlich anders, als der Händler erwartet hatte. Es lief… besser. Wesentlich besser. Zumindest für den Augenblick. Wenn ihn sein bisheriges Leben etwas gelehrt hatte, dann, dass sich Glück zu jeder Tages- und Nachtzeit in Pech verwandeln konnte, und man niemals überheblich werden sollte.
Nachdem die tätowierte Dame dem Fremden reflexartig ein „Fick dich“ entgegengeschleudert hatte, zeigte sich Kai äußerst überrascht, als er seinerseits antwortete: „Oh, Entschuldigung, nichts für ungut. Ich bin sicher, wir dachten beide, dass wir hier allein sind.“
Aus der Zelle, die Kai scheinbar direkt gegenüberlag – kein Wunder also, dass der Händler den Fremden beim Hereinkommen nicht gesehen hatte; in jenem Moment war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich herumschubsen zu lassen – kam daraufhin erst ein genervtes „Tse“, bevor die Stimme erneut Worte fand: „Haltet einfach die Klappe, ok? Seid ruhig, haltet die Füße still, und wenn ihr brav seid, hole ich euch selbst raus. Gehört, Schnecke? Kein Grund mehr, so aggressiv zu sein.“
Offenbar plante also nicht nur die tätowierte Dame einen Ausbruch. Eine interessante Informationen, deren Erwerb Kai allerdings nicht wirklich glücklich machte. Wie erwartet, verwandelte sich sein Glück schneller ins Gegenteil, als er sich es gewünscht hätte. Es wurde Zeit, die Sache etwas zu beschleunigen.
In die unerwartete Stille, die hauptsächlich die Zurückhaltung der einzigen beteiligten Frau erzeugte, drang zunächst ein neuerliches Kichern des Händlers, bevor dieser spöttisch sagte: „Oh, so viele, hochtrabende Pläne und Angebote! Erst hält er sich die ganze Zeit zurück, und dann bietet er eine Flucht an. Im Austausch für, was? Nichts? Umsonst? Nada? Kostenlos? Wenn ich euch einen Tipp geben dürfte: Das ist ein ziemliches schlechtes Geschäft. An eurer Stelle würde ich von uns, oder zumindest von unserer schweigsamen Dame, für ihre Freiheit etwas von ihr verlangen.“
Man hörte deutlich, wie der Dritte in eine Ecke seiner Zelle spuckte, bevor er mit kratziger Stimme sagte: „Alter, die Kleine hat recht, du hörst dich echt viel zu gern reden. Und die ganze scheiße mit Geschäften… ich kannte mal einen Kerl… verdammte…! Kätzchen, bist du das?!“
Na also. Der gute Mann war schon immer schwer von Begriff, aber Kai wusste selbst, dass seine Art, sich zu artikulieren, nicht unbedingt der Norm entsprach. Irgendwann musste selbst ein Holzkopf wie er erkennen, wer ihm da Gesellschaft leistete. Mit einem für die anderen dank dickem Eisen unsichtbaren Grinsen lachte Kai: „Ha, es gibt nur einen, der mich je so genannt hat! Was machst du hier, Oli? Oder bevorzugst du jetzt Buzzard?“
„Wer sind jetzt die Turteltäubchen?“, ertönte es seit einiger Zeit zum ersten Mal wieder von der einzigen Dame vor Ort. Die ganze Zeit wurde von Freiheit geredet, und sie mischte sich ein, wenn zwei echte Männer ihre Freundschaft wiederentdeckten?
