Mountainegro » Episode 002: Blut und Eisen

„Ha-…Ha-… HATSCHIII!“
Der Rückstoß beförderte Kai schmerzhaft gegen den vorderen der drei Masten des Schiffes, an dessen Bug er stand, und klopfte ihm auch den letzten Rest Luft aus den verschleimten Lungen. Drei Tage quälte er sich nun schon mit dieser verdammten Erkältung herum, und noch immer gab es keine Hoffnung auf Besserung. Gab es etwas Unnötigeres als Krankheiten, vor allem solche wie die gemeine Erkältung? Kai viel beim besten Willen nichts ein.
Trotz allem stand der weißhaarige, hagere Händler an Deck des scheinbar namenlosen Schiffes und schaute aufs bleierne Meer hinaus. Noch immer viel beständig Schnee, was den Rest der Crew jedoch weniger kümmerte als das Häufchen Elend, das den Titel des Mannschaftsbuchhalters trug. Eingewickelt in eine kratzige Decke, die er in einem unbeobachteten Moment dem Vorrat der Bussarde geraubt hatte, fühlte sich Kai stark an seine Ankunft vor Fort Geoff erinnert. Damals hatte er zwar nachts, und nicht tagsüber einen dunklen Fleck am Horizont herbeigesehnt, doch Meer und Himmel hatten trotzdem exakt so düster und trostlos gewirkt wie jetzt.
Es war kalt, es war langweilig, und Kai war krank. Wieso also stand der Händler überhaupt an Deck, anstatt sich in seinem Zimmer zu verkriechen?
Nun, dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen hatte Kai bereits die letzten Tage so verbracht, und langsam stieß es ihm übersauer auf, so viel Zeit an eine Krankheit zu verschwenden. Zudem hatte er den Eindruck, sich der Mannschaft regelmäßig präsentieren zu müssen, um nicht ganz in Vergessenheit zu geraten. Zu dieser Mannschaft zählte Kai im Übrigen mittlerweile auch Zahara, die sich noch besser in ihre Rolle zu fügen schien, als zunächst angenommen. Offenbar machte es ihr nicht nur Spaß, eine kleine Horde muskelbepackter Grobiane durch die Gegend zu scheuchen, die gute Frau hatte auch ein echtes Händchen dafür. Kai gab es nur ungern zu, doch seine Geschäftspartnerin hatte dieses gewisse Etwas, das alle Augen auf sie zog, wenn sie einen Raum betrat. Selbst ohne all den Schmuck, die exotischen Gewänder, die Tätowierungen und ihre beiden Hunde, die ihr niemals von der eilte wichen, hatte sie eine deutliche Präsenz. Es war eine Eigenschaft, die man nicht einfach so erwerben konnte. Man hatte sie, oder man hatte sie nicht. Kai gehörte zur zweiten Sorte, und auch wenn er diese Fähigkeit in sich nicht vermisste, war es doch ein deutlicher Vorteil, jemanden in der Hand zu haben, der sie besaß.
Zu diesen zwei Gründen, trotz aller Vernunft an Board zu bleiben, kam natürlich noch ein Dritter, und das war Kais Antrieb Nummer eins: Gier. Oder besser Neugier, denn wie oft hatte man schon mal die Möglichkeit, im South Blue einen echten kleinen Blizzard mitzuerleben? Hinzu kam der Wunsch, endlich das Ziel ihrer aller Reise am Horizont erblicken zu dürfen, auch wenn sich Kai auf die Ankunft genauso freute, wie er sich davor fürchtete.
Mountainegro selbst war ein interessantes Stück Insel, das eigentlich keine Insel war, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Tatsächlich war es ein einziges, großes Bergmassiv mit einer Spitze, die selbst an den sonnigsten Tagen immer in Wolken gehüllt blieb. Bisher haben etliche Menschen versucht, diese zu erklimmen, doch alle Versuche blieben ohne Erfolg.
Andere Geschäfte dagegen liefen sehr erfolgreich ab. So war Mountainegro für seine scheinbar endlosen Ressourcen bekannt, die das Herz jedes Bergmanns höher schlagen lassen. Offenbar besteht der Berg zu mehr als der Hälfte aus recht reinem Eisen, der in verschiedenen Fabriken zu bis weit über die Grenzen des Blues bekanntem Stahl verarbeitet wird. Vor etwa hundert Jahren soll der Berg auch noch fast ebensoviel Edelmetalle beherbergt haben, doch dafür gibt es heute kaum Anhaltspunkte. Trotzdem gibt es noch immer Glücksritter, die auf der Suche nach Gold und Silber nach Mountainegro kommen, um reich zu werden.
Diese Schürfer teilen sich die Insel sowohl mit den ernsthafteren Bergleuten, als auch mit den angesprochenen Manufakturen für Metalle, Werkzeuge und Waffen. Es gab eigentlich keine Tötungsmaschine, die man auf Mountainegro nicht finden konnte, egal ob Klinge oder stumpf, ob Schusswaffe oder Nahkampfwerkzeug. Hinzu kommt, dass die Bewohner von Mountainegro sich Dank der Ressourcen des Berges über einen fast unendlichen Vorrat an Schwarzpulver und Sprengstoff erfreuen.
Kurzum: Die Insel ist ein wahres Paradies für Techniker und Kriegsfetischisten jeder Couleur, solange es sich nicht gerade um Freunde von Freiheit und Gerechtigkeit handelt. Regierungen egal welcher Art, also auch die Weltregierung inklusive Marine, haben auf Mountainegro nämlich nichts verloren. Recht und Ordnung wird von den dortigen Werkstätten selbst aufrecht erhalten, um jedwede Einmischung von außen zu verhindern. Ein System, das Kai schon immer gefallen hat: Jeder beschützt selbst, was er hat, und wer dazu nicht in der Lage ist, verdient seinen Besitz auch nicht.
Doch nicht nur deshalb war Kai oft zu jener Insel gereist. Mountainegro war ein wahres Handelsparadies, das über einen florierenden Schwarzmarkt verfügte. Ohne offizielle Aufsicht ließ sich direkt mit den Herstellern verschiedenster Waren verhandeln, und auch wenn die Preise hoch waren, so waren zum Beispiel echte Mountainegro-Waffen doch jeden Berry wert. Die Vorstellung, dort die Waren an den Board des Bussardschiffes zu verkaufen, war Kai da schon beinahe peinlich. Vermutlich musste er froh sein, wenn er den Preis für das Rohmaterial der Waffen einnimmt…
Der Händler kicherte. Hör schon auf. Du weißt ganz genau, dass der alte Donnerbüchsen Denkow die Gewehre und Pistolen mit Kusshand nehmen wird, während die Klingen an Gustavo oder Tonellia gehen. Solange Lyn davon nichts mitbekommt, werde ich bei Toni wohl den besseren Preis bekommen. Ein ziemlich risikoreiches „solange“, aber…
Während sich in Kais Kopf das erste Treffen zwischen der gewalttätigen Waffennärrin und ihrer nicht weniger brutalen Konkurrentin wiederholte, bekam der Händler den Wechsel im Niederschlag kaum mit. Erst, als seine Nase eine leichte Prise Feuerholz in der Luft erschnupperte, starrte Kai erstaunt über die Wellen. Noch war nirgendwo Land zu sehen, und doch war klar, dass Mountainegro fast erreicht hatten.
Dann wird es wohl Zeit, die Frau Kapitänin zu unterrichten.
Kai hatte die Abmachung mit Zahara nicht vergessen, sich vor der Ankunft auf der Insel noch mal über das weitere gemeinsame Vorgehen zu unterhalten, doch viel zu sagen gab es eigentlich nicht. Dennoch kehrte er dem Bug des Schiffes den Rücken zu und passierte einige Piraten, die ungläubig in den Himmel starten. Mit einem Lächeln nickte er ihnen zu, bevor er unter Deck verschwand, begleitet von den Worten eines der Männer.
„Junge, das ist das Ende der Welt, sag’ ich dir. Oder seit wann ist es normal, dass es… Asche schneit?“

Inzwischen war es kein Geheimnis mehr, dass Zahara sich sowohl in ihre Rolle etwas eingelebt hatte, als auch großen Gefallen an ihr fand. Wenn sie über das Deck stolzierte, warfen die Männer ihr Blicke zu, manche zeigten ihren Respekt und wenn sie Befehle durch den eisigen Sturm bellte, wurde ihnen Folge geleistet. Es hatte nur eine einzige Ausnahme am gestrigen Tage gegeben. Dass sich nicht jeder waschechte Pirat einfach so einer Frau unterordnen würde, hätte man sich denken können. So war Zahara auch nicht überrascht, als sie das erste Mal mit Unmut ihrem Geschlecht gegenüber konfrontiert worden war. Sie hatte dem Mann zwei Finger gebrochen, einen abgeschnitten und ihn ansonsten unbeschadet davon kommen lassen. Kai wäre stolz auf sie gewesen – kein Crewmitglied weniger, obwohl sie einen Grund dafür gehabt hätte. Später hatte sie der Mannschaft noch versichert, dass dies nur ein Zeichen dafür war, dass sie es ernst meinte. Das nächste Mal würde man nicht so glimpflich davon kommen – doch niemand hatte es bisher getestet. Anschließend hatte sie noch etwas Alkohol in die Runde geschmissen und den Rest des Tages im Trockenen verbracht. Zuckerbrot und Peitsche. Peitsche machte mehr Spaß.
Timmy hatte sich als erstaunlich nützlich erwiesen. Er war ein kriecherischer Speichellecker, aber ein intelligenter. Er wusste genug über die Crew um Zahara einige Hinweise zu geben, war aber Manipulation gegenüber anfällig und stellte deshalb ein leichtes Ziel dar. Gegen Ende der Reise meinte Zahara, dem Zwerg genug Honig ums Maul geschmiert zu haben um ihn Levass endgültig vergessen lassen zu haben. Doch wer wusste schon, wie tief Loyalität in dem kurzen Körper verankert war?