„Klappe, Schätzchen, die Kerle reden jetzt“, kam es da direkt aus Levass’ Zelle. Kai wippte derweil nervös mit beiden Beinen hin und her; seine Pläne gingen in die heiße Phase über, endlich! „Der alte Killing Kai… Meine Fresse, lang nichts mehr von dir gehört. Ein Jahr etwa? Was ist passiert? Hat dich einer deiner Kunden endlich für deine abartigen Preise über die Planke gejagt? Verdient hättest du’s ja.“
Obwohl niemand es sehen konnte, winkte der Händler trotzdem ab. „Tja, was soll ich sagen. Es ist eben nicht jeder so vernünftig wie du und sieht ein, dass verzweifelte Zeiten verzweifelte Preise erfordern. Ich musste eine Weile untertauchen, was meinen Geschäften nicht gerade gut getan hat. Ich dachte, in der Gegend hier könnte man sich gut verstecken, aber dieser Neue… Benedict, oder? Mann, der hat die Insel ganz schön verändert.“
Aus Levass’ Zelle war ein lautes Schnauben zu hören. „Ach, diese Made ist ein Niemand. Ein blauweißer Hohlkopf, dem Mami zuviel Zucker in den Hintern geblasen hat. Seine Frau ist noch das Beste an ihm. Gib’ dem mal ein Schwert und schick ihn in den Kampf, dann spießt er sich eher selbst auf als den Gegner. Eine Lusche, sag’ ich dir, mehr nicht.“
Diesmal hielt Kai sein Kichern nicht zurück. „Ni-hahaha! Versteh’ mich nicht falsch, Oli, aber wenn er so eine Lusche ist, warum sitzt du dann hier?“
„Sagt der Kerl hinter Gittern...“, kam es da von der Tätowierten, doch ihre Worte wurden von dem Knarren eines Bettes, zwei schnellen Schritten und dem heftigen Donnern von Fäusten gegen eine Metalltür deutlich in den Schatten gestellt. „Was weißt du schon! Dieser kleine Verlierer hätte im Zweikampf keine Chance gegen mich, genauso wenig wie du, vergiss das nicht! Verstanden?!“
Aufbrausend wie eh und je. Kai überraschte der Ausbruch nicht, weshalb er geduldig wartete, bis der Mann fortfuhr: „Dieser miese Verräter hatte nur Glück, das ist alles. Glück! Wenn alles so gelaufen wäre, wie es geplant war, säße ich jetzt irgendwo an einem heißen Strand mit noch heißeren Weibern. Aber warte nur ab, Kätzchen…“
Es wurde immer interessanter. Made, Verlierer, Lusche… aber Verräter? Das war neu. Nannte Levass den Kommandanten von SB-6 nur deshalb so, weil er wusste, dass seine Gefangennahme noch nicht offiziell bekanntgemacht worden war? Nein, das wäre zu wenig. Schon im nächsten Moment hörte sich Kai fragen: „Benedict hat dich über’s Ohr gehauen?“ Doch noch im selben Moment bereute er seinen Übereifer.
Ein weiteres Donnern von Levass’ Zellentür bestätigte Kais Befürchtung. „Halt deine verfluchte Klappe! Er hat mich nicht… Gott, vergiss’ es. Vergiss das Ganze, und schmink dir jede Hoffnung darauf ab, dass ich dich oder deine Süße hier raushole. Meinetwegen könnt ihr wirklich hier drinnen verrotten.“
„... ernsthaft?!“, kam es da direkt von der unerwartete schweigsamen Schwarzhaarigen. Levass blieb dieses Mal jedoch still, seine Pritsche knarrte erneut… das Gespräch war für ihn offenbar beendet. Erneut breitete sich Stille in dem dunklen Gefängnistrakt aus, als plötzlich…

...ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen die Luft erfüllte. Daraufhin begannen die Steinwände und der Boden zu beben, die Türen schepperten wild in ihren Angeln und Zahara riss erschrocken die Augen auf. Erdbeben? Nein... Kanonenschüsse! Zahara hatte dieses Geräusch erst ein einziges Mal in ihrem Leben gehört, doch sie würde es so schnell auch nicht wieder vergessen. Als ein zweites Donnern über Fort Geoff zuckte, gab es keinerlei Zweifel mehr. Waren das Schreie aus Thomason, die da an ihre Ohren drangen? Nein – zu weit weg, außerdem waren die Wände viel zu dick. Zahara bildete sich das wohl nur ein. Die junge Frau hatte eigentlich schon fragen wollen, wie die beiden Freunde nun verblieben waren, aber angesichts der Umstände, geriet vieles in Vergessenheit.
So zum Beispiel auch die Tatsache, dass der Dieb ihres Schwertes keine zehn Meter weiter saß und Zahara noch immer nicht gefragt hatte, wo er es eigentlich her gehabt hatte. Nach seinem Ausbruchsplan erkundigte sie sich nicht und woher sich die Kerle nun kannten ging ihr einfach vollends am Arsch vorbei.
„Beschleunigt das diese kleine Wiedervereinigung vielleicht etwas?“
Von keinem der beiden Männer kam eine Antwort und Zahara wurde wütend, während die Sekunden verstrichen und niemand etwas sagte.
„Alter ist das euer Ernst?! Levass, wenn du uns hier rausbringen kannst – mach es, verdammt nochmal!“, sagte sie und klang beinahe ein wenig panisch. Man merkte, dass sie keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen hatte.
"Mann, Schnecke, du tust so, als stünde die Basis in Flammen. Dir ist schon klar, dass das nur Warnschüsse sind? Ein paar Treffer in den Fels, nichts weiter. Mach dir also nicht gleich in dein Röckchen.", kam es von Levass nach einem lauten, kehligen Lachen.
„Tut mir ja unglaublich Leid, dass ich noch nie unter Beschuss stand! Wenn wir rausfinden was genau hier los ist, will ich aber nicht unbedingt hinter Gittern sitzen – das schränkt ein wenig ein, weißt du? Wir sitzen hier wie die Enten auf der Stange!“
"Ich glaub' nicht, dass ich das schon wieder sagen muss: Halt dein Schlabbermaul, Weib. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Diese verdammte Basis liegt in einem Krater. Keine Kanonenkugel erreicht uns hier." Gelächter. "Die Leute in der Stadt unten können das dagegen nich' von sich behaupten."
Oh, wie ich diesen kleinen Mistkerl leiden sehen werde., bemerkte Zahara in Gedanken, wollte vorerst aber nochmal (halbwegs) gute Miene zum bösen Spiel machen. Ghost war einfach nur still – eigene Pläne, in Gedanken versunken oder einfach nur verängstigt? Zahara wusste es nicht.
„Man sollte meinen, so ein toller Pirat wie du erkennt eine günstige Gelegenheit, wenn sie ihm vor der Nase herumspringt und mit beschissenen Kanonen auf seine Fresse schießt! Diese ganze verfickte Basis hat gerade alle Hände voll zu tun – Krater oder kein Krater. Du könntest vermutlich die halbe Basis mitgehen lassen, ohne dass es im Moment einer hier mitkriegen würde!“, rief Zahra aufgeregt, als ein erneuter Donner die Wände und Türen erzittern ließ. Levass lachte nur erneut.
"Ich glaube, das hat unser Freund auch tatsächlich vor, Fräulein.", kam es nun endlich von der anderen Seite und Zahara hielt für ein paar Sekunden brav den Mund. Levass wollte die...
„Ihr habt den Scheiß hier geplant?“
"Halt die Klappe, Kai, ich warne dich."
"Wenn sie mit 'ihr' unseren Freund und seine Leute meinen, dann ja. Anders lässt sich das ganze nur schwer erklären. Oder halten sie das ganze etwa für einen Zufall?"
„Wann kommt die geschmierte Wache mit dem Schlüssel?“, fragte Zahara sofort. Langsam aber sicher konnte sie sich ein Bild machen – kein Bild, das ihr sonderlich gefiel. Sie war hier mitten in einen Coup gegen eine ganze Marinebasis gelandet. Das war kein Ort, an dem sie sich gerne befand.
Es verstrichen erneut viele, viele Sekunden, bis sich wieder jemand zu Wort meldete. Ghost wurde immer aktiver!
"Was glaubt ihr, passiert, wenn einer unterdrückten Stadt mit Plünderung und Zerstörung gedroht wird, wenn ein kleiner, unwichtiger Pirat nicht freigelassen wird? Glaubt mir, unser Freund muss keine Wache schmieren."
"Kätzchen, letzte Warnung. Halt. Deine. Klappe."