Sie und Kai waren sich zwar nicht aus dem Weg gegangen, hatten aber kaum etwas miteinander zu tun gehabt. Das mochte daran liegen, dass das Weißhaar entweder beschäftigt oder krank war, Zahara kümmerte das aber kaum. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto öfter dachte sie an die Reparatur ihres Schwertes. Dadurch rückten Fragen über Zukunft, Schiff und Mannschaft erneut in den Hintergrund, bis...
… ein Klopfen Zaharas Kopf empor zucken ließ. „Herein!“, rief sie über den dicken Schreibtisch hinweg.
Die Tür quietschte leicht, als sich Kais dürre Gestalt in das geräumige Zimmer schob. Sein lächelndes Gesicht schaute sich einmal im Raum um, bevor er zu Zahara schlenderte und eine Seekarte auf dem Tisch ausbreitete, die er unter dem Arm trug. Nach einem kleinen Kampf mit den Ecken, die sich immer wieder aufrollten, setzte er sich Zahara gegenüber auf einen wackligen Schemel und nickte ihr lächelnd zu.
„Wie ich sehe, hat sie ihr neuer Posten noch nicht umgebracht.“
Eine besondere Betonung legte er auf die kleinen Wörtchen „sie“ und „ihr“. War es ihm etwa peinlich, sie bei seinem Anschiss vor einigen Tagen einfach so geduzt zu haben?
Zaharas Lippen formten sich zu einem milden Lächeln. „Nein, das hat er nicht. Und selbst?“, fragte sie, schob Kai aber gleichzeitig ein Stofftaschentuch zu.
Der Händler winkte ab, seufzte dabei aber schwer. "Ich kann nicht klagen. Wobei, nein, ich könnte, aber... Ha-... Ha-..." Rasch hob sich Kai die Nase zu, um den Nieser im Keim zu ersticken. Es dauerte eine Weile, bevor er langsam fortfahren konnte: "...aber, ähm, ja. Belassen wir es einfach dabei."
„Deiner Anwesenheit, der Seekarte und des neuen Geruchs nach nähern wir uns der Schmiedeinsel Mountainegro?“
Kai sah ein wenig überrascht aus, fing sich dann aber und deutete mit ausgestrecktem Finger auf einen kleinen, unförmigen Kreis, neben dem der Name der Insel stand.
"Ganz recht. Wenn ich meinem Gefühl trauen kann, dürften wir in ein paar Stunden dort sein. Und da wir abgemacht hatten, uns vor der Ankunft nochmals über unsere jeweiligen Interessen zu unterhalten, dachte ich daran, ihnen einen Besuch abzustatten.
Lassen sie mich einfach ganz frei fragen: Wie gefällt es ihnen als Anführerin einer Piratencrew?"
Zahara verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und sagte ein paar Sekunden lang nichts sondern stierte gedankenverloren auf die Seekarte. Dann zuckte sie mit den Schultern und lächelte wieder. „Ganz ehrlich? Ich hab' es mir anders vorgestellt. Die meisten der Typen fressen mir aus der Hand. In sofern kann ich mich wohl nicht beklagen. Es ist nur... ungewohnt.“, klärte sie Kai auf und mischte nebenbei wieder etwas ihres Krautes und Tabak. „Auch?“
Erneut schaute Kai erst ein wenig verwundert, dann nickte er. "Danke, ja. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber das Gemisch ist ziemlich... anregend. Ich bin sicher, dass sich damit einiges verdienen ließe. Wenn wir diese ganze Sache hier heil überstehen, versteht sich.
Aber gut, warum ich sie überhaupt fragte: Ich habe mir einige Optionen für die Zukunft durch den Kopf gehen lassen, und auch, wenn ich eine endgültige Entscheidung noch verschieben würde - sicher lässt sich auf Mountainegro etwas über den Stand der Suche nach uns erfahren - so könnten wir uns doch über einige der Möglichkeiten unterhalten. Beispielsweise über die, den Status Quo einfach beizubehalten und Piraten zu bleiben."
Nun war es an Zahara, verwundert zu schauen. Natürlich hatte sie über diese Möglichkeit nachgedacht, sie war jedoch überrascht, dass Kai so direkt damit herauskam. Dass sie ihr geliebtes Kraut niemals einfach so hergeben würde, wurde dabei einfach vergessen. Nachdenklich drehte Zahara die Zigaretten zu Ende, überreichte ihrem Gegenüber eine davon und entzündete beide mit dem gleichen Streichholz. Erst nachdem sie einige Züge genossen hatte, ging sie auf Kais Vorschlag ein. Es war ihr schmerzlich bewusst, dass sie an dieser oder späterer Stelle Schwäche würde zeigen müssen.
„Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Was für Optionen hast du noch anzubieten?“, fragte sie und wollte damit erst einmal alle Karten auf den Tisch legen, bevor sie eine zog.
„Nun…“, begann Kai. „Wie bereits besprochen könnten wir ebenso versuchen, unterzutauchen. Am besten jeder für sich. Die Marine wird zunächst mit den Bussarden beschäftigt sein, doch das heißt nicht, dass sie uns ganz und gar vergisst. Wir würden also den Schutz unserer werten Crew gegen ein Leben auf der Flucht tauschen. Gut, vielleicht kein ganzes, aber zumindest ein halbes Leben. Ein Drittel. 10 Jahre? Hmm…“
Zahara schüttelte spontan den Kopf und hob eine Hand, um Kai zu unterbrechen. „Nein.“ Darüber war sich die Frau während der letzten Tage nämlich bewusst geworden. Wenn sie Klarheit in ihre Vergangenheit bringen wollte, musste sie reisen und frei sein. Auf der Flucht war sie eingeschränkt und hatte kaum eine Möglichkeit, irgend etwas zu erreichen. Außerdem: Warum sollte sie flüchten? Sie hatte nichts, wofür sich das Flüchten lohnte, sah man einmal vom reinen Überlebensinstinkt ab. Nein, Untertauchen war keine Option mehr für sie.
„Du solltest vielleicht wissen, dass...“ Zahara schwieg noch einmal kurz, nahm einige Züge und machte den Eindruck, als fühle sie sich unwohl. Als sie Kai wieder in die Augen sah, konnte er als aufmerksamer Beobachter bestimmt so einiges entdecken. Aufregung, Nervosität – Angst? Nein, das war vermutlich zu viel des Guten. „... ich keine Ahnung habe, was es heißt, das Leben eines Piraten zu führen. Mehr als schlechte Geschichten kenne ich nicht. Vor gut einem Monat bin ich das erste Mal zur See gefahren.“ Sollten sie nämlich tatsächlich das Leben eines Piraten führen, so brauchte Zahara den weißhaarigen Kopf, der da vor ihr saß. Sie brauchte sein Wissen und seine Erfahrung – das musste er wissen, wenngleich sie ihm damit Informationen und Macht in die Hand drückte, die sie nicht unbedingt hatte hergeben wollen. Dennoch sah sie das als notwendiges Übel. Wenn das hier funktionieren sollte, musste ein winziges Maß an Ehrlichkeit bestehen. Zahara war nicht dumm genug, das zu ignorieren.
Kai schien dieses Geständnis jedoch nicht weiter zu beeindrucken. Er saß einfach weiter auf seinem wackligen Stuhl, und lächelte, obwohl sein Gesichtsausdruck nun ein wenig mehr wie ein zufriedenes Grinsen wirkte.
„Haben die letzten Tage etwa bei ihnen den Eindruck erweckt, sie bräuchten solcherlei Erfahrung? Nein, natürlich nicht. Weil es darauf gar nicht ankommt. Lassen sie mich ihnen etwas sagen: Ich war selbst schon einmal Pirat, in einer Art anderem Leben, wenn sie so wollen. Habe ich Erfahrung? Ja. Würde ich diese Crew an ihrer Stelle führen wollen? Bei allem was heilig ist, niemals. Für manche Berufe braucht man Vorkenntnisse, wie zum Beispiel als Händler, aber auch als, hmm… als Handwerker zum Beispiel. Andere dagegen brauchen etwas anderes. Eine gewisse Anlage, ein Talent. Ja, auch Sänger, Tänzer und Schauspieler brauchen Erfahrung, aber wenn sie für solcherlei Arbeit absolut kein Talent haben, hilft auch keine Erfahrung der Welt.“
Eine kurze Pause, dann fuhr Kai fort: „Als Piratenkapitän brauchen sie einen Ruf und die Mittel, ihn aufrechtzuerhalten. Beides haben sie. Dank ihrer Rache an Levass und meinen Worten gelten sie dort draußen als blutrünstige, eisenharte Herrscherin, und mit diesem Ruf halten sie die Leute unter Kontrolle. Ab sofort müssen sie eigentlich nur dafür sorgen, dass dieser Ruf nicht zu Schaden kommt. Eine einfache Aufgabe für jemanden, der kein Problem damit hat, einen Menschen für eine Waffe zu einem zähen Brei zu verarbeiten, nicht wahr?“
Fast hätte Zahara angefangen zu kichern, als Kai von einem zähen Brei sprach. Rückblickend hatte sie sich an Levass wirklich ausgetobt und wenn man dann noch bedachte, dass Teile von ihm später von ihren gdân ausgeschissen worden waren, war seine Ruhe nach dem Tod auf unglaublich demütigende Art und Weise geschändet worden. Der Frau gefiel das. Hätte sie die Gelegenheit zu träumen, wäre das wohl inzwischen ihr Lieblingstraum geworden.
„Nicht, bei einer Crew wie dieser. Die meisten der Männer sind komplette Vollidioten – streiten sich über die dümmsten Sachen und schlagen sich den Schädel ein. Andere waren loyal zu Levass – man kann es in ihren Augen sehen, auch wenn sie das Maul halten.“
„Dass ich ihnen das erklären muss, überrascht mich.“ Kai schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. „Zunächst einmal waren sie loyal zu Levass. Waren. Vergangenheit. Nun sind sie noch niemandem loyal gegenüber, zumindest nicht wirklich. Geben sie ihnen nur einen Grund, ihre Treue der Kriegerin Zahara Azhir zu übergeben, und der Großteil der Crew wird durch und durch hinter ihnen stehen.
Was den Rest angeht, nun ja. Das Piratenleben ist ein gefährliches. Unfälle passieren. Die Marine passiert. Es würde mich nicht wundern, wenn in einem Monat, ach, einem halben Monat ein Drittel der Crew schon… ausgetauscht wurde.“
Zahara runzelte kurz die Stirn. „Genau das wollte ich damit andeuten. Aber genug davon! Es sieht so aus, als hätten wir einen Plan, nicht? Du hast dich die letzten Tage mit dem Schiff und der Crew vertraut gemacht – was müssten wir auf Mountainegro besorgen, was haben wir für ein Budget?“
Sichtlich entspannter rückte sich Kai seinen Stuhl zurecht, als sich das Gespräch endlich seinem offenbar liebsten Thema zuwandte: Geld.
„Levass hat seinen Leuten offenbar überdeutlich gemacht, sich nicht an der von der Marine gestohlenen Fracht zu bedienen. Der Wert der Waffenlieferung beläuft sich auf etwas mehr als 15 Millionen Berry. Unser Ziel ist die Heimat zahlreicher Waffenhändler, die zwar besseres gewohnt ist, mir teilweise aber auch noch Gefallen schulden. Ich bin also sicher, dass wir diese 15 Millionen einnehmen werden können.
Was den Rest des Schiffes angeht… nun, man merkt, dass die Bussarde relativ wenig von Ordnung halten. Das gesamte Vehikel ist in recht gutem Zustand, obwohl es sachgemäßere Wartung benötigt und verdient. Die Ausstattung lässt allerdings zu wünschen übrig. Es gibt in den Privatkabinen kaum anständige Möbel, die Küche verfügt über kaum mehr als Bier, Fleisch und einen Haufen abgewetzter Holzschüsseln – von richtigem Küchenwerkzeug kann einfach keine Rede sein – und was die militärische und modische Ausstattung der Crew angeht… im Grunde besitzt jeder Soldat nur das, was er bei sich trägt.“
Kai seufzte, sein Lächeln hielt sich aber wacker. „Unsere oberste Priorität sollte die Bewaffnung des Schiffes sein. Einige der Kanonen an Board sind lediglich Imitate aus Gips. Mountainegro wäre der ideale Ort, um diese gegen echte auszutauschen und zusätzliches Schießpulver einzukaufen. Davon abgesehen könnte ich ein paar Werkzeuge gebrauchen, um die Waffen der Crew und meine eigenen zu warten. Was die bitter nötigen Luxus- und Komfortgüter angeht, werden wir jedoch noch warten müssen. Sicher, Chemikalien gibt es vor Ort, doch gute Zutaten für ein anständiges Abendessen?“ Ein resigniertes Kopfschütteln war alles, was sich dazu sagen ließ.
Zahara merkte, wie sehr sie von Kai abhängig war. Ohne ihn würde sie vermutlich keine einzige Waffe an den Mann bringen, geschweige denn wissen, was sie mit dem Schiff anzustellen hatte. Irgendwie machte sich das Gefühl in ihr breit, dass sie hier nicht der einzige Kapitän war. Keiner der beiden konnte diese Crew ohne den anderen führen... eine merkwürdige Fügung des Schicksals, die zwei Einzelgänger aneinander band, nicht?
„Luxus und Komfort sollen sie sich erst einmal verdienen. Wie weit werden wir dahingehend mit 15 Millionen Berry kommen?“, fragte sie – denn von den Preisen, die auf solche Güter wie Kanonen oder andere Kriegsmaschinerie lagen, hatte Zahara nicht den blassesten Schimmer.
Kai kicherte, noch bevor Zahara zu Ende gesprochen hatte, und machte einen tiefen Zug von… was auch immer seine Partnerin da zusammengerollt hatte. „Ich spreche auch nicht von Luxus und Komfort für die Crew, sondern für uns. War das nicht klar? Doch zu ihrer Frage: Die Maximalbewaffnung des Schiffes beträgt etwa 40 Kanonen. Wir besitzen etwa ein Drittel soviel. Da Mountainegro die beste Chance für uns ist, hervorragende Qualität zu einem guten Preis zu erstehen, sollten wir direkt die etwa zweieinhalb Dutzend fehlenden Exemplare auf einmal erstehen. Es ist viel Geld, doch so kriegen wir zudem auch einen gewissen Mengenrabatt. Die Kosten hierfür, inklusive Schießpulver für ein bis zwei Monate, dürften sich auf etwa…“
Wie ein Kind zählte Kai seine Finger ab, während er verschiedene Summen murmelte. Irgendwann nickte er, wenn auch etwas unzufrieden. „Zehn bis Zwölf Millionen Berry. Vielleicht etwas weniger, wenn wir Glück haben. Das heißt ein Großteil unseres Budgets.
Was die restlichen Möglichkeiten angeht… Wir könnten uns ein paar neue Waffen für die Crew leisten, oder ein paar unserer Exemplare im Frachtraum behalten. Zudem könnten wir für die Küche ein paar Stahlutensilien besorgen, sowie für den Frachtraum. Vielleicht finden wir auch eine neue Wasserpumpe, Instrumente zur Navigation… und ein Minimum an Vorräten, dass wir die Reise zur nächsten Insel überstehen.“
Noch einmal zählte Kai geheimniskrämerisch vor sich hin, bevor er nochmals nickte – unglücklicher als beim ersten Mal.
„Im schlimmsten Fall werden wir komplett die 15 Millionen los. Im besten Fall behalten wir einen Bruchteil. Letzteres gilt jedoch nur, wenn ich hier und da wirklich gute Schnäppchen auftreiben kann und auch wirklich Zeit habe, mich darum zu kümmern. Am besten kümmere ich mich hierum, während sie zu meiner Bekannten gehen und sich um ihre Waffe kümmern lassen. Die ich beinahe vergessen hätte…“
Zahara verzog unschön das Gesicht. Sie hatte tatsächlich gedacht, hier war vom Luxus für die Crew die Rede – wenn sie schon als Kapitän dieses Schiffes über die Meere fuhr, bestand sie auf etwas Luxus, ein paar schöne Dinge und Annehmlichkeiten. Besser, das gleich zur Sprache bringen, oder? Außerdem brauchte sie noch einige andere Dinge.
„Fein. Ich brauche allerdings auch noch ein paar Sachen. Kleidung, guter Rum, Tabak – kleinere Sachen. Außerdem kannst du einige Kolben, Reagenzgläser und einen vernünftigen Bunsenbrenner auf die Liste setzen. Mörser und Stößel, Skalpell und Pipetten, Grundstock an Kräutern und Chemikalien.“ Zahara hatte sich all das bereits auf Gazierah gewünscht und auch angesehen, doch diese Gerätschaften waren speziell und damit teuer, wenn man nichts gebrauchtes oder qualitativ minderwertiges haben wollte.
„Außerdem brauchen wir genug medizinische Vorräte um einfache Krankheiten oder Entzündungen bekämpfen zu können.“ Sollten Teile der Crew krank werden oder womöglich sogar wegen solch trivialen Angelegenheiten draufgehen, so wäre es um die zuvor angesprochene Loyalität wohl sehr schlecht besorgt. „Was die Waffen für die Mannschaft angeht... wir sollten einige besorgen, aber vorerst unter Verschluss halten. Die Männer sollen sich ihre Privilegien verdienen.“, sagte Zahara und lächelte dabei mysteriös. Sie hatte ganz klar schon eine Idee, wie dieser Privilegienverdienst aussehen sollte... „Oh, bevor ich es vergesse: Ich sollte dich lieber früher als später in eine offizielle Rolle auf diesem Schiff erheben. Irgendwelche... Wünsche?“
Kai machte bei der Erwähnung von Reagenzgläsern und Bunsenbrennern große Augen, die auch den Rest von Zaharas Vorderungen überdauerten. Sicher, „große Augen“ bedeutete im Fall des Händlers, das seine üblichen Schlitze kaum merklich geweitet waren, aber man sah ihm dennoch an, dass er deutlich überrascht war. Als er wieder an der Reihe war, zu sprechen, rechnete er zunächst wieder, bevor er vorsichtig begann:
„Wenn ich mit meinen Rechnungen richtig liege – und das ist ein großes wenn, da ich mich mit den Preisen der Instrumente, die sie sich wünschen, kaum auskenne – dürfte das unser restliches Budget überschreiten. Mit einer Million Berry könnten wir zwar anfangen, ein Labor für sie einzurichten, doch wirklich alle Instrumente, die sie brauchen, plus die Vorräte… das würde definitiv mehr kosten.“
Unglücklich fuhr sich der Händler über den weißen Haarschopf. „Es reicht hinten und vorne nicht, wenn ich ehrlich bin, es sei denn…“
„... es sei denn?“ Wieso hatten es sich manche Menschen zur Angewohnheit gemacht, betont lange Pausen einzufügen um die Spannung nach oben zu treiben? Wa-rum?
Kai war drauf und dran, seinen Mund nochmals aufzumachen, bevor er den Kopf schüttelte und abwinkte. „Nein, vergessen sie das. Schreiben sie mir einfach auf, was sie benötigen, und ich werde tun, was ich kann, um es ihnen zu besorgen. Vertrauen sie mir.“
Bevor Zahara etwas erwidern konnte, fuhr der Händler hastig fort. „Ähm, zu ihrer Frage nach einem möglichen Posten für mich: Den habe ich bereits. Für den Rest der Crew bin ich eine Art Finanzberater. Ein einfacher Kassenwart. Der Schatzmeister. Ja, das ist gut. Nennen sie mich einfach den Schatzmeister. Sie müssen den Titel nicht extra offiziell ankündigen; das würde nur die Aufmerksamkeit der anderen auf mich lenken. Wichtig ist nur eine Sache, nein, zwei Sachen.
Erstens, sie machen den Leuten klar, dass ich für die Finanzen zuständig bin. Niemand sonst. Wer eine Waffe oder Taschengeld will, bekommt es, wenn ich es sage, wann ich es sage. Das gilt zu einem gewissen Grad auch für sie. Wir beide sind gemeinsam in dieser Sache, und wenn ich eine ihrer Bitten je ausschlagen sollte, dann ist das zu unser aller Besten.
Und zweitens…“ Allein der Gedanke brachte Kai offenbar zum Kichern. „Wenn ihr momentaner Vizekapitän in naher Zukunft das Zeitliche segnen sollte, nun, dann wäre ich ihnen dankbar, wenn sie mit der Neubesetzung ein Weilchen warten würden. Im Gegenzug würde ich mich auch darum kümmern, dass die Kajüte ihrer rechten Hand nicht verfällt, wenn sie verstehen, was ich meine.“
„Fein – der Schatzmeister also, soll mir Recht sein. Allerdings: Nein, ich vertraue dir nicht. Nimm's mir nicht übel, aber wenn du vor hast an mehr Geld zu kommen oder irgend etwas anderes planst, will ich davon wissen. Wie du eben sagtest: Wir beide sind gemeinsam in dieser Sache.“
„In Ordnung, in Ordnung. Dann lassen sie mich ehrlich sein.“ Kai suchte offenbar nach den richtigen Worten – hatte er das schon mal gemusst? „Ich habe Zugang zu einer nicht geringen Summe Geld, die uns durchaus weiterhelfen würde. Allerdings handelt es sich dabei um eine Art Notgroschen, eine Geldanlage für äußerst schlechte Zeiten. Würde ich diesen Notgroschen ausgeben, beispielsweise für ihr neues Labor, bräuchte ich eine Art Sicherheit. Ein Pfand, wenn sie so wollen.“
Zahara überlegte einige Momente und ließ ein paar Szenarien durch ihren Kopf gehen.
„Wenn du beweisen kannst, dass dieses Geld tatsächlich dir gehört und du es nicht irgendwem aus der Tasche ziehst, sollst du den haben.“ Skepsis war Zahara selbstverständlich anzumerken. Wie schön wäre es, jemandem etwas zu Klauen und dafür noch von jemand anderem einen Pfand zu verlangen?
Kai legte nur seinen Kopf schräg. „Und wie soll ich das beweisen? Nichts, was ich sagen könnte, würde sie überzeugen, wenn sie mir schon so wenig trauen, einen Beweis hierfür zu verlangen. Ich bin Händler. Natürlich habe ich Sicherheiten.“
„Mir reicht etwas einfaches. Woher es kommt oder wo es ist.“ Natürlich konnte Kai sich einfach etwas ausdenken, doch Zahara vertraute auf ihre Fähigkeit, Lügen zu erkennen. Ein gewiefter Händler war zwar ein anderes paar Schuhe als ein betrunkener Soldat, doch schlecht in so etwas war die junge Frau nicht. „Nenn es guten Willen – danach kannst du gerne ein Pfand verlangen.“, erklärte Zahara und wirkte dabei ziemlich friedlich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Kai sich zu einer Antwort durchringen konnte. Er saß ruhig auf seinem Stuhl, schaute sein Gegenüber an, und dachte nach. Dann, irgednwann, lehnte er sich zurück und zerzauste sich selbst das Haar.
„Ah, meine Güte.“, seufzte er. „Dafür, dass sie mir ihr Leben und mehr schulden, sind sie ganz schön forsch. Würden sie nur etwas mehr von Preisen und Qualität verstehen, würden sie eine gute Vertreterin abgeben. Aber gut. Dann ist es eben der gute, alte Koroshi no Kai, der den ersten Satz ins kalte Wasser macht und Vertrauen anbietet, wo keines ist.“
Langsam lehnte sich das Weißhaar vor, stützte sich mit beiden Armen auf dem Schreibtisch seiner Geschäftspartnerin, und fixierte Zahara mit seinem rechten Auge, das er weit genug öffnete, um ein eisiges, blaues Schimmern zu entblößen.
„Acht Millionen Berry aus meinen früheren, legalen Geschäften, allesamt in meinem Rechnungsbuch verzeichnet, beides hier an Board, in meinem Zimmer, im Koffer unter meinem Bett. Der Koffer ist zäh, sehr zäh, und verschlossen. Den Schlüssel trage ich vielleicht bei mir, vielleicht auch nicht. Versuchen sie bitte nicht, mir auch dieses Geheimnis noch aus den Rippen zu leiern.“
Zaharas Bauchgefühl nach sagte der Mann die Wahrheit – vielleicht irrte sie sich, aber vorerst reichte ihr das. Acht Millionen Berry waren genug für hochwertige Laborutensilien und einige Vorräte. Sie zog ein letztes Mal, blies etwas Rauch durch die Luft (der Raum roch inzwischen schon sehr markant nach kalla) und entledigte sich des Restes. Dann nickte sie Kai zu.
„Was für einen Pfand hast du dir vorgestellt?“
Deutlich entspannt lehnte sich Kai wieder zurück und schloss scheinbar die Augen. Seine Antwort kam zum Rest des Gespräches prompt. „Das Versprechen, meinen Posten als Schatzmeister zu respektieren, wie wir es zuvor besprochen haben, und das hier.“ Der Händler nahm nochmals einen Zug von seinem Glimmstängel, bevor er ihn zwischen sich und Zahara hob. „Ich könnte zwar die Reste eines Exemplars zu jemandem auf Mountainegro bringen, der die Inhaltsstoffe analysieren kann, aber das Rezept direkt von der Quelle zu beziehen erscheint mir doch sinnvoller.“
Wie schon so oft in den Gesprächen mit Kai war sich die Frau nicht sicher, was genau er wollte. Die Herkunft dieses Krautes herausfinden? Es analysieren... um Antworten über sie oder das Kraut zu bekommen? „Du hast mein Wort darauf, dass ich dich als Schatzmeister etablieren werde. Allerdings kann und werde ich dir nicht die komplette Gewalt über unser Geld geben. Möchte ich mir schöne Sachen kaufen, kaufe ich mir schöne Sachen. Möchte ich mir sehr teure schöne Sachen kaufen, wende ich mich an dich. Ist das soweit in Ordnung?“, fragte Zahara und lächelte dabei zuckersüß. Musste komisch aussehen.
Kai schmunzelte. "Wir müssen zwar noch ausmachen, was teuer und sehr teuer unterscheidet, aber ja. In Ordnung." Es fühlte sich für Zahara zwar an, als ob sie wieder Eltern oder einen Vormund hätte, doch sie überging diese Tatsache einfach. Das war etwas, was ihr nicht gefiel, aber womöglich notwendig war. „Warum interessierst du dich hier für?“, fragte sie und deutete auf die Reste der Zigarette.
"Wie schon gesagt." Kai räusperte sich kurz. "Ich gebe hier eine meiner Sicherheiten auf, und eine neue Sicherheit als Pfand zu verlangen, scheint mir gerechtertigt. Ich glaube, dass man mit diesem Kraut durchaus Geld verdienen könnte. Sicher, Zigaretten und Zigarren gibt es in der Welt zuhauf, und acht Millionen mit ein paar Kräuterstangen zu verdienen würde lange dauern. Aber wenn man erst einmal einen Markt etabliert hat und man zum Beispiel eine Piratencrew nutzt, um das eigene Monopol zu verteidigen..."
Das kaufte Zahara ihm nicht ab. Das sollte sein Pfand sein? Er konnte durch eine Analyse vielleicht herausfinden woraus dieses Kraut bestand, aber das wars dann auch. Nun, er würde natürlich wissen, dass es bereits einen kleinen Markt dafür gab – auf Gazierah und dass man es Kalla nannte, sollte er es zu den richtigen Leuten bringen (und wenn wir ehrlich sind, kannte Kai anscheinend eh alle richtigen Leute). Sie lachte sogar kurz auf.
„Geld kannst du damit verdienen, wenn du die Phenylethylamine extrahierst und versuchst das Zeug zu synthetisieren. Eine einfache Analyse wird dich nicht weiterbringen, da du das Kraut in Massen benötigen würdest um genug herzustellen – geschweige denn die reine Menge, die du durch Fehlschläge verbrauchen würdest . Wenn du wissen möchtest wo es herkommt, frag einfach.“
Kais Lächeln verbreiterte sich leicht, als Zahara die ersten Fremdworte fallen ließ. Gespannt lehnte er sich erneut vor, als es wieder sein Zug war: "Ich will nicht unbedingt wissen, wo es herkommt. Ich will wissen, ob und wie ich damit Geld verdienen kann. Der Zug ist nun aber leider abgefahren, ihrer Offenheit und Ehrlichkeit sei Dank. Hätten sie denn stattdessen eine Idee, wie sich etwas Ähnliches künstlich herstellen ließe? Oder gibt es irgendetwas anderes in ihrem Besitz, das acht Millionen Berry wert wäre?"
„Abgesehen von meiner elitären Gesellschaft? Nein. Etwas pflanzliches künstlich herzustellen ist soweit ich weiß unmöglich. Hier mit Geld zu verdienen halte ich für höchst unwahrscheinlich.“, schloss Zahara.
Enttäuscht schüttelte der Händler den Kopf. "Dann bieten sie mir eben etwas künstliches an, mit dem sich Geld verdienen lässt. Oder erwarten sie von mir ernsthaft, ihnen für acht Millionen Berry ein Labor einzurichten, nur damit sie was machen können? Alkohol herstellen?"
Zahara zuckte mit den Schultern. „Zum Beispiel, ja. Finde jemanden, der Flaschen fälschen kann und ich brenne dir den Alkohol dafür. Für eine besondere Flasche Rum oder Whisky werden horrende Summen bezahlt, nicht? Abgesehen davon: Ich brauche kein Labor im Wert von acht Millionen Berry um Salben und Gifte anzumischen. Für den Anfang reichen mir die Grundlagen und die bekommst du für deutlich weniger.“
Kai atmete tief ein und aus, bevor er antwortete: "Ich bin eigentlich eher der Typ Mensch, der Sachen richtig macht, oder aber gar nicht. Ein minderbemitteltes Labor einzurichten erscheint mir ein wenig verschwenderisch. Aber gut. Wenn es nur um ein paar Medikamente und Gifte geht, meinetwegen."
„Behälter und Bunsenbrenner in guter Qualität übersteigen unser Budget kaum – für ein richtiges Labor musst du aber unendlich viele Kleinigkeiten besorgen. Kleinigkeiten, die für den Anfang irrelevant sind und besorgt werden können, sobald wir unsere Schatzkammer etwas aufgestockt haben.“ Zahara klatschte in die Hände. „Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“
Der Weißkopf dachte einen Augenblick nach. "Ich denke nicht. Unser beider Rollen an Board sind soweit definiert, unsere Pläne für Mountainegro stehen fest... oh, richtig, eine Sache noch, die ich gestern... oder war es vorgestern? Wie auch immer, ich habe vor einigen Tagen ein paar Matrosen belauschen können, die sich über die Zukunft der Crew unterhielten."
Noch während er sprach, stand Kai auf, nahm seine Seekarte zurück und schob seinen Schemel ordentlich an den Tisch heran.
"Wenn sie Muße und Muse finden, sollten sie sich über die Namen für Schiff und Crew Gedanken machen. Ein solches Gefährt braucht einen passenden Namen, und irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass sie ihre Männer gern den Namen des Diebs ihres Schwertes tragen lassen. Ach so, ja, noch etwas." Ein leichtes Nicken folgte, und Kai streckte die offene Hand aus. "Das hier ist längst überfällig. Auf gute Zusammenarbeit."
Es dauerte einige Sekunden, bis sich die schwarz tätowierte Hand Zaharas vom Tisch löste und sich langsam in die Kais legte, aber es geschah. Über Namen würde sie sich Gedanken machen, wenn sie Mountainegro verließen – sie hatten zuvor noch genug zu tun. Ob auf dieser Insel alles glatt laufen würde? Es konnte schließlich nicht immer so ein Spektakel geben wie auf Fort Geoff, oder? So oder so: Sie näherten sich dem Land und es mussten noch einige Sachen erledigt werden.
„Hoffen wir es.“