„Du willst die ganze... Meine Fresse, ist das dein ernst?!“
"Ganz offenbar ist es das. Eine überraschend gute Idee, wie ich meine. Zu gut. Wer hat dir geholfen, Oli?", kam es schon wieder seitens Ghost, aber der meinte das wohl als Scherz. Zahara musste sich selbst gestehen, dass sie nicht 100%ig folgen konnte. Entweder wussten die beiden Männer hier mehr als sie oder hatten einfach einen Haufen mehr Erfahrung in solchen Dingen. Zahara tippte auf beides, während Levass wütend auf seine Zelltür einschlug. Was war sein Problem? Wenn er tatsächlich eine ganze Crew hatte, spielte es doch keine Rolle, ob es zwei Leute mehr wussten... oder?
"Du weißt gar nichts, kapiert, Kai! Nichts! Halt dich einfach aus dieser Sache raus, vielleicht erlebst du dann deinen nächsten Geburtstag! Ich bin nicht mehr der Idiot, der ich war! Du musst meinen Steckbrief gesehen haben! Ich bin jetzt eine große Nummer - ein waschechter Pirat, kein Möchtegern! Die Sache war meine Idee, verstanden?! Meine Idee, ganz allein meine!"
Oh, da hatte jemand aber einen Nerv getroffen. Levass war wohl ziemlich stolz darauf, der große, böse Pirat zu sein und Kai... als ein alter Bekannter war stets das größere der beiden Lichter gewesen? War es das?
"Sie sehen also, Fräulein, unser netter Zellennachbar hat tatsächlich nicht vor, uns hier gehen zu lassen. Soviel zu ihrem Plan."
„Dann liege ich wohl richtig, dass es nun in unser beiderseitigem Interesse wäre, hier raus zu kommen? Und Levass, halt die Schnauze, ja?“
"Es stimmt zwar, dass sich die SItuation nicht ganz so entwickelt, wie ich dachte, aber dennoch scheinen wir hier sicherer aufgehoben zu sein, als auf der Flucht in einer aufgewühlten Marinebasis, geschwiege denn einer unter Beschuss stehenden Stadt." Zahara atmete einige Male tief durch.
„Ach, fick dich: Was willst du?“ Wenn jemand einen Preis hatte, dann doch wohl dieser Typ!
"Sie sind wirklich weder auf den Mund, noch auf den Kopf gefallen. Was haben sie denn zu bieten?", sagte Kai lachend.
„Willst du ne verdammte Liste? Sag mir einfach was du haben willst – ich hab' echt keine Lust auf dieses Flohmarkt-Spiel; wir verschwenden nur Zeit.“
"Das Feilschen müssen sie noch lernen, Teuerste. Wie wäre es erst mit ein wenig Ehrlichkeit: Warum sind sie hier, hinter Gittern? Danach könnten sie mir sagen, was sie zu einer guten Begleitung während dem Untergang einer Insel macht. Und als drittes... sie sind nicht zufällig wohlhabend, oder aber mit jemandem liiert, der es ist?"
Leider Gottes musste Zahara eingestehen, dass sie diesem Kerl ausgeliefert war. Alleine würde sie nicht rauskommen, so traurig die Wahrheit auch war. Also... musste sie dieses Spiel wohl oder übel mitspielen.
„Fein. Ich bin... wegen deinem Freund Levass hier. Auf seinem Steckbrief habe ich mein Schwert gesehen – danach bin ich auf der Suche. Ich hab nen Soldaten dazu gebracht, mich hier reinzubringen, aber so ein alter Knacker namens Karlsson hat mich lieber eingesperrt, weil er kein Chaos gebrauchen konnte, ehe diese „Sache“ nicht erledigt wäre.“ Damit war das Warum geklärt. „Was den Rest angeht... ich bin nicht reich, kenne niemanden der es ist und kann abgesehen von meinem natürlichen Charme nichts anbieten. Allerdings weiß ich... wie wir durch die Stollen aus dieser Basis kommen.“ Doch statt der erhofften Antwort Ghosts meldete sich nun wieder Levass zu Wort. War ja logisch, dass man als echter Mann so eine Vorlage nicht aussetzen konnte, oder?
"Oh Mann, Kleines, du willst MEIN Schwert? Ha! Vielleicht nehme ich dich ja doch mit und geb' es dir, wenn wir allein in meiner Kajüte sind. Dann kannst du mein Schwert jede Nacht haben!"
„Von Dolchen habe ich erstmal die Schnauze voll, Danke.“ Es war eine simple Genugtuung, aber das wütende Schnaufen Levass' war herrlich anzuhören.
"Ihr wisst tatsächlich einen Weg durch den Berg, ohne dass uns die Marine erwischt?"
„Das kann ich nicht versprechen – aber die Chancen stehen vermutlich besser als bei dem großen Tunnel mit den vielen Wachtürmen, oder?“
"Ich gehe trotzdem richtig in der Annahme, dass sie, sollte ich sie befreien, mit mir zunächst die Basis durchqueren, um ihr Schwert zurückzubekommen?"
„Ja. Und meine gdân.“
„Wie meinen?" Zahara vergaß oft, dass die meisten Menschen keine der auf Gazierah vorkommenden Tierarten kannten.
„Eine Mischung aus... Wolf, Koyote und Hund? Egal – sie beißen einem Mann die Hand ab, wenn ich das will. Reicht das?“
"Ah, ich erinnere mich wage. Nun, wären sie damit einverstanden, sich mit mir im Gegenzug in die Stadt zu wagen, um mein Gepäck zu requirieren? Ich habe dort einige Waffen, die uns noch nützlich sein könnten, um uns... im Hafen zurechtzufinden."
„Deal.“

Obwohl die tätowierte Dame ihre Einwilligung bereits eine Weile erteilt hatte, saß Kai noch immer auf der Pritsche seiner Zelle, den Kopf umständlich auf die Arme gestützt.
Das Angebot der jungen Frau war durchaus akzeptabel, was Einsatz und Gewinn anging – beide suchten sie nach etwas, das sie gemeinsam suchen würden, ganz zu schwegen vom Tausch von Freiheit gegen Freiheit – doch die Umstände dieses Tauschgeschäfts waren dem jungen Händler einfach viel zu wage. Im Grunde band die Dame nichts an ihre Absprache: Wenn sie ihre Waffe und diese Wolfshunde zurückhätte, könnte sie ihren weißhaarigen Begleiter schlicht verlassen. Rational gesehen war er eine Bürde, auch wenn die Tätowierte dies momentan vielleicht nur ahnte: Ohne eine Schusswaffe oder sein Geld, mit dem sich Leute unterwegs bestechen ließen, war er praktisch nutzlos. Sicher, womöglich würde er sich und seine Begleitung aus der einen oder anderen Notsituation herausreden können, und zwar besser als die Dame, die doch hin und wieder mit schwerem Akzent sprach…
Als sich Kai die Worte der Frau nochmals durch den Kopf gehen ließ, bemerkte er plötzlich eine zunehmende Neugier auf ihre Geschichte. Man traf eigentlich selten Leute in den Blues, die die hiesige Sprache nicht ihre Muttersprache nannten, und auch die Erwähnung dieser seltsamen Hunde weckte Kais Interesse. Wage erinnerte er sich daran, den Namen gdân schon einmal gehört zu haben, doch noch konnte er einfach keinen Finger darauf legen.
Levass’ Stimme erinnerte den Händler schließlich daran, dass er eine Entscheidung zu treffen. Hohl hallte das Lachen des Piraten durch die Gänge: „Oi, oi, oi, Missy, wenn du dich da mal nicht auf den falschen verlässt! Das gute Kätzchen ist fast noch mickriger als dieser Benedict-Idiot! Ein Händler, ein Verkäufer, Vertreter! Ohne sein kleines schwarzes Büchlein und die dicken Scheinchen, die er eigentlich immer mit dabei hat, ist er ein Nichts, ein Niemand! Glaub’ mir, beim Buzzard wärst du besser aufgehoben, Schätzchen!“
Kai seufzte, stand auf, und sah sich ein letztes Mal in der Zelle um. Er hatte zwar gesagt, dass die drei hier eingesperrt besser aufgehoben wären, wenn die Stadt unter Beschuss stand und die Basis in Panik war, aber irgendwie war der Händler doch froh, den kleinen Kabuff verlassen zu dürfen. Langsam wurde die Luft schal, es war unangenehm feucht, und die Pritsche… oh, die Pritsche! Eine Nacht auf diesem Holzbrett, und Kai würde den Rest seines Lebens Geld für Rückentherapie bezahlen müssen.