Kai konnte sich nicht entscheiden, ob er seiner Krankheit oder dem allgemein stickigen, kleinen Raum die Schuld für den Schweiß auf seiner Stirn geben sollte. So oder so war das salzige Nass wenig hilfreich beim Verfassen neuer Notizen, dabei war dies dringend nötig. Die Ergebnisse des Gesprächs mit Zahara wollten schließlich auf Papier gebannt werden.
Dabei gab es eigentlich gar nicht soviel aufzuschreiben. Kais Plan hatte soweit funktioniert, weshalb er unter seine bisherigen Aufzeichnungen eigentlich nur ein „Ist auch so passiert“ hätte setzen müssen. Vor allem was den wichtigsten Punkt anging – Zaharas fortlaufendes Interesse am Piratendasein – gab es nicht mehr festzuhalten, als ebendies. Die gute Frau schien sich mehr als nur in ihr Schicksal zu fügen, was Kais nähere Zukunft vorerst absicherte. Zunächst war er also der Schatzmeister einer Piratenbande, die groß genug war, um ihm Schutz zu bieten, aber auch nicht so groß, dass ein ganzer Blue auf sie losgehen würde. Ein guter Zustand, bedachte man die Tatsache, dass Kai noch immer nicht genau wusste, welche Folgen Fort Geoff für ihn auf Dauer haben würde.
Keine guten, soviel steht fest. Dieser Möchtegern-Kommandant Benedict hat sicher an Prestige verloren, und da Levass tot ist, hat er nur noch eine Person, die er für das Sinken seines Sterns verantwortlich machen kann. Die Frage ist, inwiefern sich die Marine für den Grund des Versagens ihres Newcomers interessiert, oder ob sie sich zunächst ganz auf klein Arnold konzentriert.
Ohne entsprechende Information ging Kai einfach weiterhin vom Schlechtesten aus, was bedeutete, dass ein, maximal aber zwei Schiffe den Bussarden und wem auch immer sie gerade als Kapitän bezeichnen auf den Fersen sind. Im Schutz von vier Dutzend Muskelpaketen lebte es sich da sicherlich besser als auf eigene Faust.
Was den Rest des Gesprächs mit Zahara anging, so konnte Kai nicht klagen. Zwar schmerzte ihn noch immer der mögliche Verlust seines Taschengelds, doch es war nicht so, als hätte der Händler wirklich keine anderen Notgroschen mehr. Trotz der hohen Ausgaben, die er Tsai P. Kong und seiner unstillbaren Rache zu verdanken hatte, gab es hier und da noch kleine Geldverstecke, die er leeren und Gefallen, die er einfordern konnte. Zu einem von letzteren war die Crew schließlich ja gerade auch unterwegs.
Als das Gespräch inhaltlich soweit niedergeschrieben war, nahm sich Kai einen der blanken Zettel, die lose in einer der Seitentaschen seines Koffers auf Gebrauch warteten, und begann eine kurze Einkaufsliste für sich selbst. Der Werkraum, oder das, was man hier an Board schändlicherweise so bezeichnete, verfügte über kaum nennenswerte Gerätschaften, obwohl Kai dringend die Ablenkung durch sein liebstes Hobby gebraucht hätte. Ein wenig an den acht Waffen zu schrauben, die er dabei hatte, hätte seinen langsam immer stärker strapazierten Nerven eine bitternötige Entspannung verschafft.
Sobald die Liste knapp ein Dutzend Posten umfasste, faltete Kai den Papierfetzen sorgfältig und verstaute ihn in einer der Falten seines Gewands (das vor Dreck langsam stand), bevor er sich kraftlos vom Stuhl an seinem Schriebtisch auf das nahestehende Bett fallen ließ. Obwohl das Aufzählen der Werkzeuge, die er für sein Hobby brauchen würde, ihn etwas von seinen eigentlichen Gedanken abgelenkt hatte, blieben Zahara, Mountainegro, Lyn, Fort Geoff und die Bussarde fest in seinem Kopf und tanzten zusammen einen Polka, der Kais Kopf in einem unsauberen Rhythmus pochen ließ.
War der Plan nicht eigentlich, sich als Händler neu zu etablieren? Stattdessen hab’ ich eine völlig Fremde aus einem Marine-Knast befreit, weshalb ich jetzt wohl dank ihr und Levass ganz auf ein scheinbar braves Leben in der Öffentlichkeit verzichten darf. Aww… war der ganze Sinn der Flucht vor Kong nicht die, nicht mehr unter der Knute irgendwelcher Piratenbrut zu stehen?
Trotz allem konnte sich Kai des aufgeregten Kribbelns in seiner Magengegend nicht komplett entziehen. Immerhin besaß er nun nicht nur die Waffen, sondern auch ein Schiff inklusive Crew, sowie eine nahezu perfekte Marionette auf dem Kapitänsplatz, die noch dazu mit jedem Tag interessanter wirkte. Verstand Zahara doch tatsächlich etwas von Wissenschaft… wäre sie nur ein wenig zugänglicher, was für ein Team hätten sie dann abgeben können?
Drogenartige Stoffe… wahnsinniger Profit… neuartige Gifte… wahnsinniger Profit… revolutionäre Energieträger… wahnsinniger Profit…
Mit Bergen von Berry im Kopf, die sich unter ihm und Zahara auftürmten, driftete Kai in einen unerwartet ruhigen Schlaf.

Kai wusste nicht, wie viel Zeit seit seinem Gespräch mit Zahara und dem folgendne Nickerchen vergangen war, als er, geweckt von einem gewissen Chaos auf dem gesamten Schiff, ohne Decke um die Schultern nach draußen tapste. Trotz der Kälte, die glücklicherweise im Gegensatz zu Fort Geoff wesentlich abgenommen hatte, schlotterte Kai kaum. Kaum zu glauben, aber ein kurzes Schläfchen hatte ihm besser gegen seine kleine Krankheit geholfen, als jedes Ergebnis der modernen Medizin.
Neugierig stand der Händler erneut am Bug des Schiffes, doch diesmal fiel sein Blick nicht etwa auf ein leeres Meer. Stattdessen ragte vor ihm sichtbar ein steiler Berg auf, der von grauen und schwarzen Wolken fast bis zur vermeintlichen Hälfte eingehüllt war. Der sichtbare Rest von Mountainegro ließ ihn, trotzdem Kai die Insel schon einige Male versucht hatte, bewundernd die Augen weiten.
Überall, und zwar wirklich überall, hatten die Bewohner der Insel wie kleine Ameisen Löcher in den Berg gegraben, die manchmal ruhig und schwarz in dunklem Fels klafften, manchmal dunklen Rauch ausspuckten, und manchmal sogar hellgelb oder rötlich leuchteten. Letztere waren am interessantesten, wiesen sie Mountainegro doch als das aus, was der Berg eigentlich war: Ein nicht ganz inaktiver Vulkan. Ja, es waren nicht nur die Ressourcen des Berges, die ihn bei Wissenschaftlern und Handwerkern so beliebt gemacht hatten, sondern auch die oftmals freizugänglichen, unglaublich heißen Lavaströme, auf die mancher Schmied Stein und Bein schwor, wenn es um die Herstellung der besten Schwerter des Blues ging. Soviel Kai von Technik verstand, so blickte er dennoch nicht ganz hinter die diesem Glauben zugrunde liegende Logik, doch ein beeindruckender Anblick waren die glühenden Flüsse dennoch.
Wo keine grobschlächtigen Löcher in den Stein gehauen waren, dort bildeten sich die Formen von Gebäuden heraus, welche zu einem Großteil ebenfalls direkt in den steilen Berg gehauen waren. Als würden die Bewohner jederzeit einen Angriff durch unbekannte Mächte erwarten, erkannte man überall immer wieder hohe, von Zeit und Ruß geschwärzte Mauern, die durch hauchdünne Brücken miteinander verbunden wurden. Das beste Beispiel für diese Architektur war die zweitgrößte Stadt der Insel, Anvils Klamm, auf welche die Bussarde in ebenjenem Moment zusteuerten. Während die eigentliche Hauptstadt von Mountainegro mehr Einwohner ihr eigen nannte und die Regierung beheimatete, ein Rat bestehend aus Vertretern der erfolgreichsten Geschäftsleute vor Ort, war die Klamm doch die vor allem bei Touristen und Investoren beliebtere Stadt. Der Grund hierfür war vermutlich, dass Anvils Klamm kein Industriegebiet besaß, sondern das Industriegebiet war – auf jede Wohnung (niemand in Anvils Klamm besaß ein ganzes Wohnhaus) kamen so mindestens fünf Gebäude, die ausschließlich gewerblich genutzt wurden.
Ja, Anvils Klamm war eine Stadt für sich. Breite Straßen, perfekt für Transporte, wurden von verwinkelten, dreckigen Gassen gekreuzt. Ständig hielt sich hier ein unangenehmer Nebel aus Rauch und Dampf, der jedem Besucher und fast jedem Einwohner den Gebrauch einer Atemmaske aufzwang. Die Gebäude waren hoch und gut befestigt, und alles andere als gemütlich oder gar schön – zumindest für all diejenigen, die nicht auf den militärischen Charme einer Festungsstadt abfuhren. Und dann erst der Hafen… obwohl die Fischereiindustrie von Anvils Klamm praktisch tot war, da die umliegenden Gewässer durch all die abgeleiteten Verschmutzungen keinerlei Fische mehr besaßen, bohrten sich lange, steinerne Anlegestellen wie dürre Finger auf die hohe See, wo große Handelsgaleonen und Galeeren auf ihren Einsatz warteten.
Ebenda würde die Reise der beiden ungleichen Geschäftspartner beginnen, im dreckigen Hafen von Anvils Klamm. Zahara würde von dort aus den langen Weg hinauf ins Zentrum der Stadt nehmen müssen, an dessen nördlichem Ende sich Lyns Werkstatt befand. Noch immer war sich Kai nicht sicher, ob er die beiden Damen wirklich allein lassen sollte, doch war es unabdingbar, dass sich der Händler zunächst um die Einkäufe, sowie die Informationsbeschaffung kümmerte.
Aber apropos Zahara… wo blieb die eifrige Kapitänin eigentlich?

Zahara besaß sich ein letztes Mal im Spiegel und wand sich erst ab, als Saliet hinter ihr ungeduldig zu knurren begann.
„Ist gut, ist gut. Kleiner Tyrann.“, bemerkte sie trocken und kraulte das Tier hinter den Ohren. Sie hatte alles erledigt, was sie mit Kai zuvor noch besprochen hatte. Eine handschriftliche, ausführliche Liste mit Prioritäten und ungefähren Preisen befand sich in seiner Obhut (Zahara hatte Timmy herbeigerufen und ihm diktiert) und sogar die ersten Gedanken über Schiffs- und Crewnamen huschten durch ihren schönen Kopf, wenngleich sie das doch auf später hatte vertagen wollen.
Was sie selbst bekommen hatte war eine Adresse samt Wegbeschreibung. Kai wollte sich erst einmal um die Waffen kümmern und Zahara hatte kein Problem damit. Sie brauchten dringend das Geld und sie würde einem vernünftigen Deal womöglich nur im Weg stehen. Unser werter Schatzmeister sollte sein Metier ruhig alleine auskosten. Sie selbst hatte ja außerdem zu tun! Viele Treppen und Wege gab es zu erklimmen, bis sie an einer „kleinen, unscheinbaren Werkstatt mit rostbrauner Tür“ ankommen würde. Für einen Moment hatte sie sich gefragt, was für ein Bekannter das eigentlich war, der ihr Schwert reparieren sollte. Schmied, logisch. Verdammt guter Schmied, auch klar. Schmied mit Feingefühl für komplizierte Mechanismen. Zahara hatte sich den Griff der Waffe nämlich angesehen und hatte keine Ahnung, was es mit den ganzen Zahnrädern, Ketten und Schrauben auf sich hatte. Sie wusste, wie es funktionieren sollte und wie man damit tötete – aber das war es dann auch schon. Der ganze Rest entzog sich ihrem Wissen wie eine glitschige Schlange.
In wenigen Minuten würde das riesige Kriegsschiff ohne Namen und Ausstattung anlegen, seine Mannschaft würde an Land gehen, das Schiff mit dicken Seilen sichern und den Anker in das schlammige Ufer rammen.
Zahara hatte Timmy aufgetragen, ein Auge auf die Mannschaft zu haben. Sie sollten ruhig ihren Spaß haben, aber vorerst nicht an die große Glocke hängen, dass die Bussard Piraten angelegt hatten. Auch wenn die Marinepräsenz auf dieser Insel nonexistent war, konnte man nie wissen wo die Helfer in Blau ihre Augen und Ohren hatten. Ärger hatten sie selbst auszubaden und sollte jemand Ärger für die ganze Crew verursachen, würde Zahara sich später persönlich um denjenigen kümmern. Kai und sie selbst würden erst einmal alleine die Insel erkunden. Die große Einkaufstour musste zwar warten, bis Kai mit dem Geld antanzte, aber die nötigen Waren heraussuchen konnte man schon einmal. Zaharas oberste Priorität war selbstverständlich die Reparatur ihres Schwertes – genügend Geld für eine Anzahlung war noch vorhanden, doch alles was darüber hinaus ging überstieg ihr derzeitiges Budget. Eine Schande. Das wahrhaft Schlimme daran war allerdings, dass man es ihr sogar ansah. Sie trug einen zerrissenen Ledermantel, abgetragene Stiefel und eine Hose, die ihr nicht so wirklich zu sitzen schien – sie hatte eine schmale Hüfte und lange Beine und nachdem ihre alte Kleidung etwas... blutig geworden war, musste sie sich nun vorerst mit Müll begnügen. Oh, wie sie sich schon auf neue Kleider freute. Da konnte Kai sagen, was er wollte. Eher würde sie auf Kanonen verzichten.
Mit einem Schnalzen der Zunge ließ sie ihre gdân folgen, als sie über das Deck marschierte und gemeinsam mit Kai das Schiff verließ.
„Ich werde dann mal deinem Bekannten einen Besuch abstatten. Lohnt es sich, dort auf dich zu warten? Es dürfte eine Weile dauern, die ganzen Waffen an den Mann zu bringen, nicht?“, fragte sie den weißhaarigen Mann zu ihrer Linken, der vertieft in eine seiner Listen nur kurz den Kopf schüttelte, und besah sich dabei zum ersten Mal genauer die Stadt. Jedes einzelne Haus war entweder komplett in den Berg hineingehauen worden und glich fast schon einer Höhle oder war aus den Steinen desselben an dessen Rand erbaut. Zahara hatte so etwas noch nie gesehen und formte ihren Mund zu einem erstaunten >O<. Verglichen mit den Weiten, trostlosen Gebieten auf Gazierah und seinen verstreuten Holzhäusern war dies hier... der reine Wahnsinn. Wie konnten Menschen nur auf so engem Raum zusammenleben? Als sich Zahara diese Frage stellte, musste sie an die Wohnverhältnisse auf ihrem neuen Schiff denken und lachte leise über sich selbst. Dennoch... diese vielen kleinen Häuser, die belebten Straßen und die dreckige, rußige Luft bezauberten sie. Im Gegensatz zu Fort Geoff gefiel ihr dieser Ort hier. Die vielen Schmiedefeuer vertrieben die eisige Kälte des Meeres und verwehrten Schnee jeglichen Zutritt. Ein Blick nach oben offenbarte das gewaltige Schwarz des Berges, der bis über die Wolken reichte. Ob man dort hoch konnte? Zahara war noch nie oberhalb der Wolken gewesen.

„Der Himmel ist in zweischneidiges Schwert. Er gebietet Gehorsam und Demut, das Leben selbst verweilt und gebärt dort. Gnade und Tugenden erstrecken sich weit herauf, über den dunklen Schleier der Zwietracht. Du würdest verloren gehen in einer solchen Welt, Halt und Verstand verlieren. Du bist kein Kind der Lüfte, tsa'ara ualad qala. Kenne deinen Platz.“

Zaharas Herz schlug schneller, als sie blinzelte und den Blick endlich vom Himmel löste. Sie war stehen geblieben, hatte gestarrt wie ein unvernünftiges Kind. Kai war komplett ignoriert worden und auch jetzt widmete Zahara ihm keinen Blick mehr. Sie zog den Mantel trotz der aufkommenden Wärme enger, pfiff einen kurzen, schrillen Ton und machte sich auf den Weg.
Der Aufstieg Mountainegros war eine Mischung aus grob in den Stein gehauenen Treppen, steilen Wegen und unsicher wirkenden Brücken. Der Aufbau der Stadt war zweckmäßig, das hatte Zahara schnell erkannt. Häuser waren dort gebaut worden wo Platz war und eines benötigt wurde, die Menschen drückten sich aneinander in einem einzigen Sinn und Zweck: Geld verdienen. Der Bergbau beherrschte diese Insel und daraus wurde kein Hehl gemacht. Aus den Fenstern der Häuser wurden Waren angepriesen und erstaunlicherweise sah so gut wie alles davon gut aus. Kaum schlampige Arbeit oder verrosteter Stahl. Soweit Zahara das beurteilen konnte, war dies eine Insel der Qualität. Kein Wunder, dass Kai hier möglichst viel besorgen wollte. Zu ihrem eigenen Glück hatte sie auf ihrem Weg auch das ein oder andere Kleidungsgeschäft entdeckt, wenngleich es keine Schaufenster gegeben hatte. Ob es auch etwas anderes als Kettenhemden zu erstehen gab?
Nach fünfzehn Minuten anstrengendem Fußmarsch (die Bewohner dieser Stadt mussten über außerordentliche Beinmuskulatur verfügen) kam Zahara endlich an ihrem Ziel an. Im Zentrum der Stadt und dennoch etwas Abseits der größten Läden, genauer genommen in einer kleinen Seitenstraße, befand sich ihr Ziel. Rostbraune Tür. Aus dem Innern hörte man das dumpfe Hämmern eines Schmiedehammers. Mit kribbelnden Fingern und voller Erwartung drückte Zahara die Klinke herunter und trat ein.

Anvils Klamm hatte nichts von ihrem einzigartigen Charme verloren. Die Straßen waren noch immer dreckig von Ruß und Asche, die Straßen waren entweder überfüllt mit Transportkarren oder nicht mehr als winzige Gassen, die mit Glück einen halben Meter maßen, und alle Leute, auf die man traf, trugen einen Ausdruck grimmiger Entschlossenheit zur Schau.
Zwar gefiel Kai die Atmosphäre der geschäftigen Betriebsamkeit, von der die stickige Luft der Stadt erfüllt war, doch fehlte dem Händler eindeutig dieser gewisse Grad Wohlfühlbarkeit, die einem Besuch der Industriemetropole immer einen negativen Touch verpasste. Sicher, Kai war hier um zu handeln, und für dieses sein liebstes Hobby war die Stadt ideal geeignet. Wäre die Klamm allerdings ein wenig gemütlicher, mit etwas weniger Asche… Kai hätte sich sicherlich nicht beschwert.
Mit einem gemieteten Karren im Schlepptau, der von einigen Bussarden gezogen wurde und auf dem sich einige der Waffen als Präsentationsobjekte befanden, schlängelte sich der dürre Händler durch die Straßen. Immer wieder galt es anzuhalten, um den Matrosen Zeit zu geben, den Vorsprung des einzelnen Mannes mit ihrem Karren aufzuholen. Kai nutzte die Zeit, um die wenigen Schaufenster der Stadt zu begutachten, und manchmal sogar schon das eine oder andere Objekt von seinen Einkaufslisten zu streichen. Vor allem die Werkzeuge, die er für sich selbst wollte, erhielt man an praktisch jeder Straßenecke. Für Zaharas Instrumente würde er dagegen nach dem Besuch bei seinen Geschäftspartnern extra auf die Suche gehen müssen. Das gleiche galt, sollte Kai trotz der geringen Aussichten doch noch nach ein paar Möbeln suchen wollen.
Innerlich seufzte Kai. Es gab noch so viel zu erledigen, und doch wäre am liebsten jetzt sofort zum Schiff zurückgekehrt. Nicht, dass das noch namenlose Gefährt einen wirklich gemütlichen Aufenthaltsort abgab, doch es war besser, als trotz Schirm in der Hand unter einem unbarmherzigen Ascheregen zu leiden. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, dass es keine gute Idee war, die Crew in Timmys Obhut zu lassen, auch wenn der kleine Mann vermutlich keine Dummheiten anstellen würde. Andererseits, würde er die Crew daran hindern können, exakt dies zu tun?
So oder so war es besser, wenn die Einkäufe schnell erledigt waren. Hastig legte Kai einen Schritt zu, obwohl er wusste, dass sein Anhang ihn langsam aus den Augen verlor. Glücklicherweise war die erste Station ihrer Reise nicht allzu weit entfernt. Bereits an der nächsten Straßenecke konnte Kai stehenbleiben und seinen – oder besser Zaharas – Männern den letzte Richtungswechsel anzeigen, bevor er sich am Rand der breiten Straße zu einem spindeldürren Gebäude durchkämpfte.
Adrain Denkow, von Freunden und Bekannten auch gern Donnerbüchse genannt, war ein eigenwilliger Mann mit einem eigenwilligen Geschmack, was so ziemlich alles betraf. Wusste man das, so wunderte man sich auch weniger darüber, dass er sein Hauptgeschäft in einem viel zu schmalen Haus untergebracht hatte, das jedoch über insgesamt acht Stockwerke verfügte. Jedes dieser Stockwerke verfügt über eine Reihe schiefer Fenster, die trotz des ständigen Aschefalls glasklar waren. Dies war das erste Zeichen für das Geschick des Waffenschmieds: Der gute Denkow hatte Schmier- und Wartungsöle im Angebot, gegen die keine Asche der Welt eine Chance hatte, und die zu so viel mehr nützlich waren als nur für die Pflege von Schießeisen.
Gerade jedoch, als Kai das Geschäft mit breitem Grinsen betreten wollte, sah er durch exakt eines dieser klaren Fenster im Erdgeschoss des Ladens, dass sein Bekannter bereits Besuch hatte. Ein halbes Dutzend Marines hatte sich vor einem Ladentisch aufgebaut, hinter dem die pummelige Gestalt des Besitzers beinahe verschwand. Dank der lebendigen, weißblauen Mauer konnte Kai den Gesichtsausdruck des Waffenfetischisten nicht genau erkennen, doch die wilden Gesten des Mannes machten klar, dass im Geschäft alles andere als eine ruhige und freundliche Atmosphäre herrschte.
Rasch hetzte Kai seinen Anhang in eine der breiteren Seitengassen und postierte sich schützen vor der Ladung, bevor er sich etwas aus der Gasse wagte um darauf zu warten, dass die Marinesoldaten aufhörten, ihm seine Pläne schwerer als nötig zu machen. Zwar war sich Kai sicher, dass die schlimmste Möglichkeit – die Marine hatte Kais Rolle auf Fort Geoff erkannt und als Grund genommen, seinen Hintergrund inklusive aller Geschäftspartner zu untersuchen – auch gleichzeitig die unwahrscheinlichste war, doch es erschien ihm nichtsdestoweniger als eine eher schlechte Idee, einfach in den Laden zu platzen.
Wie’s aussieht führt an ein wenig Warterei kein Pfad vorbei. Ob die werte Frau Kapitän mehr Erfolg hat?

„Wie oft muss ich euch verdammten Idioten noch sagen, dass… argh!“
Zum dreiundzwanzigsten Mal an diesem Tag flog ein schwerer Schmiedehammer quer durch die Hauptarbeitshalle, wo er den Kopf eines der Hilfsschmiede nur knapp verfehlte. Für den geneigten Beobachter mochte dies auf mangelndes Zielwasser zurückzuführen sein; jeder der Anwesenden wusste jedoch, dass die pinkhaarige Chefin durchaus treffen konnte, wenn sie denn wollte. Wieso sonst sollte die Werkstatt über ein üppig ausgestattetes Krankenzimmer verfügen?
Mit einem gutturalen Ton zwischen Schnauben und Murmeln trat Lyn gegen den nächstbesten Haufen Metallschrott, der krachend unter dem zähen Leder ihres Stiefels nachgab. Sofort eilte einer der anderen Helfer heran und kümmerte sich darum, die Einzelteile wieder zu einem Berg zu formen. Wurde solcherlei nicht sofort erledigt, würde die Besitzerin der Werkstatt nur noch wütender werden, was zu mehr Unordnung führte, mehr Aufräumarbeiten, mehr Wut… ein typischer Teufelskreis eben. Trotz der dadurch im Laufe der Jahre entstandenen Sorgfalt ihrer Mitarbeiter hätte auch eine Hundertschaft die in der Halle herrschende Unordnung nicht beseitigen können.
Die Werkstatt, die noch heute den Namen von Lyns Vater trug und mit dem Slogan „Ballip’s Smithy – Bet your balls we can fix it!“ um Kundschaft warb, war schon lange über die Maße einer simplen Reperaturwerkstatt hinausgewachsen. Umgeben von vier Gebäuden, die teils als Lager, teils als Zuhause für Mitarbeiter fungierten, saß in der Mitte ein niedriges, dafür umso breiteres Haus, in dem sich Lyn Ballip als oberste Schmiedin und Technikerin um zahlreiche Aufträge persönlich kümmerte. In der ganzen Stadt war die junge Frau nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer hervorragenden Arbeit bekannt. Zwar konnte ihr Betrieb rein zahlenmäßig nicht solch große Aufträge stemmen wie ihre Konkurrenten, dafür war Lyn die erste Anlaufstelle, wenn es um ganz konkrete und persönliche Einzelanfertigungen ging. Qualität vor Quantität war schon das Motto ihres Vaters gewesen, und obwohl Ballip’s Smithy mit der Zeit gehen und etwas expandieren musste, blieb die gute Frau ihren geerbten Prinzipien doch treu.
Vielleicht viel aber gerade aufgrund der vergleichsweise geringen Größe der Hauptwerkstatt das Chaos umso mehr auf. Im Zentrum der Halle, die drei Viertel des Hauses ausmachte, stand ein gewaltiger Heizofen, in dem Metalle bis ins Detail veredelt wurden. Um dieses brennende, dampfende Ungetüm waren derweil zig Arbeitstische, Ambosse, Werkzeug- und Materialhaufen, Schränke, Truhen und so weiter verteilt, die allesamt der Gemeinschaft gehörten und von dem genutzt wurden, der sie gerade brauchte, wann er sie brauchte.
„Er“ mag in diesem Zusammenhang aber etwas irreführend sein, denn Lyn beschäftigte mindestens genauso viele Frauen wie Männer, auch wenn diese als solche manchmal nicht zu erkennen waren. Einheitskleidung in Form dunkler Kittel und schwerer Mützen, sowie keinerlei Sonderbehandlung des zarten Geschlechts machten die Unterscheidung nun mal schwierig.
Apropos: Gerade, als der von Lyn zuletzt umgestoßene Haufen wieder geordnet war, gelangte die Chefin zur nächsten Station ihrer täglichen Inspektionsrunde. Mit geübtem Auge schaute sie einem Neuzugang auf die Finger, einem jungen Mädchen von knapp 15 Jahren, das unbedingt ihrem großen Bruder nacheifern und ebenso Schmiedin werden wollte. Lyn hatte erlaubt, dass das Kind einige Wochen zur Probe arbeitete, ohne sich Hoffnung zu machen, dass das Ding wirklich Talent hatte. Tatsächlich war die Kleine jedoch fast so talentiert wie ihr Bruder, der nicht umsonst Vizechef einer kleinen Außenstelle des Betriebs in der Hauptstadt von Mountainegro war. Beide Tatsachen schützten sie jedoch nicht vor einem heftigen Klaps auf den Hintern.
„Halt die Zange nicht so verflucht schief. Gerade. Vertikal. Nein, nicht so, sondern… Hmpf! Ist das denn so schwer? Gott, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass…“
Trotz der fast ohrenbetäubenden Lautstärke in der Werkhalle hörte Lyn es sofort, als die Eingangstür des vorgelagerten Verkaufsraums geöffnet wurde und dabei eine metallene Glocke läutete. Erneut schnaubend stapfte sie sofort los, aber nicht ohne zuvor ihrer Schülerin einen bitterbösen Blick zuzuwerfen. Anschließend rauschte Lyn zielgerichtet wie eine Lok in den vorderen Bereich des Hauses, durch eine offene Schwingtür, hinter den breiten Schautresen, der einige durch Glas geschützte Exemplare ihrer Arbeit zeigte. Mit zu Schlitzen verengten Augen betrachtete sie die merkwürdige, dunkelhaarige Frau, und schnaubte ein verächtliches:
„Lesen ist nicht ihre Stärke, oder? Draußen steht’s doch: Kein Service ohne vorige Anmeldung. Verschwinden sie, bevor ich eins dieser Schätzchen noch benutzen muss.“
Ein gieriges Grinsen umspielte Lyns Lippen, als sie fast liebevoll über den Tresen strich, unter dem Klingenwaffen genauso wie Pistolen und Gewehre nur darauf zu warten schienen, ihrer Mutter dienen zu dürfen.