„Du denkst doch nicht wirklich, dass der Kerl dich hier raus bringen kann! Wie denn auch? Indem er die Tür mit einer Haarnadel knackt?“
Zwei Schritte, und Kai stand an der schweren Eisentür seiner Zelle. Er klopfte sachte dagegen und fuhr einmal mit der Hand über das Metall, wobei er das Gesicht leicht verzog. Das Portal war von recht schlechter Qualität, die Scharniere verrostet, und unten stand ein kleiner Spalt offen, durch den man einen Schlüssel oder anderes bugsieren hätte können. So jedoch blieb Kai nichts anderes übrig, als suchend seine faltigen Kleider abzusuchen.
„Und selbst wenn ihr es hier raus schafft, was dann? Draußen geht’s drunter und drüber zu, die Leute sind bestimmt außer sich! Klar, man wird euch deshalb vielleicht nicht gleich bemerken, aber wenn, glaubst du, die haben dann noch Geduld mit euch beiden? Zwei entflohenen Gefangenen, zwei Niemanden, die man genauso gut direkt aufknüpfen kann, ohne dass sich jemand beschwert?“
In einer Falte seiner Unterbekleidung fand er schließlich die kleine, metallene Form, die Kai gesucht hatte. Er zog sie sachte hervor, steckte sie in das winzige Schlüsselloch seiner Zelle, drehte sie, und…
*quietsch*
„Warte einfach ab, meine Kleine, und ich bringe dich… Moment, was war das? Hey, du verdammter… HEY!“
Kai grinste, als er seinen Schlüssel vor das kleine Fenster von Levass’ Zelle hielt. Haarnadel? Bitte. Der Händler hatte sich nicht umsonst erst mit Benedict und seiner Frau unterhalten! Zwar hatte die Sekretärin sicher nach wie vor Bedenken, doch der wahre Kommandant der Basis hatte die richtige Entscheidung getroffen: Was schadete es schon, einen Fremden einzusperren, damit der vielleicht herausbekam, wo die verschwundenen Waffen steckten? Sollte er doch auch einen Schlüssel für seine, und zwar nur seine Zelle bekommen – wann und wie er flüchtete, konnte Benedict letztlich doch egal sein.
Mit seinem üblichen Lächeln verließ Kai seinen ehemaligen Geschäftspartner, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und schlenderte mit einer unmenschlichen Seelenruhe hinüber zur Zelle seiner neuen Kumpanin. Ohne durch das Fenster ihrer Zellentüre zu sehen, sagte er knapp: „Einen Augenblick, Fräulein, ich muss nur kurz nach ihrem Schlüssel sehen. Glauben sie bitte nicht, dass ich sie zurücklasse, ja?“
Auf eine Antwort der Frau wartete Kai nicht, stattdessen trabte er weiter zur schweren Eichentür, die den vermeintlichen Sicherheitstrakt vom Rest des Gefängnisses abgrenzte. Auch dieses besaß ein Fenster, durch das er, wie erwartet, nichts sehen konnte. Vermutlich waren selbst die Wärter in aller Eile abgezogen worden, um die Basis vor möglichen Eindringlingen zu schützen. Denn mittlerweile dürfte klar sein, was Levass vorhatte: Die Stadt durch Angriffe seiner Crew dazu erpressen, den Piratenkapitän selbst zu befreien. Große Loyalität gegenüber SB-6 und Benedict sollten sie ja sowieso nicht mehr empfinden, diese armen, unterdrückten Einwohner von Thomason, und auch, wenn der Weg durch den Tunnel eine Weile halten würde, könnten genauso gut Marines, die bereits in der Basis waren, einem plötzlichen Sinneswandel erliegen und einsehen, dass der Stolz ihres Kommandanten nicht ganz so wichtig war wie das Leben ihrer Angehörigen.