Zahara ließ einige Sekunden den Blick schweifen. Ein breiter Tresen zog sich quer durch den Raum, dahinter konnte man eine Schwingtür erkennen – das laute Hämmern und der Lärm der Schmiede dahinter war kaum zu überhören. Neugierig richtete die Frau ihre Aufmerksamkeit auf die ausgestellten Waffen. Sie konnte auf Hochglanz polierte Pistolenläufe und Klingen entdecken, in vielen davon waren aufwendige Gravuren eingearbeitet und selbst das dekorative Holz an den Griffen sah aus, als ob es mehr wert war als die handelsübliche Wumme, die man auf dem Markt erstehen konnte. Auch ohne große Kenntnisse über Schmiedekunst oder Handel erkannte Zahara sofort, dass an diesem Ort Qualität großgeschrieben wurde.
Es dauerte nicht lange bis der pinkfarbene Wirbelwind herein rauschte und ihrer Meinung sogleich lauthals Ausdruck verlieh. Mehr in Gedanken als bewusst hielt Zahara ihre Hunde ruhig (der Nachteil an solch treuen Tieren war der übertriebene Beschützerinstinkt – zeitweilens sehr nervtötend). Stattdessen besah sie sich die gute Lyn vom Scheitel bis zur Sohle – oder eher gesagt den Sicht-versperrenden Klingen. Bunte, kurze Haare in modischem Schnitt, etwas Dreck und Ruß im Gesicht aber dafür umso mehr Feuer in den Augen. Klobige, schmutzige Kleidung, Lederstiefel und Schürze – hässliches Zeug. Trotzdem... das Mädel sah verdammt gut aus.
„Bekannte? Aber klar doch...“, murmelte Zahara mit einem leichten Schmunzeln vor sich hin. Keine Chance, Kai. Die hast du doch... Nein, anders rum. Sie hat dich. Zahara konnte das Grinsen auch mit einem Kopfschütteln nicht vertreiben – ihrer zukünftigen, geschäftlichen Beziehung mit Fräulein Ballip half sie damit aber nicht gerade auf die Sprünge. Doch die gute Frau wollte Antworten haben – offenbar war sie ganz und gar nicht heiß darauf, Zahara zu bedienen. Fast schon unfreundlich wurde die exotische Frau hier behandelt – doch dieser machte das im Moment nicht viel aus. Das Schild gelesen... nun, das hatte sie tatsächlich nicht. Genauer genommen hatte sie es nicht einmal gesehen (wobei es zu lesen eine schwierige, schwierige Aufgabe gewesen wäre).
„Nun, das Problem ist das Folgende: Ich habe gehört, dass Sie der einzige Schmied auf dieser Insel sind, der mir bei meinem Problem weiterhelfen kann. Und das ist ein sehr, sehr dringliches Problem.“
Lyns Lächeln wurde breiter, als sie sich auf den Tresen nach vorn lehnte und es dennoch irgendwie schaffte, auf die größere Frau hinunterzusehen.
"Ich zähle bis drei, und wenn sie bis dahin nicht entweder weg sind, oder mir etwas gezeigt haben, dass die Warterei wert ist, dann packe ich sie in eine der Kisten hinten im Lager. Eins..."
Zahara konnte nicht anders als mindestens genauso breit zu grinsen. Tat Lyn das gerade tatsächlich? Nostalgisch erinnerte sich Zahara daran, wie sie selbst erst vor kurzem angefangen hatte bis drei zu Zählen und einem armen Wirt einen Haufen Alkohol über den Kopf geschüttet hatte.
„Ich mag sie. Sehr energisch. Sehr sympathisch. Hier.“ Zahara wickelte ihr Schwert aus einem rissigen T-Shirt und zog es aus seiner grauenvollen Scheide. Levass hatte keine gute Arbeit geleistet, aber wen überraschte das schon? Sie legte die Klinge auf den Tresen und enthüllte den zerstörten Mechanismus, schaffte es dabei aber Lyn nicht aus den Augen zu lassen.
Lyns Miene war zunächst weiterhin geprägt von Ungeduld und Spott. Recht desinteressiert musterte sie kurz die Klinge, bis ihr Blick dort hängen blieb, wo Federn, Ketten und Zahnräder zerstört offenlagen. Ihre Augen wurden automatisch groß und ihre Hände schossen vor, bevor sie sich eines Besseren besann und eine möglichst unbeeindruckte Maske aufsetzte.
"Hmpf. Na gut, na gut. Ein kaputtes Schwert. Ganz toll. Verkaufen oder reparieren?"
Fast schon zärtlich strichen die Finger Zaharas über die gepflegte Klinge. Trotz der Behandlungen Levass' konnte man weder Macken noch Kratzer erkennen. Das Weiten der Augen, dieses kurze Flimmern der Neugierde, unterstrichen durch die unruhigen Hände – all das machte die nachfolgende Maske vollkommen zunichte.
„Reparieren.“
Für den Bruchteil einer Sekunde war Lyn die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben, doch auch dieses Mal schaffte sie es wieder, ihre Gefühle zumindest teilweise mit einem schiefen Lächeln zu verbergen. Sie nickte kurz, betrachtete einige Augenblicke lang, wie Zaharas Finger über die blank polierte Klinge streichelten, und verkündete dann:
"Drei Tage, 15 Mios. Jeder Besuch vor Abgabetermin bedeutet einen Tag und 5 Mios mehr."
Daraufhin ließ Zahara ein helles, lautes Lachen ertönen. Fünfzehn Millionen? Erneut musste angemerkt werden, dass die Frau von Preisen relativ wenig Ahnung hatte, aber sie war intelligent genug um diese Zahl als totalen Humbug zu entlarven.
„Du – wir sind inzwischen beim Du angelangt, oder? Du würdest mir wirklich fünfzehn Millionen aus der Tasche ziehen? Oh man, ihr beide müsst euch ja hervorragend verstanden haben.“, sprach Zahara vor sich hin – weiterhin lachend, doch auf die Reaktion Lyns war sie durchaus gespannt. Ob sie auf den Kommentar einsteigen würde?
Das Lächeln der Schmiedin vertiefte sich zunächst, doch als sie begriff, dass Zahara ganz offenbar auf irgendetwas - oder besser: irgendjemanden - anspielte, verfinsterte sich ihr Blick.
"Du, hmm? Na schön. Ich weiß nicht, worauf -du- hinaus willst, aber eins sag' ich dir: 15 Mios sind der gängige Preis für Könnerschwerter. Dein Schrott kommt zwar, was die Klinge betrifft, nicht ganz auf dieses Level, doch dieser Mechanismus... was auch immer du damit angestellt hast, das wieder auszubügeln kostet. Das wird mir jeder Recht geben. Aber hey, wenn dir's nicht passt, dort ist noch immer die Tür." Mit ausgestrecktem, nackten Zeigefinger wies sie halb direkt auf Zahara, halb hinter sie.
Und so passierte es, dass Zahara eiskalt erwischt wurde. Ihr mangelndes Wissen war Schuld für den folgenden, verwirrten Gesichtsausdruck und die peinliche Frage, die nur Sekunden auf sich warten ließ.
„Könnerschwerter?“
Nun war Lyn an der Reihe, nach einem verdutzten Gesichtsausdruck offen und befreit zu lachen. Der Laut tönte klar durch den Verkaufsraum, über die Schwingtür hinweg in die Werkhalle, wo für einen kurzen Augenblick alle Werkzeuge ängstlich zu verstummen schienen, bevor das übliche Geklirre und Gehämmere von Neuem begann.
Als sich Lyn wieder einigermaßen beruhigt hatte, begann sie: "Hör' zu, Kleines. Da du ganz offenbar keine Ahnung von Waffen hast, was auf einer Insel wie Mountainegro leider tödlich sein kann, will ich dir nur zu deinem Besten einen Crashkurs in Sachen Klingen geben."
Ihr ausgestreckter Zeigefinger erhob sich erneut, wies diesmal jedoch auf die Wand links von Zahara. Diese war über und über mit vergilbten Werkplänen bedeckt, von denen jedoch einer als ganz besonders abgegriffen hervorstach.
"Es gibt auf der Welt viele Waffen, doch nur wenige, die das Prädikat legendär wirklich verdient haben. Diese besonderen Schwerter teilt man in vier Kategorien. Das dort drüben ist ein Königsschwert. Gibt nur 21 von der Sorte auf der ganzen Welt. Die zweitbeste Qualität. Könnerschwerter sind die viertbeste Qualität. 80 von den Dingern gibt es auf der Welt, und alle schlagen sie deinen Schrotthaufen hier, was allein die Qualität der Schneide angeht. Siehst du hier?"
Zunächst schien es so, als würde Lyn erneut nach der Waffe ihrer Kundin greifen, hielt dann jedoch gebührenden Abstand, während sie mit der linken Hand die Klinge auf und ab fuhr.
"Kein vernünftiger Schliff. Selbst bei minderbemittelter Wartung behalten Könnerschwerter ihre ganz persönliche Hamon, sprich Härtelinie. Das Ding hier? Selbst mit einer Lupe findest du keine Linie, geschweige denn eine vernünftige." Bevor Zahara reagieren konnte, hob Lyn verteidigend die Hände vor die Brust.
"Bevor du jetzt aber gleich ankommst und moserst, dass 15 Mios in dem Fall umso weniger gerechtfertigt seien: Trotz der fehlenden Hamon ist das Schwert insgesamt gut. Mehr als das. Ich würde sagen, dass sich hier jemand sehr, sehr viel Mühe gegeben hat, ein tatsächliches Könnerschwert zu kopieren. Er oder sie hat sich wirklich angestrengt, und auch, wenn es mit der Qualität nicht ganz geklappt hat, hätte das Stück in Hochform sicher den ein oder anderen Laienhändler von seiner Echtheit überzeugen können."
Zahara war still gewesen und hatte der Weisheit Lyns gelauscht. All das Gerede von Königs- und Könnerschwertern war neu für sie, aber gleichzeitig auch hoch interessant. Abgesehen davon, dass dieses Mädel definitiv wusste wovon sie sprach, betrachtete Zahara ihre eigene Klinge nun in einem anderen Licht. War dieses Stück Metall mehr als nur ein Teil ihrer Vergangenheit?
Es dauerte seine Zeit, bis sich Zaharas Augen von der Klinge lösten und wieder in die von Lyn blickten. Die nun folgende Frage war für sie von großer Bedeutung und ihre Stimme zitterte dabei sogar ein wenig – etwas, das bei Zahara nicht oft vor kam.
„Kannst du mir mehr über das Schwert erzählen? Wo es geschmiedet wurde, oder von wem? Irgendetwas?“
Kurz konnte man glauben, ein Flackern in Lyns Augen zu sehen, das jedoch genauso schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war. In ernstem, ungewohnt ruhigem Tonfall fuhr sie fort:
"Nur, dass die Dinger nicht alltäglich sind. Ich hab' hinten eine Art Archiv, wo Infos zu verschiedenen Waffen vergammeln. Kann sein, dass sich irgendwo dort was finden lässt. Ansonsten fällt mir spontan nichts ein. Tut mir Leid."
„Könntest du nachschauen?“ Man merkte sofort, dass Zahara Feuer gefangen hatte.
Die Waffenhändlerin seufzte laut, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. "Könnte ich. Aber das Ding ist nicht aufgeräumt. Dort etwas zu finden würde mindestens genauso lange dauern, wie dieses Teil hier zu reparieren. Apropos..." Fragend blickte Lyn ihre Kundin an. Einen Moment lang wirkte Zahara verwirrt, dann verstand sie den Wink und dachte auch zum ersten Mal wieder daran, dass es hier noch andere Dinge zu besprechen gab. Fakt war allerdings, dass sie nie und nimmer fünfzehn Millionen Berry würde bezahlen können. Irgendwie fühlte sie sich wie bei Kai – stets am Handeln. Es war ekelhaft.
„Ich kann dir keine fünfzehn Millionen bezahlen. Kai hätte mich aber nicht hier her geschickt, wenn wir uns nicht irgendwie einigen können.“
"...Kai?"
Kaum hatte Zahara den Namen ausgesprochen, verfinsterte sich Lyns Blick. Ihre Hände, bisher locker auf dem Tresen ruhend, krallten sich nun fest um den Rand, bis die Knöchel weiß hervor traten. "Kian Kai? Der hat dich...?"
Ohne ein weiteres Wort stürmte Lyn hinter dem Tresen hervor und platzte aus der Ladentür, um sich breitbeinig auf die geschäftige Straße zu stellen. Sämtlicher Verkehr kam zum Erliegen, als sich die temperamentvolle Frau hin und her drehte und brüllte:
"Kai, du elender Mistkerl! Hör auf, dich hinter diesem Flittchen zu verstecken, und komm raus! Zeig' dich, du verdammter...! KAI!!"
Als sich niemand auf die Schreie meldete, hastete die Schmiedin zurück in ihren Laden, baute sich vor Zahara auf und ließ demonstrativ ihre Finger knacken, die sich immer wieder aufs Neue zur Faust formten.
"Wo. Ist. Er?"
Was für eine himmlische Reaktion! Eine Bekannte! Dieser eine Moment machte all die Peinlichkeiten wieder wett. Als der schreiende Wirbelwind sich vor Zahara aufbaute waren es die beiden gdân, die sich ebenfalls in das Geschehen einmischten – aber irgendwie hegte Zahara einige Zweifel daran, dass sich Lyn von so etwas würde einschüchtern lassen. Problematisch war aber, dass Zahara selbst sich genauso wenig einschüchtern ließ – erst recht nicht, wenn sie gereizt war und beleidigt wurde. Ungute Mischung. Ihr Gesicht war zwar nicht so zornig wie das von Lyn, dafür aber eiskalt und todernst. Himmel, sie rückte ihre Nase sogar freiwillig näher an die des pinkfarbenen Teufels!
„Ich lass mich nicht gerne beleidigen.“, erklärte sie auf eine merkwürdige, ruhige Art und Weise.
"Und ich lasse nicht gern mit mir spielen." Mit einem knappen Nicken wies sie zu der noch immer auf der Theke liegenden Waffe. "Hat Kai dich dafür bezahlt, dass du das Ding für ihn reparieren lässt, oder tust du ihm den Gefallen aus... anderen Gründen?"
„Und ich spiele nicht mit dir. Diese Waffe gehört mir und ich will sie repariert haben, Kai hat damit nichts zu tun.“, sagte Zahara, sorgte aber noch nicht für Platz zwischen den Gesichtern der beiden Frauen.
Eine Weile sah Lyn ihren gegenüber noch angriffslustig in die Augen, dann endlich wandte sie sich ab und umkreiste mit einem Schulterzucken erneut den Tresen. "Natürlich, sicher", säuselte sie dabei zuckersüß. "Deswegen hast du den Guten auch erwähnt, nicht? Weil er so absolut gar nichts hiermit zu tun hat. Verkauf' mich nicht für dumm." Ohne einen weiteren Blick über die Schulter näherte sie sich der Schwingtür.
„Er hat mir gesagt wo ich dich finde. Gemeint, du könntest mir helfen und wärst eine Bekannte. Das ist – offensichtlich – etwas untertrieben.“
Kurz davor, den Raum zu verlassen, blieb Lyn doch noch stehen.
"Bekannte, hmm? Bekannte, Bekannte, Bekannte..." Lyn wiederholte das Wort einige Male, als könnte sie dessen Wert nur dann einschätzen, wenn es über ihre Lippen kam. Letztlich drehte sie sich um und postierte sich hinter dem Tresen.
"Was hat er dir denn gesagt? Dass ich dir das Ding gratis reparieren würde, wenn du nur seinen Namen aussprichst? Nach Bitte, das neue Zauberwort, "Kai"! Oder besser: Kian, öffne dich! Ja, das passt zu ihm."
Nun war es an Zahara, die Hände zu heben. „Hast du Schnaps und zwei Gläser in Reichweite?“
Zur Antwort ließ Lyn den Kopf sacken, bis er fast den Tresen berührte, bevor sie ihn mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen wieder hob.
"Komm mit nach hinten in mein Büro. Und nimm dein Schwert mit."
Auch Zahara ließ ein leichtes Lächeln sehen, krallte sich ihr Hab und Gut und folgte Lyn. „Man sollte während der Begrüßung schon anfangen zu trinken. Würde vieles einfacher machen.“

Eigentlich konnte es nur maximal eine Viertelstunde sein, die Kai recht ungestört mit seinen Männern in der dürren Gasse warten musste, bis die Marines endlich den Waffenladen verließen. Für Kai fühlte sich jedoch jede einzelne Sekunde wie eine ganze Stunde an, vergeudet an einen unglücklichen Zufall. Als ob er nicht wichtigeres zu tun hätte! Es gab noch so viel einzukaufen, die Crew galt es wieder aus Timmys Händen zu reißen, und wenn er auch noch Zeit finden könnte, Zahara und Lyn persönlich bekanntzumachen, würden die beiden Frauen sich vielleicht sogar nicht gegenseitig zerfleischen.
Aber nein, stattdessen trat Kai nun schon zum zehnten Mal frustriert gegen eine schmutzige Hauswand. Die Warterei hatte seine Paranoia leicht geschürt, denn wofür mussten sich Marines schon so lange mit einem Waffenhändler unterhalten? Normalerweise waren die Gesetzeshüter keine Verhandler, sondern setzten einen Preis fest, den der Verkäufer schlicht einhalten musste, wollte er sich keinen Ärger mit den Behörden einhandeln. So lange, wie die Marine also schon bei Adrian Denkow auf der Matte stand, musste doch mehr hinter diesem Besuch stecken, oder? Oder?
Entsprechend unsicher, ob er den Laden einfach so betreten sollte, war Kai, als die Handvoll Soldaten endlich das Gebäude verließen, sich mürrisch umschauten, und dann glücklicherweise in die entgegengesetzte Richtung davon trotteten. Damit war zwar die offensichtliche Frage nicht gelöst, doch es war eine kleine Erleichterung.
An die Wand gepresst, als wären die Marines keine einhundert Meter, sondern nur ebenso viele Zentimeter von ihm entfernt, schüttelte Kai irgendwann von sich selbst enttäuscht den Kopf.
Das ist doch albern. Die Chancen, dass sie so schnell meine Kontakte abklappern, nur weil ich womöglich an der Befreiung eines viel, viel gefährlicheren Kriminellen beteiligt sein könnte, von dessen Tod noch kaum jemand etwas weiß, sind äußerst gering. Genug gewartet.
Im Versuch, sein Inneres durch ein angepasstes Äußeres zu beruhigen, löste sich Kai aus der Gasse, strich sich seine Kleider glatt, räusperte sich, und bedeutete zuletzt seinen Männern, kurz auf ihn zu warten. Mit muskelbepackten Kerlen zu einer geschäftlichen Vorbesprechung zu erscheinen machte niemals einen guten Eindruck, ganz zu schwiegen davon, dass Kai auch Fragen erörtern wollte, nicht für Bussardohren geeignet waren.
Vor der Tür zur Adrians eigentümliche Laden blieb Kai nochmals stehen und betrachtete sich in dem spiegelnden Glas des Eingangsportals. Im Grunde konnte er nicht über sich meckern: Sein Kimonoartiger Mantel stand ihm wie eh und je, und wenn man einige vereinzelte Schlammspritzer vergaß, waren die Kleider zudem auch recht sauber. So hatte es also doch seinen Sinn gehabt, einen Regenschirm zum Schutz gegen die Asche mitzunehmen.
Sein Werkzeug zusammenfaltend öffnete Kai die Tür zur „Knatternden Büchse“. Adrian hatte seinen Laden in den Laden zehn Jahren sicherlich dreimal so oft umbenannt, sich vollkommen im Klaren darüber, dass das Neukundschaft eventuell verwirren könnte. Die gute Donnerbüchse hielt allerdings sowieso eher wenig von neuen Bekanntschaften, sondern konzentrierte sich vor allem auf seine Stammkundschaft, der er genauso treu war wie Zaharas Hunde ihrem Frauchen – mindestens. Für Kai war es entsprechend schwer gewesen, mit dem Waffenhersteller in Kontakt zu treten, doch nachdem die ersten drei Geschäfte der drei erfolgreich abgewickelt waren, durfte er sich des Status als Familienmitglied von Adrians großem Clan erfreuen.
Ja, auch unter Waffenherstellern gab es Familienmenschen, auch wenn Adrain den Begriff Familie ziemlich weit fasste; immerhin gehörte jeder seiner Stammkunden praktisch zur Familie. Gleichzeitig arbeiteten jedoch auch zahlreiche mit ihm blutsverwandte in der Fabrik, darunter drei oder vier Brüder, eine Schwester, zwei Onkel, vier Cousins, und sogar eine junge Nichte. Der Rest der Familie, Eltern, Großeltern und so weiter, lebte auf der anderen Seite des Ladens in einem ebenso großen Gebäude, das einzig und allein als Behausung für die Denkows diente.
Doch obwohl sich Kai über dies alles im Klaren war, überraschte es ihn doch immer wieder, wie überschwänglich Adrian seine Kundschaft empfing. Im einen Moment noch trat Kai durch die Tür, hob die Hand zum Gruß, und beobachtete einen leicht desorientierten Waffennarr, den der Besuch des Gestzes offenbar arg mitgenommen hatte. Im nächsten Moment erspähten Adrians Augen jedoch schon den Gast und leuchteten auf.
„Oh, Brrrüderrrchen Kai, was fürrr eine Überrraschung! Wie lange ist das jetzt schon herrr? Monate und Monate und Monate, aye? Komm, komm und setz’ dich, komm herrr, ich bin gleich zurrrück!“
Mit dieser Begrüßung begann das übliche Ritual der Familie Denkow. Mit einem Glas Schnaps in der einen und einem Teller mit trockenem Kuchen in der anderen Hand wurde Kai von Adrian sofort hinter den Tresen in die Hauptwerkstatt geführt, wo er einem Verwandte nach dem anderen präsentiert wurde. Alle hielten fröhlich in ihrer Arbeit inne, schlugen Kai mit großen Pranken die Luft aus den Lungen, und zerbrachen seine schlanken Finger mit zahlreichen Handschlägen. Als der schier endlose Weg durch die Manufaktur geschafft war und Kai endlich in Denkows geräumigen Büro saß, das mehr an einen Trödelladen denn an eine wichtige, verwaltungstechnische Schaltzentrale erinnerte, fühlte sich Kai wie durch den Wolf gedreht. Adrian schien sich dessen nicht bewusst zu sein, oder aber er glaubte, dass mehr Kuchen und Alkohol seinen Geschäftspartner schon wieder auf die Beine bringen würden.
Als sich die Stimmung im Zimmer endlich etwas beruhigte und Kai auch das letzte Krümelchen an gebackenem Sand vertilgt hatte, lehnte sich Adrian endlich in einer gewohnten Pose zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lächelte. Diesmal war seine Miene jedoch nicht wie zuvor von der Freude eines Mannes erfüllt, der einen verlorenen Bruder nach Jahren der Ungewissheit wieder zu Hause begrüßte. Stattdessen gleich sein Lächeln dem seines weißhaarigen Gegenübers, weshalb Kai nur allzu gut wusste, was Adrian dachte. Zeit für’s Geschäft.
„Nun“, hob Adrian als Gastgeber feierlich an. „Was führrrt die Totgeglaubten zurrrück in meine bescheidene Werrrkstatt?“
Kein weiteres Gerede, keine Freundlichkeiten, keine Geschwätz. Kai hätte beinahe laut vor Freude gejubelt, endlich erneut einem waschechten Händler gegenüberzusitzen, und nicht irgendwelchem einfachen Piratenabschaum. Oder einer selbstgerechten Fremdländerin.
„Nun“, wiederholte Kai in ebenso verschwörerischen Tonfall. „Was glaubst du, was mich hierher zurückführt? Ein Geschäft natürlich. Doch lass mich dir zunächst noch eine Frage stellen.“
Adrian zog eine Augenbraue hoch, bedeutete seinem Gegenüber aber mit einem knappen Handzeichen, fortzufahren. Zur Antwort lehnte sich Kai etwas vor, deutete mit seinem linken Daumen auf die Tür hinter sich, und flüsterte beinahe hinter vorgehaltener Hand: „Seit wann hat der große Donnerbüchsen-Denkow denn ein Möwenproblem?“

Der schwere Ledersessel war das einzige Möbelstück im Zimmer, das nicht aus Metall gefertigt war. Es wurde beherrscht von einem massivem Schreibtisch aus einer schwer zu identifizierenden, bleigrauen Legierung, und man konnte nur mutmaßen, wie dieser Koloss es ins Zimmer geschafft hatte, wo doch die einzige Tür wesentlich schmaler war als der Tisch breit.
An der Wand standen dagegen jeweils zwei hohe Aktenschränke, die links von einem offen aufgestellten Safe aus geschwärztem Stahl ergänzt wurden, rechts dagegen von zwei eisernen Schaukästen und einer notdürftigen Werkbank, auf deren Arbeitsfläche etliche Werkzeuge einfach so herumlagen. An was auch immer hier gearbeitet wurde, es war dank dem Werkzeughaufen nicht zu sehen. Zufall oder Absicht?
Hinter dem Schriebtisch stand zu guter letzt außer dem Sessel in einer Ecke eine Art Spind, der nur über wesentlich dickere Wände als die handelsüblichen Versionen verfügte. Seine Besitzerin öffnete die Tür, indem sie insgesamt drei Schlösser auf drei unterschiedliche Arten löste, bevor sie sich bückte und eine letzte Sicherung zwischen Schrankboden und Tür betätigte. Daraufhin öffnete sich der Schrank mit einem scharfen Quietschen und entblößte eine kompakte Privatbar, die über und über gefüllt war mit grünen, braunen und klaren Glasflaschen, manche bauchig, manche schlank, manche niedrig, manche hoch, manche voll, manche zur Hälfte geleert. Zwei Flaschen – eine fast leere grüne mit dunklem Inhalt, und eine klare volle mit golden glitzernder Flüssigkeit – landeten auf dem schweren Schreibtisch, gefolgt von zwei leicht angelaufenen Trinkbechern aus Messing.
Nach getaner Arbeit schlug Lyn ihren Schrank wieder zu, ließ sich auf ihren Sessel plumpsen, verschüttete nicht wenig der dunkleren Flüssigkeit beim Einschenken, und bugsierte schließlich ihre dreckigen Arbeitsstiefel auf dem Tisch.
„Bedien’ dich, Mädchen“, kam es dann von der wenig älteren Frau in Richtung Zahara. „Und fang’ so weit vorn mit deiner Geschichte an wie möglich.“

Zahara sah sich auf dem Weg ins Büro neugierig um. So eine Einrichtung wie in dieser Werkstatt hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen – fast alles was man finden konnte war aus Metall gefertigt worden. Stühle, Tische, Regale, alles. Deswegen war sie auch nicht wirklich überrascht, dass sich im eigentlichen Büro nicht viel verändert hatte. Etwas neidisch nahm sie den bequem aussehenden Sessel unter die Lupe. So ein Ding sollte sie sich dringend für ihre Kapitänskajüte anschaffen. Das knorrige, hölzerne Etwas, auf dem Levass seinen Alltag verbracht hatte, war eine Zumutung für jedes Gesäß.
Während Lyn mit kompliziert wirkenden Schlössern hantierte (ob sie ein paar der Sorte besorgen sollte um auf dem Schiff einige Sachen zu sichern?), bemerkte Zahara die fehlenden Sitzgelegenheiten. Ein riesiger Sessel – gut, der war für Lyn. Die gute Frau würde dahingehend wohl kaum mit sich reden lassen. Blieb für Zahara … der Boden? Ein umgedrehter Mülleimer? Blieb noch der merkwürdig angelaufene Tisch übrig. Mit den Schultern zuckend legte sie ihren Mantel ab und bugsierte sie ihren Allerwertesten auf das kalte Metall. Ihren Trinkbecher füllte sie mit der dunklen Flüssigkeit – die Wahl war sehr einfach gefallen. Eine leere Flasche schmeckte meistens besser als eine, die noch nie angerührt wurde. Vor allem dann, wenn der Gastgeber selbst danach griff.
Bevor Zahara auf Lyns Frage bzw. ihre eigene Geschichte einging, kippte sie erst einmal den gesamten Trinkbecher herunter. Der Whisky brannte in ihrer Kehle bis hinab in den Magen; schönes Gefühl. Anerkennend nickend griff sie erneut nach der Flasche und füllte beide Gläser. Irgendetwas sagte ihr, dass Lyn nicht weniger trinkfest war als sie selbst. Vermutlich würde sie Zahara zwei Mal unter den Tisch trinken, sollten sie es darauf anlegen.
„Meine Geschichte?“ Zahara musste sich erst einmal überlegen, was sie Lyn überhaupt erzählen konnte. Die gestohlenen Waffen sollte sie wohl besser geheim halten, der Rest? Dass Levass das Zeitliche gesegnet hatte würde wohl eh sehr bald die Runde machen (die Crewmitglieder waren schließlich gerade in einer Hafenkneipe am Bechern und tauschten sicherlich Geschichten über die neue „Kriegerprinzessin“ aus) und alles andere war sowieso harmlos.
„Fangen wir dort an, wo wir aufgehört haben.“, sagte Zahara und tippte auf die Klinge ihres Schwertes. „Ich hab das gute Stück eine ganze Zeit lang schon gesucht. Irgendwann hatte ich Glück, denn siehe da: Ich habs auf einem Steckbrief gesehen. Levass, Kapitän der Bussard-Piraten, hatte es sich unter den Nagel gerissen. Ich bin ihm bis nach Fort Geoff gefolgt – dort hab' ich dann Kai getroffen. Genauer gesagt steckte er in der Zelle neben mir.“, bemerkte Zahara grinsend und nahm einen großen Schluck. „War ein ziemliches Chaos dort. Hat man hier schon mitbekommen, was dort los war?“
Die Schmiedin nippte etwas abwesend an ihrem Drink, während sie Zahara über den Rand des Glases hinweg betrachtete und jedes Wort sorgfältig abzuwiegen schien. Letztlich schüttelte sie den Kopf.
"Nicht wirklich. Levass' letztes, großes Ding, das ist bekannt. Ein ganzes Schiff mit Waffen, gestohlen auf dem Weg zwischen zwei Marinebasen. Hmm, das erklärt auch, warum dieser..." Lyn bemerkte, wie sie abzuschwiefen drohte, und setzte neu an: "Außer der Geschichte sagt mir der Name eigentlich nichts. Piraten sind hier nichts sonderlich Spektakuläres, es sei denn, sie versuchen einem von uns ans Bein zu pinkeln.
Nah, egal. Du sagtest, du hättest... ihn... in einer Zelle getroffen. Dann lass' mich mal raten: Entweder er hat dich befreit, dafür aber einen Gefallen, ein Versprechen, oder sonstwas verlangt, oder aber du hast ihn befreit, weil er dir ein abstruses Geschäft angeboten hat."
„Ein bisschen was von beidem, würde ich sagen.“, antwortete Zahara lächelnd. Die gestohlenen Waffen waren wohl kein Geheimnis. „Levass hat mit seiner Crew die Marinebasis angegriffen. Du kannst dir also vorstellen, was dort für ein Durcheinander herrschte. Also sind wir zusammen geflohen – beziehungsweise weiter hinter Levass her. Kai wäre übrigens fast drauf gegangen – wurde von ner Kanonenkugel erwischt und unter nem Haus begraben.“, fuhr Zahara fort und trank einen weiteren Schluck. „Ich bin auf Levass' Schiff um mein Schwert zu holen und... naja, Levass ist Futter für die Haie, wie man so schön sagt. Kai und Ich haben die Kontrolle über das Schiff übernommen und sind hier her gekommen um aufzustocken.“ Das war sie also, die Geschichte von Kai und Zahara bis hier her. Grobfassung, klar, aber das alles hörte sich trotzdem schon ziemlich abstrus an.
Es war auffallend, dass Lyn ihr Gesicht genau in dem Augenblick hinter einem tiefen Schluck ihres Getränks verbarg, als Kais kleiner Unfall mit der Kanonenkugel zur Sprache kam. Für den folgenden Moment wirkten ihre Augen - dank des Alkohols? - recht glasig, bevor sie sich wieder fing, dem Rest der Geschichte zuhörte und zunächst eine Weile wartete, um alles zu verarbeiten. Schließlich seufzte sie:
"Eine rein geschäftliche Beziehung also, hmm? Was auch sonst. Das heißt er ist jetzt wieder Pirat? Co-Kapitän zusammen mit dir?"
„Die körperliche, emotionale Komponente gehört ganz allein dir.“, bemerkte Zahara zwinkernd. „Ja, so kannst du das ausdrücken. So – was genau ist nun eure Geschichte?“
Zur Antwort nahm Lyn einen weiteren, tiefen Schluck, bis ihr Becher leer war, bevor sie ihn quer durch den Raum warf, genau an Zaharas Kopf vorbei. Als wäre an diesem Benehmen nichts auffällig, kramte sie einen dritten Becher aus ihrem Tisch, füllte ihn mit dem braunen Gesöff, und leerte ihn mit einem Schluck zur Hälfte.
"Er war hier, dann war er weg, und jetzt verlangt er indirekt, dass ich für ihn die Drecksarbeit erledige. Das ist alles, was du über 'unsere' Geschichte wissen musst." Mit einem müden Nicken deutete sie dann auf Zaharas Waffe. "Das da, das sollte dir jetzt wichtig sein, oder? Das, und die Frage, warum ich es reparieren sollte."
„Ist es, ja.“ Zaharas Becher flog übrigens nicht durch den Raum sondern wurde auf herkömmliche Art und Weise wieder aufgefüllt.
"Na also. Gut, wie's aussieht, willst du sowohl ein repariertes Schwert, als auch Kopien von allem, was ich möglicherweise im Archiv über Waffen wie deine hab'. Und das zum Preis von... wie viel hat dir Kai erlaubt, auszugeben?"
Auf diese Frage schüttelte Zahara leicht den Kopf. „Ich glaube, er hatte das als Freundschaftsdienst verbucht.“ Nachdem sie das gesagt hatte, musste sie sogar selbst darüber ein bisschen lachen. „Weißt du, wärst du ein Kerl wäre die Sache sehr viel einfacher.“
Auf dieses indirekte Angebot hin schmunzelte Lyn, bevor sie leichthin sagte: "Keine Ahnung, von was du da sprichst. Es sieht ihm aber definitiv ähnlich, kein Geld zu verlangen, um so den besten Profit zu erzielen. Viel für nichts. Tja, so einfach wird das nichts. Ich sag' dir was." Lyn nahm einen weiteren Schluck, sodass ihr Becher erneut leer war, jedoch füllte sie ihn diesmal nicht erneut. Noch nicht. "Ich repariere deine Waffe. Ich suche deine Unterlagen. Und ich beeile mich auch noch. 24 Stunden harte Arbeit, und es kostet dich nicht einmal einen einzigen, müden Berry."
Erst hoben sich Zaharas Augenbrauen an, dann die Mundwinkel. „Du hast viel Zeit mit Kai verbracht, hm?“
Das Gesicht der Schmiedin verfinsterte sich kurz. "Nicht nur unser weißhaariger Freund versteht was von Geschäften. Geld ist nicht das einzige, womit man handeln kann. Das weiß jeder."
„Oh, das ist mir durchaus bewusst.“, sagte Zahara und rutschte auf dem Tisch ein wenig näher an Lyn heran – ein bisschen Spaß muss sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein!
Lyn rollte mit den Augen, lächelte aber trotzdem. Dann fixierte sie Zahara: "Als Gegenleistung lässt du mich nicht nur diesen einen ganzen Tag lang in Ruhe, sondern tust mir auch einen Gefallen, wenn auch keinen solchen."
Zahara zog eine gespielte Schnute und zuckte mit den Schultern. „Sicher? Schade. Was kann ich dann für dich tun?“
Die Waffenhändlerin atmete einmal tief durch, dann nahm sie die klare Flasche und leerte sie mit einem Zug bis zur Hälfte.
"Du schickst Kai hierher, um zu bezahlen. Sag' ihm, dass ich eine Million Berry von ihm will, und zwar nur von ihm. Persönlich. Wenn er dann hier ankommt, schicke ich einen meiner Jungs los, der dir das Schwert und die Infos auf dein Schiff bringt. Anschließend verduften du und deine Piratenfreunde von hier."
„Ich werd's ihm ausrichten. Eine Sache aber: Gib Schwert und Infos Kai in die Hand, nicht irgend einem deiner Laufburschen.“, antwortete Zahara. Sie wollte irgendwie gar nicht, dass so eine wertvolle Fracht (zumindest für sie) in irgendwelchen fremden Händen durch diese Stadt wanderte.
Für einen Augenblick weiteten sich Lyns Augen, dann schüttelte sie den Kopf. "Du verstehst offenbar nicht, was ich von dir will. Mein 'Laufbursche' bringt dir beides, und dann verschwindet ihr sofort. Ohne Kai."
Nun folgte eine sehr einfache und simple Antwort: „Nein.“
Zum ersten Mal seit dem gesamten Gespräch nahm Lyn ihre Stiefel vom Tisch, ja stand sogar auf und legte beide Hände zu Fäusten geballt auf den Tisch.
"Wieso nicht? Du kriegst deine Waffe und wertvolle Informationen umsonst. Und sag' mir jetzt nicht, dass Kai ein so großer Verlust für deine Crew wäre. Ja, gut, er kann mit Zahlen, aber hast du ihn schonmal kämpfen sehen? Oh, und ich weiß ja nicht, wie lange du schon mit ihm unterwegs bist, aber glaub' mir: Früher oder später wird er dir auf die Nerven gehen. Er wird dir vorschrieben, wann du dir was kaufen darfst, und solltest du dich nicht daran halten, fängt er an, Geld zu unterschlagen."
Lyn war zwar aufgestanden, aber Zahara hatte sich nicht gerührt. „Das werde ich im Hinterkopf behalten. Kai ist mein Problem. Ein Problem, von dem ich derzeit sehr profitiere. Sollte sich das irgendwann ändern, ändert sich auch meine Einstellung ihm gegenüber. Derzeit aber bleibt er Teil meiner Crew und das steht nicht zur Verhandlung.“, sagte Zahara mit todernstem Tonfall. Diese Entscheidung war ihr übrigens nicht leicht gefallen. Informationen über das Schwert und damit auch sie selbst waren im Moment wie ein heiliger Gral für sie. Ihr war aber auch bewusst, dass es für sie derzeit noch unmöglich war, ein Piratenschiff ohne Kais Hilfestellung zu führen.
Gedankenlos spuckte Lyn in eine Ecke des Zimmers. "Du profitierst also von ihm? Wie? Sag' mir, was er für dich tut, dass du nicht allein könntest. Und wenn wir schon dabei sind: Was passiert, wenn du seine Hilfe nicht mehr brauchst?“
Wann und ob dieser Punkt kommen würde? Derzeit hatten Zahara und Kai eine Geschäftsbeziehung – der Frau war zwar bewusst, dass Kai sein eigenes Interesse immer als erstes sehen würde, aber sie selbst war nicht anders. Gut also, dass das Interesse der beiden ungleichen Menschen ein und dasselbe war. Zumindest für den Moment.
„Versteh mich nicht falsch, ich mag dich. Ich kann auch gut verstehen, wenn du unter dich und Kai endlich einen Schlussstrich ziehen willst. Ich werde mich allerdings nicht vor dir rechtfertigen, warum Kai ein Teil meiner Crew bleiben wird. Denn so Leid es mir auch tut, das geht dich einen Scheißdreck an.“, sagte Zahara mit inzwischen eisiger Stimme. Das hin und wieder auftauchende Lächeln von zuvor war in weiter Ferne am Horizont verschwunden, stattdessen erinnerte die Frau aus Gazierah wieder an die Person, dessen Hunde auf Fort Geoff ohne weiteres zwei Marinesoldaten getötet hatten. Aporpos: Diese hatten den Stimmungswandel ihres Frauchen wahrgenommen und verharrten ruhig, aber sehr aufmerksam neben dem Metalltisch.
In dieser Ruhe vor dem Sturm war umso besser zu hören, wie das Leder von Lyns Handschuhen knarzte, als die Frau ihre Finger immer wieder und wieder zur Faust ballte.
"Es geht mich also einen Scheißdreck an, wenn er mit irgendeiner dahergelaufenen Zicke wieder Pirat spielt, und dabei gleich am ersten Tag beinahe von einer Kanonenkugel den Schädel weggepustet bekommt? Na dann entschuldige die Frage! Ganz offenbar hältst du nicht nur viel von ihm, sondern kannst auch noch richtig, richtig gut auf ihn aufpassen!"
Zaharas Hand zuckte sehr schnell nach vorne und ein lautes Klatschen füllte den Raum, als sie die Wange Lyns traf. „Komm wieder runter. Dir passen Kais Entscheidungen nicht? Fein, klär' das mit ihm. Solange er danach wieder mit mir kommt, ist es mir scheiß egal was du mit ihm machst.“
Mit hochrotem Kopf hob Lyn ihre Rechte und holte aus, doch anstatt auf den vorlaute Gast einzuprügeln, traf ihre Faust den massiven Schreibtisch. Als sie die Hand nach einiger Zeit wieder wegnahm, konnte man eine deutliche Beule in der Tischplatte sehen. Spätestens jetzt waren alle Fragen geklärt, wieso das Mobiliar größtenteils aus Metall war.
"Gut... Gut! Na gut! Schön! Wie auch immer! Ich rede mit ihm, dann... sehen wir weiter. Aber es bleibt dabei! Er holt die Sachen ab. Du hältst dich raus."
Mehr konnte Zahara im Moment wohl nicht verlangen. Sollte das alles glatt laufen – umso besser. „Glaub mir, ich hab kein Interesse daran, zwischen euch beide zu geraten. Wobei... Hmh.“ Die Frau löste sich von ihren Gedanken und blinzelte kurz. „Wann soll ich ihn vorbei schicken?“
Dieses Mal ließ Lyn jedes Lächeln vermissen. Stattdessen fuhr sie sich mit einer Hand über das leicht verschitzte Gesicht und murmelte zwischen ihre Finger hindurch:
"Selbe Zeit wie heute. Wie spät ist es eigentlich? Zwölf? Kurz nach... Nein, Punkt zwölf. Und keine Minute später."
Zahara nickte zur Antwort nur, leerte ihr Glas und schwang sich vom Tisch. Ohne große Worte ging sie zur Tür, drehte sich aber noch einmal um, ehe sie hinaus trat. „Wir hätten viel Spaß gehabt, Lyn Ballip.“ Zahara hob noch ein letztes Mal die Hand zum Gruß und verließ diese allzu merkwürdige Werkstatt mitsamt ihrer mindestens genauso merkwürdigen Besitzerin.

Nachdem Zahara die Werkstatt Lyns verlassen hatte, sah sie sich erst einmal planlos in der Gegend um. Vom Himmel regnete es kaum erkennbar Asche, die sich aber in Massen auf der Kleidung ablegte und spätestens dann auffiel, wenn man plötzlich einer neuen Minderheit angehörte. Was ihr in just diesem Moment noch bewusst wurde: Ihren Mantel hatte sie im Büro der pinkhaarigen Frau liegen gelassen. Nun, dort sollte er wohl auch verharren. Ohne ein richtiges Ziel begann Zahara durch die Straßen Anvil Klamms zu gehen. An das helle Knallen der Schmiedehämmer hatte sie sich längst gewöhnt. Außerdem war es eine angenehme Abwechslung, nicht ständig angegafft zu werden. Die engen, verschlungenen Wege zwischen Steinbauten und dem Berg selbst waren nämlich entweder so gefüllt, dass Zahara nicht auffiel, oder komplett leer gefegt.
Die Frau hatte sich vorgenommen, in einem weitläufigen Bogen zurück zum Schiff zu gehen und dort auf Kai zu warten – der war mit seinen Geschäften nämlich mit Sicherheit noch nicht fertig. Auf dem Weg dorthin konnte sie auch nach einigen Kleidungsgeschäften Ausschau halten. Da eine Anzahlung bei Lyn nicht nötig gewesen war musste Zahara das nicht auf später verschieben.
Nach einigen Minuten passierte sie ein spärlich bestücktes Schaufenster und sah sich traurig ihr Spiegelbild an. Ihre Haare waren verfilzt, die Haut dreckig und ihre Kleidung zerrissen. Sie sah zwar noch immer verdammt gut aus – aber das auf eine Art und Weise, die selbst Bergarbeiter wie Könige aussehen ließ. Zahara reihte sich eher zu den Pennern in der Gosse ein und das gefiel ihr überhaupt nicht – viel eher sorgte es für einen stark definierten Würgreflex. Die Spiegelung mit erhobenem Kopf hinter sich lassend, ignorierte sie auch das dazugehörige Geschäft Robust. Solide. Klaufersch'e. Auf die gleiche Art und Weise passierte Zahara Claudettes unpassendes Sortiment und Des Bergarbeiters Fundgrube, bis sie schließlich bei Leatherman's Wife Halt machte – im Schaufenster waren so viele tote Tiere ausgestellt, dass Zahara sich einfach nicht dazu durchringen konnte, weiter zu gehen.
Die Tür öffnete sich mit dem allseits bekannten Glöckchen und der Blick der Frau fiel auf ein großes Sortiment an Ledermänteln, -Hosen, Hüten und Pelzen. In den hinteren Ecken fand man einfache Jeans, Unterwäsche und T-Shirts, die Hauptattraktionen waren aber definitiv die Kleidungsstücke in der Mitte des Geschäfts. Ein groß gewachsener Mann mit stark gegelten Haaren trat hinter einem überfüllten Hutständer hervor und begrüßte Zahara freundlich.
„Willkommen, meine edle … Dame!“ Zumindest war er freundlich, bis er sich seinen Kunden genauer angesehen hatte. Er hob sich die Hand vor den Mund und hüstelte gekünstelt. „Vielleicht haben sie sich verirrt? Wir bei Leatherman's Wife sind... seeeehr erfreut darüber, sie als Kunden begrüßen zu dürfen!“ Zahara schüttelte innerlich den Kopf, als sie das Geld wieder zurück in die Hosentasche steckte. Sie befahl ihren gdân neben der Tür zu warten und machte sich auf einen ersten Streifzug durch den Laden.
„Suchen sie etwas bestimmtes? Wir haben hervorragende Pelzmäntel, die sie selbst bei den aktuellen Schneestürmen schwitzen lassen, qualitativ hochwertige Lederhosen, die ihnen ausgezeichnet stehen würden, wenn ich das anmerken darf, oder in dieser Ecke einige der neusten Schöpfungen unseres privaten Designers, Angelo Alberto Anaffarello.“
Zahara sah sich erst einmal weiter um, bevor sie auf den schleimigen Anhang einging, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. So ganz traute er ihr wohl doch nicht. Gesundes Misstrauen. Guter Mann.
„Wir haben einiges zu tun. Fangen wir bei der Unterwäsche an?“

Knapp zwei Stunden später verließ Zahara den Laden wieder – schwer beladen und ohne einen weiteren Berry in der Tasche. Neben grundlegenden und vor allem einfachen Kleidungsstücken hatte sie sich auch einige Besonderheiten gegönnt, wie beispielsweise ein klassisches Piratenoutfit. So etwas trug man doch auf hoher See als Freibeuter, nicht? Zahara hatte sich im Laufe ihres Shopping-Wahns eingestehen müssen, dass AAA vielleicht kein berühmter Designer war, ihren Geschmack aber vollkommen getroffen hatte. Outfits wie dieses befanden sich nun genauso in Zaharas Besitz wie Hüte oder Schals aus Fuchs. Wer wusste denn schon, wann man mal wieder nobel aussehen musste, so als Pirat auf hoher See... in Ordnung, der Verkäufer war wirklich nicht schlecht gewesen. Zaharas Lieblingsstück hatte sie direkt gegen ihre alten Fetzen getauscht und angezogen. Schwarzes Leder, Sexy, ein Haufen toter Tiere. Was wollte Frau mehr? Der Kamm aus Büffelknochen oder die Pfeife aus Mahagoni war vielleicht nicht nötig gewesen, aber machte den Kohl dann auch nicht mehr fett.