Natürlich war die Eichentür nicht verschlossen – Teil des Deals, den Kai mit Benedict getroffen hatte – weshalb er ohne Schwierigkeiten an den Schlüsselring gelangte, der außen neben ihr unschuldig wartete. Kai schnappte sich das klimpernde Metall, suchte rasch den richtigen Schlüssel heraus, und kehrte zu seiner neuen Begleiterin zurück. Einmal stecken, einmal drehen, und einmal ziehen, schon schwang die Tür zur Zelle der Frau auf. Im Dunkel des Raums konnte Kai die Dame nicht recht sehen, doch das Aussehen seiner neuen Partnerin war zunächst sowieso seine geringste Sorge.
Hastiger als zuvor ging Kai zurück zu Levass’ Zelle und suchte nach dem Schlüssel, die zu dieser passte. Levass, der den Schatten natürlich bemerkte, sprang nochmals hörbar auf und polterte:
„Kai du verfluchter… hol mich raus! Wenn du einfach so gehst, wirst du es bereuen, das schwöre ich beim Grab von Großmutter Levass! Wenn du nicht sofort…“
Der Schlüssel seiner Zelle, der plötzlich im Türfenster erschien, ließ ihn kurz innehalten. Deutlich ruhiger fuhr der Pirat anschließend fort: „Ah, ich wusste doch, dass du weißt, was gut für dich ist. Sperr die Zelle auf, mein Freund, und ich bring euch beide, dich und deine Schnecke, heil hier raus. Ich lasse dich auch die Waffen verkaufen, und wir teilen den Gewinn! Wie klingen 10%, hä? Das wäre doch was!“
Kai lachte leise in sich hinein, bevor er etwas mit dem Schlüssel wackelte, um ihn letztlich in die Falten seiner Kleidung zu stecken. Mit ruhiger Stimme, ganz als ob er nicht gerade dabei wäre, aus einer Marinebasis zu flüchten, die wohl bald von Zivilisten überfallen würde, ließ der Händler verlauten: „Weißt du, dein Angebot klingt verlockend, aber ich nehme doch lieber diesen Schlüssel hier und mache mir eine Halskette daraus. Ich weiß, es mag seltsam klingen, das von mir zu hören, aber Geld ist nicht alles. Dieses Schätzchen hier ist viel wertvoller. Mit diesem kleinen Stück rostigen Metalls, gehört mir nicht nur irgendein Schlüssel… sondern deine Freiheit.“
Erwartungsgemäß erging sich Levass sofort in einem Sturm aus wüsten Beschimpfungen und hässlichen Flüchen, die einem waschechten Piraten alle Ehre machten. Kai ließ sich davon nicht weiter berühren, sondern kehrte erneut vollkommen entspannt zu seiner neuen Pertnerin zurück, zu der er gerade so laut sagte, dass sie ihn verstand, nicht aber Levass:
„Sicher sind das hier nicht die einzigen Schlüssel. Wir sollten uns also wirklich etwas beeilen, bis wirklich noch jemand auf die Idee kommt, unseren polternden Freund zu befreien.
Oh, und übrigens, bevor wir losgehen noch zwei Dinge: Einerseits sollte ich ihnen wohl sagen, dass ihr blonder Freund in einer der Zellen dort draußen sitzt. Wenn sie mit ihm sprechen, oder ihn sogar mitnehmen wollen, wäre jetzt der Zeitpunkt, sich zu entscheiden.
Andererseits kam keiner von uns wirklich dazu, deshalb möchte ich nun den Anfang machen. Wir können uns schließlich nicht die ganze Zeit Fräulein und… wie war das noch Ghost, nennen? Nun, wie auch immer: Ich bin Kai, freut mich sehr.“