Zurück auf dem Schiff fand Zahara nur einen Teil der Mannschaft an. Timmy hatte einige seiner Lieblingsmatrosen auf ein Bier in der Hafenkneipe eingeladen und Kai hatte auch ein paar für seine Geschäfte eingespannt. Der erbärmliche Rest musste das Schiff hüten und verbrachte die Zeit mit dem letzten Rest Alkohol und Kartenspielen. Zahara konnte sich nicht so recht entscheiden, ob sie es als Kompliment oder Beleidigung auffassen sollte, dass sie von einigen der dümmlicheren Matrosen nicht sofort erkannt worden war. Einer hatte tatsächlich gepfiffen!
Sie verstaute ihre Einkäufe in ihrer Kabine, drehte sich eine Zigarette und hatte es sich dann zum Plan gemacht, diese Taugenichtse an Deck für etwas nützliches einzuspannen. Das Schiff war in miserablem Zustand. Die Segel hatten Löcher und Löcher im Holz – sowohl groß als klein – sorgten für einen traurigen Anblick. Um das alles Reparieren zu lassen wäre ein Zimmermann notwendig gewesen, aber wenn Zahara auf diesem Kahn über die Weltmeere fahren würde, sollte er ihr auch angemessen sein. So zumindest war ihr Gedankengang, als sie die Mannschaft Stoffe und Holzbretter aus dem Inneren des Schiffes zusammentreiben ließ. Irgendwelche alten Fässer konnte man immer zu Ersatzteilen verarbeiten – die Nägel wurden dann sogar mitgeliefert. So kam es, dass ziemlich schnell Hektik und Betriebsamkeit auf Deck aufkam, denn Zahara bellte ihre Befehle mit einer Autorität über das Schiff, die ihres Gleichen suchte.

„Weiter… weiter… perfekt!“
Kai hielt noch immer nicht viel von den geistig etwas minderbemittelten Bussarden, doch den Waffen wagen hatten sie schnell und effizient in den hinteren Teil von Adrians Geschäft gebracht, so viel musste man ihnen lassen. Die Männer des Waffenhändlers wiederum machten sich sofort über die Stücke her, zwei mit Listen, fünf mit bloßen Händen. Kai kümmerte sich nicht weiter darum, sondern erfreute sich stattdessen an dem Gewicht von runden neun Millionen Berry, die in zahlreichen Scheinen, verpackt in zwei Sicherheitskoffer, an jeweils einem Handgelenk baumelten. Die volle Summe für die Probeladung, in guter Hoffnung, dass Kai auch den Rest liefern würde. Wenn das nicht Ehre unter Geschäftsleuten war, was dann?
Die Koffer und seine Männer im Schlepptau, welche noch einige Klingen so herumtrugen, die als Probestücke für den nächsten Anlaufpunkt der Meute dienen würden, lies Kai den Besuch bei Adrian Denkow im Geiste nochmals Revue passieren. Insgesamt war die gesamte Transaktion hervorragend verlaufen, zumindest nachdem Kai Adrian davon überzeugt hatte, mit dem kleinen Hinweis auf ein Möwenproblem keine bösen Absichten zu hegen.
Ein wenig mehr rhetorisches hin und her, und Adrian hatte tatsächlich ausgespuckt, dass die Marines nur für eine Bestellung hier waren, mit der Adrian jedoch völlig im Zeitplan lag. Offenbar waren die Marines selbst unter Druck – vielleicht, weil die von levass geklauten Waffen noch immer nicht aufgetaucht waren?
Darüber ließ sich jedoch nur mutmaßen, da Adrian weder von den Marines, noch auf der Straße auch nur ansatzweise etwas davon gehört hatte, dass Kai oder Zahara bereits gesucht wurden. Offenbar machten sich Arnold Benedicts Verschleierungstaktiken nun auch für die frischgebackenen Piraten bezahlt; der Kommandant der Marinebasis von Fort Geoff würde sich erst um sich selbst kümmern müssen, bevor nach den beiden Flüchtlingen gesucht werden konnte.
So weit, so gut. Noch suchte die Marine also nicht nach den Bussarden. Was bedeutete das? Nun, zunächst schien der Drang, in Begleitung der Piraten zu bleiben, nicht so groß wie wenn die Behörden bereits auf der Suche nach einem weißhaarigen Händler und seiner fremdländischen Begleiterin wären. Das allein änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass beide in der Begleitung der Bussarde auf Dauer besser aufgehoben wären. Früher oder später würden Kais und Zaharas Namen fallen, und in diesem Augenblick wollte Kai lieber von Muskelpaketen umringt sein, als allein auf weiter Flur zu stehen.
Ob Zahara das genau so sah? Nun, zur Sicherheit würde Kai die Details des Ermittlungsstands erst einmal für sich behalten. Alle Trümpfe auf den Tisch zu legen war nur selten eine gute Idee. Vermutlich würde die Dame aber auch allein mitbekommen, dass sie als Einzelperson noch nicht in wirklicher Gefahr schwebte. Andererseits glaubte Kai bereits zu wissen, dass die Dame deshalb nicht sofort Reißaus nehmen würde; dafür hatte es ihr viel zu viel Spaß gemacht, die Bussarde umherzujagen. So kurzsichtig und aufbrausend die Frau auch war, sie war durchaus ein Führungstalent, und schien Untergebene unter sich auch einfach zu brauchen. Warum sonst sollte sie denn ständig diese Hunde bei sich haben?
Doch genug zu Zahara und den Bussarden, zumindest was ihre Bedeutung im Bezug zur Marine anging. Von dieser Angelegenheit würde sich Kai zunächst abwenden können, womit zwei viel direktere Fragen im Raum standen: Wo verkaufte Kai nun am besten seine Klingen, und würde er mit dem Geld tatsächlich alles kaufen können, was er und die Crew in nächster Zeit dringend brauchten?
Kai blieb überrascht stehen, als er bemerkte, dass er die letzten Schritte automatisch zurückgelegt hatte, ohne darüber nachzudenken, wo er eigentlich hinwollte. Den Kopf in den Wolken, hatten seine Füße ein Eigenleben entwickelt und ihn dorthin geführt, wo er insgeheim sowieso zuerst nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss hatte suchen wollen.
„K-K-Kai, bist… bist du das?!“
Noch ehe er sich hatte umdrehen können, heftete sich bereits ein stürmisches Federgewicht an seinen dürren Körper und drückte ihn mit einer Kraft, die für so einen kleinen Körper völlig unglaublich war.
„Tonellia, ich…“
Sofort legte sich ein blasser Finger auf Kais Lippen.
„Sch… ganz still… du warst doch nicht… du warst nicht zuerst bei dieser… dieser Frau, oder?“
Dass Kais Augen in der Regel zu Schlitzen verzogen waren, hatte den eindeutigen Vorteil, dass der Händler unbemerkt mit den Augen rollte, wann immer er wollte. Mit möglichst ruhiger, fast sanfter Stimme sagte er, während seine Arme die enge Umarmung der kleinen Frau zu erwidern versuchten:
„Nein, ich war noch nicht bei Lyn, Toni. Ich wollte zuerst…“
Zu mehr reichte die Luft in Kais Lungen nicht, als sich der Klammergriff der Frau unversehens noch verstärkte. Im nächsten Moment wurde Kai dann auch schon unter den teils verwunderten, teils anerkennenden Blicken seiner menschlichen Packesel in das nächstgelegene Haus gezerrt, über dem ein klingenförmiges Schild mit einem filigranen Schriftzug prangte:
„♥ Tonellias Talware & mehr ♥“

Sehr, sehr oft war Kai in den letzten Tagen zwischen zwei Gefühlen hin und hergerissen gewesen, doch keines dieser Male war mit dem Moment zu vergleichen, als er kraftlos, aber mit mehr Geld aus der Tasche als zuvor aus Tonellias Laden stolperte. Der leise Verdacht, für mehr bezahlt worden zu sein als die Klingen, die Kai erfolgreich verkaufen konnte, war eine merkwürdige Vorstellung. Nicht unbedingt widerlich-merkwürdig, aber doch… gewöhnungsbedürftig-merkwürdig. Speziell eben. Eine Erfahrung für sich. Ja, das traf es ziemlich genau.
15 Millionen Berry. Soviel hatte Kai tatsächlich herausschlagen können. Genau genommen sogar 15,5 Millionen, doch die zusätzliche halbe Million verbuchte er als persönliche Spesen, weshalb sie gedanklich bereits bei den acht Millionen an Deck des noch namenlosen Schiffes lagen.
Trotz der gewaltigen Geldmenge, die Kai nun bei sich hatte, war der Händler ganz und gar nicht beunruhigt; im Gegenteil: Das zusätzliche Gewicht an beiden Armen verschaffte ihm eine Genugtuung, die er schon lang nicht mehr hatte genießen dürften. Die Euphorie, die einen nach einem erfolgreichen Geschäft durchströmte, war mit keinem anderen Glücksgefühl zu vergleichen. Gut, vielleicht mit einem anderen, aber… nein, leider kein aber.
Noch breiter lächelnd als sonst trat Kai zurück auf die Straßen von Anvils Klamm, wo er endlich dem zweiten großen Teil seiner Aufgaben nachgehen konnte: Dem Ausgeben des soeben verdienten Geldes. Waffen, Lebensmittel, Laborgeräte, Werkzeuge. Vier große Teilbereiche eines langen Einkaufszettels, gekreuzt hier und da von Ideen für mögliche Möbel- und Kleidungsstücke, sowie anderen Luxusartikeln. Noch immer war sich Kai nicht sicher, ob er alles auf der Liste am Ende des Tages würde abhaken können, doch die letzten beiden Geschäfte stimmten ihn rundum zuversichtlich.
Mit dieser besten aller Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einkaufsbummel machte sich Kai auf die lange Reise durch die verwinkelten Straßen von Anvils Klamm. Zwar hatte er noch immer einige der Bussardpiraten im Schlepptau, doch ohne die zusätzliche Last konnte sich Kai auch in dieser kleinen Gruppe hervorragend durch die Massen bewegen. Was nicht bedeutete, dass er die ganze Zeit niemanden angerempelt hätte; einmal sogar hätte ihn ein Kerl in schwarzem Mantel mitsamt passendem Hut fast umgerannt. Insgesamt legte das Grüppchen jedoch eine ziemlich gute Geschwindigkeit an den Tag, was Kai ermöglichte, entsprechend mehr Läden in kürzerer Zeit abzuklappern.
Das Ergebnis hiervon lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Rabatt. Mehr Zeit für mehr Läden bedeutete eine bessere Möglichkeit, Preise zu vergleichen, sich ein Bild vom Markt zu machen und Händler anhand dessen unter Druck zu setzen, um möglichst optimale Preise zu erzielen. Kai bedauerte zwar, dass seine selbst zu Bestzeiten eher schlechten Kontakte im Nicht-Waffenhandel über die Jahre praktisch versiegt waren, trotzdem konnte er hier und recht zufriedenstellende Schnäppchen verbuchen. Zu diesen gehörte ein besonderes Paket Kanonen, dreißig an der Zahl, die als Bündel zu einem waghalsigen Preis von neun Millionen verkauft wurden. Kai war zunächst skeptisch gewesen, doch ein wenig Smalltalk hatte ergeben, dass die Waffen von eher zweifelhafter Herkunft waren. Genaugenommen hatte ein anderer Waffenschmied sie für einen Piraten hergestellt, der sie jedoch niemals abholen konnte, weshalb er nun schon längere Zeit auf ihnen saß. Der Gedanke, dass Kai damit womöglich Kanonen zu einem Schnäppchenpreis ergatterte, die der gute alte Levass zu Lebzeiten bestellt hatte, ließ das Weißhaar lange schmunzeln. Die Chance, dass es tatsächlich so war, war zwar unglaublich gering, doch allein der Gedanke…
Die restlichen sechs Millionen Berry wurden etwa zu gleichen Teilen auf die restlichen drei großen Einkaufszettelabschnitte verteilt. Die Vorräte waren, wie zu erwarten war, eher einseitig; Mountainegro war keine landwirtschaftlich gut nutzbare Insel, und die Fischerei war wie erwähnt am Boden. Die daraus resultierende Not, Lebensmittel standardmäßig in großen mengen einzuführen, ermöglichte dennoch einen recht guten Preis für eingelegten Fisch, Trockenfleisch und ähnlich lang haltbare Nahrung.
Zaharas und Kais persönliche Anliegen dagegen waren ebenso wie die Kanonen ein besonderes Schnäppchen. So hatte sich Zaharas neue Laborausrüstung einst im Besitz eines neumodischen Quacksalbers befunden, der neben einem illegalen Hospital auch gewisse Substanzen hergestellt haben soll, für die die örtlichen Firmen wenig Liebe hegten. Die Herkunftsgeschichte von Kais neuem Werkzeug war dagegen schon fast langweilig: Der Besitzer einer kleinen Waffenmanufaktur war kürzlich ohne Erben verstorben, und da der Betrieb, der das Grundstück in beschlag nahm, bereits über alle nötigen Werkzeuge verfügte, wurden die alten Gerätschaften zum Schnäppchenpreis abgegeben.
So kam es also, dass Kai mit ganzen zwei Millionen Berry, die bereits als privat verbuchte halbe Million mit eingerechnet, zum Schiff der Bussarde zurückkehrte. Seine Zweifel, das Gefährt im Chaos des Hafens möglicherweise nicht so schnell wiederfinden zu können, lösten sich schnell, als Zaharas feste Stimme an sein Ohr drang. Die gute Frau hatte wirklich viel Spaß daran, die Bussardmänner über die Planken zu jagen. Zu viel vielleicht?
Mit seinem üblichen Lächeln balancierte Kai über die ausgefahrene Laufplanke, stolzierte an den nun leeren Bankreihen der Ruderer vorbei, und gesellte sich zu seiner neuen Kapitänin. Ihr Anblick, von den Matrosen in seinem Schlepptau mit leisen Pfiffen bedacht, bekam von Kai nur ein Stirnrunzeln – Fell, Leder und nackte Haut schön und gut, doch wie viel hatte dieses neue Outfit wohl gekostet?
Nichtsdestoweniger begrüßte Kai seine Kapitänin mit einer ihrem Stand angemessenen Verbeugung, bevor er sich mit einigen Worten und einer erneuten Verbeugung in Richtung Schiffsinneres verabschiedete. Bevor die beiden die Ergebnisse ihrer Ausflüge besprechen konnten, galt es, einige Männer anzuweisen, nach den Waffen- und Lebensmittellieferungen Ausschau zu halten, sowie den Rest des eingenommenen Geldes zu verstauen und alle Einkäufe in Kais schwarzes Rechnungsbuch für die Ewigkeit festzuhalten. All dies würde bis in den späten Abend hinein dauern, was das Abendessen zur perfekten Gelegenheit machte, sich erneut zu treffen.
Mit diesem letzten Hinweis zog sich Kai endgültig unter Deck zurück und tat das, was er am besten konnte: Sich an den Früchten seiner Gier erfreuen.

Kai erfreute sich an seiner Gier, Zahara an ihren Untergebenen. Nach und nach traf die gesamte Mannschaft des Schiffes ein und wurden entweder direkt unter Deck geschickt um Kai zu Hand zu gehen oder durften sich an den Schönheitsreparaturen die Hände wund arbeiten. Zahara überwachte alles wie eine echte Diktatorin und sorgte dafür, dass die kommenden Stunden in fleißiger Arbeit verbracht wurden. So würde sich jeder sein Abendessen redlich verdienen.
Als langsam der Abend anbrach, alle Löcher geflickt oder zugenagelt worden waren und sich die Männer erschöpft gegen die Reling lehnten, zog sich auch Zahara zurück in ihre Kabine, ließ sich auf dem unbequemen Sessel nieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Leute von A nach B scheuchen war anstrengender, als sie gedacht hatte – aber auch deutlich spaßiger. Uneingeschränkter Gehorsam, totale Macht über die armen Seelen ihrer Crew. Ja, das gefiel ihr. Lächelnd schloss sie die Augen und genoss für eine Minute diesen neuen Abschnitt ihres Lebens. Wer hätte gedacht, dass sich in so kurzer Zeit so viel verändern würde? Und all das hatte sie Kai zu verdanken. Im Umkehrschluss verhielt es sich genauso. Ob die Machtverhältnisse zwischen den beiden noch irgendwann einmal für Streitigkeiten führen würden? Zahara lachte trocken auf. Natürlich würde es das. Sie wäre enttäuscht, wenn nicht.
Der seltene Moment reiner Zufriedenheit wurde jäh unterbrochen, als es draußen vor der Tür einen lauten Tumult gab. Frauenschreie wurden laut und das Klatschen einer saftigen Ohrfeige. Danach herrschte kurz Stille, ehe wütende Männerstimmen und Gewimmer die Luft erfüllte. Zahara stieß die Tür auf um nachzusehen, was dort vor sich ging.
„Gibt es einen Grund, warum meine Ruhe gestört wird?“, fragte sie in säuselndem Ton, als sie sich näherte. Die beiden Männer schauten erst erschrocken, schüttelten dann aber eilig den Kopf, ehe sie anfingen zu nicken.
„Tut uns Leid, Fräulein Azhir.“, sprach der eine. Offenbar hatte sich Timmys Anrede herumgesprochen und wurde als angebracht empfunden. Zahara würde ich nicht beschweren.
„Die Schlampe hier meinte, flüchten zu wollen. Ist total ausgeflippt, nachdem sich die Blondine letzte Nacht von Bord gestürzt hat. Haben sie erwischt und... was sollen wir mit ihr machen?“ Zahara musste zu ihrer Schande eingestehen, dass sie nicht einmal von diesem Selbstmord gehört hatte. Belastet wurde sie davon nicht – ihr war von vorne rein klar, dass die drei Frauen aus Thomason die Reise auf dem Schiff nicht heil überstehen würden. Aber... sollte Timmy ihr so etwas nicht berichten?
„Knebelt und fesselt sie, dann bringt sie in meine Kabine. Ich komme gleich nach.“, sagte Zahara und verschwand energisch unter Deck. Sie suchte Timmys Kabine auf. Es konnte nicht angehen, dass ihr erster Maat Informationen für sich behielt. Sie machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen. Das war ihr Schiff. Ihre Tür. Ihre Kabine.
„Fr-Fräulen Azhir? Wie, äh, wie kann ich ihnen helfen?“ Der Zwerg zog sich gerade seine zu klein geratene Kinderlederweste an und band sich ein viel zu großes Schwert mit goldenem Griff an den Gürtel. Woher hatte er das Geld dafür? Neben ihm auf dem Bett saß eine der Thomason-Frauen; die schöne Brünette. Im Gegensatz zu der alten Wachtel in Zaharas Kabine sah diese Frau sogar noch gesund und munter aus, wenngleich ihr Blick konsequent gen Boden gerichtet war und sie keinen Mucks von sich gab.
„Meine Kabine. Bring sie mit.“

Kurze Zeit später klopfte es zaghaft und auf Zaharas Einverständnis hin traten Timmy und seine Spielgefährtin ein.
„Fräulein Azhir, es ist mir eine...“
„Halt den Mund. Eine der Frauen hat sich umgebracht?“, fragte die Kapitänin und schnitt dem Zerg damit das Wort ab. In ihrer Stimme lag keinerlei Freundlichkeit mehr.
„Ja, Fräulein Azhir, ganz richtig. Ich wollte ihnen das eigentlich noch mitteilen, aber..."
„Aber?“
„Ähm...“ Offenbar wusste Timmy kein Aber.
„Warst du anderweitig beschäftigt? Gab es etwas wichtigeres?“
„Nein, ich...“ Eine harsche Handbewegung brachte den kleinen Mann zum schweigen. In seinen Augen flackerte etwas auf, das Zahara ganz und gar nicht gefiel.
„Diese hier wollte fliehen, während du dich vergnügt hast. Du sollst die Mannschaft unter Kontrolle haben; ein Auge auf sie werfen. Ist das nicht deine Jobbeschreibung?“
„Ich bitte um Verzeihung, Fräulein Azhir, vielmals um Verzeihung.“ Eine Verbeugung ließ den Zwerg noch winziger wirken. Zaharas Blick lag inzwischen jedoch wieder auf der Frau neben ihm. In ihrem Gesicht konnte man Stolz erkennen, Intelligenz, die hinter den braunen, auf den Boden gerichteten Augen schlummerte. Sie unterschied sich von den Anderen. Sehr sogar.
„Wie heißt du?“, fragte sie die Frau direkt und lehnte sich nach vorne.
„Sie spricht nicht, Fräulein Azhir.“
„Annabelle Johnson.“ Timmy schaute etwas verwirrt drein, Zahara schüttelte nur sachte den Kopf und fragte sich, wozu dieser Wicht eigentlich noch gut war. Sie würde später mit Kai besprechen müssen, was sie dahingehend unternehmen sollten.
„Du warst diejenige, die mich abgetastet hat. Ich erinnere mich.“
„Ja.“ Noch immer richtete Annabelle den Blick auf den Holzboden und schaute nicht ein einziges Mal auf. Zahara deutete auf die Tür.
„Timmy, verschwinde. Ich erwarte das Essen in einer Stunde. Sag Kai, dass er mir in meiner Kabine Gesellschaft leisten soll.“
„Kai? Ja, ja, aber sicher, Fräulein Azhir.“, antwortete der Zwerg und verschwand mit unterdrückter Wut aus der Kapitänskajüte. Es herrschten einige Sekunden Stille, ehe erneut gesprochen wurde. Zahara stand auf und umrundete den schweren Schreibtisch. Vor Annabelle machte sie Halt, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es sachte, aber bestimmt empor. Die Brünette war in etwa so groß wie die Kapitänin selbst, hatte lange Haare und ein schönes Gesicht. Jetzt erst trafen sich die Augen der beiden Frauen und Zahara musste ein wenig Lächeln. Sie hatte Recht gehabt – die Augen waren das Interessanteste an Annabelle. Sie konnte Stolz erkennen, der tief, tief heruntergewürgt worden war. Etwas Hass, Wut und Angst. Hilflosigkeit. Mit einem Blick auf das gefesselte Häufchen Elend in der Ecke nahm Zahara wieder etwas Abstand.
„Du willst überleben, hm? Einfach nur überleben?“
„Ja.“
„Dafür wirst du alles tun.“ Es war mehr eine Feststellung, denn Frage. Annabelle nickte, nachdem sie schwer geschluckt hatte.
„Zieh dich aus.“ Erst zögerlich, doch dann entschlossen entledigte sich Annabelle ihrer Kleider. Zahara umrundete und begutachtete sie. Ein paar blaue Flecken, doch keine wirklichen Verletzungen. Timmy schien gut zu ihr gewesen sein.
„Auf die Knie.“, flüsterte sie den nächsten Befehl und Annabelle gehorchte. Zahara stand hinter ihr und legte ihr sanft eine Hand auf den Kopf. Sie konnte erkennen, wie die Lippen der Frau zitterten und sie gedanklich gegen all die Demütigungen und ihre eigene Natur ankämpfte, nur um keinen Zorn auf sich zu ziehen und am Leben zu bleiben.
Zahara verschwand für einen Moment, kehrte dann aber mit neuer Kleidung zurück.
„Zieh das an. Deine alten Kleider sind zerrissen und schmutzig.“ Verwirrt, aber dankbar schlüpfte Annabelle in das dargebotene Leinenhemd und Jeans.
„Herzlichen Glückwunsch, Annabelle Johnson. Du hast überlebt. Timmy wird sich nicht mehr an dir vergreifen, dafür werde ich sorgen. Für den Rest der Mannschaft gilt das Gleiche. Sollte es dennoch passieren: Du stehst ab sofort unter meinem Schutz. Die Konsequenzen möchte niemand tragen.“
Die noch immer kniende Frau konnte es offenbar nicht wirklich glauben – alles ging so schnell. Sie brauchte zwei Anläufe, ehe sie ein geflüstertes „Warum?“ herausbrachte.
„Warum?“, fragte Zahara und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück. „Siehst du den Unterschied zwischen dir und ihr?“ Ein tätowierter Finger zeigte auf die geknebelte Frau am Boden. „Du stehst. Sie kriecht. Ich respektiere starke Menschen. Willensstarke Menschen. Wenn man sich durch Charakterstärke nichts verdienen kann, wo wäre dann der Sinn darin? Du hast all die Demütigungen und Männer über dich ergehen lassen ohne, dass dein Geist gebrochen ist. Du hast dir dein Leben mehr als nur verdient. Aber.“, sagte Zahara und hob theatralisch einen Finger in die Höhe. „Ich erwarte etwas im Gegenzug.“
„Was?“, fragte Annabelle energisch und sah der Kapitänin endlich von sich aus in die Augen.
„Du wirst einige Aufgaben auf dem Schiff übernehmen. Du hältst meine Kabine und Kleider sauber, fütterst und wäschst meine gdân, gehst meinen Wünschen nach. Du könntest dich als meine... Zofe betrachten. Verstanden?“
„Ja. Ja, ist es. Miss. Ja.“, erwiderte Annabelle und Zahara lächelte. Diese Frau hatte sich schon so sehr mit ihrem Schicksal abgefunden, dass sie an Flucht oder Freiheit gar nicht zu denken schien. Sie sah fast schon glücklich ob der Tatsache aus, nicht mehr von den Männern der Crew belästigt zu werden.
„Eine einzige, kleine Sache wäre da aber noch, Annabelle.“, sagte Zahara und klang dabei fast schon spielerisch. Sie zog den Dolch aus ihrem Stiefel und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch.
„Ich möchte, dass du sie von ihrem Leid erlöst.“
Annabelle sah mit großen Augen auf die Klinge, dann auf die angsterfüllte, weinende Frau in der Ecke des Raumes. Sie schluckte. Doch noch während Zahara überlegte, was im Kopf der Brünetten vorging, hatte diese sich schon den Dolch geschnappt und geradewegs in die Brust der anderen Frau gerammt. Während das Leben aus ihr wich, stand Annabelle über ihr und sah mit unleserlichem Gesichtsausdruck auf sie herunter. Annabelle legte den Dolch zurück auf den Schreibtisch und strich sich ihre Kleider glatt.
„Ich werde Timmy von deiner neuen... Stellung wissen lassen und unsere Freundin hier entsorgen lassen. Du darfst währenddessen den Tisch decken.“

Ein glückliches Summen erfüllte den kleinen Raum, der von zwei flackernden Kerzen erhellt wurde. Begleitet wurde der sanfte Ton vom beständigen Kratzen einer scharfen Feder auf Papier, sowie dem leisen Blättern von Seiten. Kai betrachtete diese Geräuschkulisse als unbedingt notwendig für seine Arbeit; am vergangenen Nachmittag, als das Schiff vom Grölen und Trampeln der Männer und der scharfen Befehle des „Fräuleins Azhir“ beherrscht wurde, hatte der Händler sofort gemerkt, dass er nicht so sehr bei der Sache war wie üblich. In der abendlichen Ruhe seiner eigenen Kajüte jedoch strömten die Worte und Zahlen nur so aufs Papier, und mit jedem weiteren Buchstaben, jeder weiteren Ziffer wurde Kais übliches Lächeln etwas breiter.
Kai hatte wirklich allen Grund, zufrieden mit sich zu sein. Trotz heftiger Zweifel hatte er deutlich weniger Geld ausgeben müssen, als eigentlich gedacht; das Widersehen mit zweien seiner ältesten Kontakte war trotz langer Funkstille überraschend harmonisch verlaufen; alle Lieferungen sind komplett und intakt aus dem Schiff hinaus, und in den Frachtraum hinein gelangt; und zu guter letzt hatte bis jetzt auch keiner der Matrosen den Schatzmeister in seiner Abgeschiedenheit gestört.
Es war nicht so, dass Kai ein unsozialer Mensch war, oder nicht selbst ein kleines Quäntchen Führungstalent besaß. Dennoch gefiel es ihm wesentlich besser, die eifrige Azhir den alltäglichen Umgang mit den ruppigen Männern zu überlassen, ohne selbst dabei hilflos zu sein. Kai wusste, dass er, sollte sich die Notwendigkeit ergeben, auch selbst kleinere Befehle erteilen können würde; so erst an diesem Morgen mit der Bande Packeseln geschehen. Wie Zahara auch hatte Kai insofern nämlich ebenso einen gewissen Ruf auf dem Schiff, auch wenn er wesentlich leiser besprochen wurde als der der Kriegerin: Trotz Timmys Stellung als Vize galt Kai zumindest bei den etwas intelligenteren Crewmitgliedern als wahrer Berater und rechte Hand der neuen Kapitänin. Warum sonst hätte er denn sonst die scheinbar fast uneingeschränkte Hoheit über die gesamten Finanzen der Crew?
Mit einem letzten Schwung der mit Gold überzogenen Schreibfeder beendete Kai die Liste der heutigen Transaktionen. Ein geübter Blick flog danach über jede einzelne Seite, um auch ja sicher zu gehen, dass die Tinte nirgendwo fleckig war, alle Einträge stimmten, und die Summe am Ende der großen Rechnung auch wirklich stimmte.
15,635 Millionen Berry Einnahmen, 13,814 Millionen Ausgaben. Macht immer noch ein Plus von 1,821 Millionen Berry. Etwas weniger als runde zwei Millionen, aber ich will nicht meckern.
Leise kichernd schwang sich Kai von seinem Schriebtischstuhl herunter, warf sich aufs Bett, und öffnete den dortigen Koffer. Neben seinen bisherigen Besitztümern, inklusive den acht Millionen Berry Notgroschen, lagen hierin nun auch die zusätzlichen fast zwei Millionen. Etwas unwillig nahm Kai das ungeordnete Bündel heraus, ließ es einmal leise surren, und teilte dann ohne Weiteres den Stapel allein anhand des Gewichts in zwei vollkommen identische Haufen. Zur Sicherheit zählte Kai noch einmal nach, doch er wusste schon bevor er fertig war, dass beide Geldbündel nun genau 910.500 Berry zählten. Einer davon wanderte zurück in den Koffer, der andere dagegen in die Falten von Kais Jacke. Das Treffen mit Zahara stand kurz bevor, und auch, wenn sich Kai nur ungern von Geld trennte, war eine knappe Million ein geringer Preis dafür, das Vertrauen der Dame zu ihrem Schatzmeister zu stärken.
Hätte Kai versuchen können, Zahara weniger Geld in derselben Absicht zu überreichen? Natürlich. Solcherlei Handeln verstieß jedoch nicht nur ein Stück gegen Kais Berufsehre, sondern war auch nicht ganz ungefährlich. Zahara mochte nicht über die weiteste Voraussicht verfügen, doch ihre Instinkte schienen ausgeprägt genug, um eine flache Lüge schnell als solche entlarven zu können. Dieses Risiko wollte Kai gerade in Geldangelegenheiten definitiv nicht eingehen.
Gerade, als Kais Gedanken über diesen Pfad zu Zahara, und damit auch zu Lyn zurückzukehren drohten, machte ein ungewohntes Geräusch im Zimmer auf sich aufmerksam. Überrascht setzte sich Kai auf seinem Bett auf und horchte, bis er bemerkte, dass das Geräusch aus einer seiner Jackentaschen kam. Nach ein wenig Fingerfertigkeit wurde das merkwürdige Blöken lauter, bis seine Quelle endlich in Kais Händen lag.
Was zum…?

Es überraschte ihn ein wenig, dass Zahara ihn nicht nur hereinbat, als er etwa zwei Stunden später an die Tür ihres privaten Esszimmers klopfte, sondern selbst die Tür öffnete. Noch mehr überraschte ihn allerdings, dass es nicht Zahara war, sondern eine der Frauen, die die Bussarde von Thomason verschleppt hatten. Nachdem er gehört hatte, dass sich eine der drei aus lauter Verzweiflung über Board gestürzt hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die beiden anderen noch immer an Deck waren. Ein schwerer Fauxpas; offensichtlich musste er seine Inventarlisten dirngend um ein Personenverzeichnis erweitern. Vielleicht half dies ja auch dabei, durch das Einprägen der Namen einiger Matrosen das Vertrauen der Leute zu gewinnen. Nicht, dass Kai darauf angewiesen war, doch es würde auch nichts schaden.
Mit einem Lächeln und der Andeutung einer Verbeugung trat Kai schließlich ein, ließ Frau und Türe hinter sich, und postierte sich an dem langen, bereits mit dampfendem Essen drapierten Tisch. Der Händler betrachtete das unerwartet umfangreiche Mahl mit gemischten Gefühlen: Einerseits lief ihm beim Anblick von Fleisch, Fisch und sogar etwas Gemüse das Wasser im Mund zusammen, andererseits wollte er sich nicht ausmalen, wie lange die für mehrere Monate angelegte Ration durchhalten würde, wenn der hiesige Smutje schon am ersten Tag so aushauste. Noch ein Grund, sich mit dem Personal etwas genauer zu befassen.
Nach einer ausgiebigen Analyse des Abendmahls widmete sich Kai endlich Zahara und deutete eine zweite Verbeugung an. „Wie ich sehe, hat sich mein kleiner Ausflug in die Stadt heute durchaus gelohnt. War diese Ausschweifung eure Idee, ‚Fräulein Azhir’?“ Die von den Matrosen rasch eingeführte Anrede kam Kai noch nicht ganz flüssig über die Lippen. Für ihn war ein Fräulein… nun, wem kam bei diesem Wort denn schon eine leicht bekleidete Exotin in den Sinn?
„Wir haben auch noch irgendwo etwas getrocknetes Pökelfleisch, wenn dir das lieber ist.“ Eine trockene Antwort, wie sie nicht anders zu erwarten war. Kai schüttelte den Kopf, dann wies er in einer ausschweifenden Geste von Zahara zum Tisch.
„Und das ganze Geld, pardon, Essen einfach so vergeuden? Niemals. Sollen wir?“
„Gerne.“
Gemeinsam setzten sich die beiden damit an den reich gedeckten Tisch. Während Zahara am Kopfende der langen Tafel Platz nahm und ihren Teller sofort mit Essen belud, ließ sich Kai zunächst etwas Zeit, bevor er sich zur Linken seiner Kapitänin niederließ. Dass derweil die zweite Frau im Raum als eine Art Dienerin fungierte und den Hunden tatsächlich recht große Portionen brutzelnden Fleischs zusammenstellte, entging Kai ganz und gar nicht. Dem schönen Schein zuliebe behielt er sein Lächeln bei, innerlich jedoch wanderte eine mentale Notiz in sein Gedächtnis, die junge Dame einmal unter vier Augen zu sprechen.
Auf der anderen Seite… wenn Kai etwas über die Frau wissen wollte, warum nicht erst diejenige Fragen, die definitiv etwas über sie wissen musste?
Während sich Kai den eigenen Teller mit einer durchschnittlich großen Portion gebratenen Fischs füllte, fragte er deshalb Zahara fast beiläufig:
„Wie ich sehe, haben sie Verwendung für eins der drei Mädchen aus Thomason gefunden. Darf ich fragen, wie es dazu kam, und wo die anderen beiden stecken?“
Wie gesagt: Kai wusste, dass zumindest eine der beiden Frauen tot, oder wenigstens verschwunden war. Dennoch interessierte er sich dafür, wie Zahara auf diese so offen gestellte Frage gerade im Bezug auf jene Verzweiflungstat reagierte.
Mit einem Blick auf ihre neue Dienerin, die einen deutlich sichtbaren Schmollmund zog, antwortete Zahara: „Eine hat sich gestern Nacht umgebracht, die andere wartet in einem Fass unter Deck darauf, auf hoher See entsorgt zu werden. Annabelle hier... hat etwas mehr Charme und Stärke bewiesen.“
Diesmal ließ Kai seinen Mundwinkeln freien Lauf, womit sich sein Lächeln für einige Momente in einen unzufriedenen Strich wandelte. Nicht nur, dass sie der vermeintliche Tod der einen kaum zu interessieren schien, offenbar hatte Zahara, oder aber sogar ihr neues Spielzeug für das frühzeitige Ableben der anderen gesorgt. Sollte Kai noch immer Zweifel daran gehabt haben, dass die Dunkelhaarige wenige Probleme mit Mord und Totschlag hatte, waren diese spätestens jetzt verpufft. Hatte die Dasme überhaupt irgendwelche Skrupel? Falls nicht… nun, zumindest würde in diesem Fall der Proviant nicht nur auf alle Fälle reichen, sondern die Crew mit großem Vorsprung überleben.
Nach einem vornehm-kleinen Bissen Fisch und etwas Nachdenkzeit, die normale Menschen für das Verarbeiten dieser Nachricht wohl gebraucht hätten, räusperte Kai: „Das ist… bedauerlich. Aber es hat wohl keinen Sinn, sich über Zerbrochenes den Kopf, nun ja, zu zerbrechen. Ich hoffe aber, das unsere restliche Crew sich als etwas langlebiger erweist.“ Ein längerer Blick zu Zahara machte der Dame hoffentlich klar, dass Kai hierbei nicht nur die Matrosen selbst in der Pflicht sah.
Zaharas Antwort wies leider nicht auf sonderlich viel Einsicht hin: „Oh, das würde mich auch sehr erfreuen. Wein?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, trat Annabelle – den Namen würde sich Kai einprägen müssen, wenn die Frau weiterhin Zahara nahestehen sollte – an Kais Seite und füllte seinen Becher. Der Händler nahm einen Schluck von dem eher billigen Fusel, stellte ihn dann aber direkt wieder zurück. Noch durfte Kai seine Sinne nicht an den Alkohol verlieren, ganz zu schwiegen davon, dass des niedrigprozentige Gesöff dafür sowieso kaum geeignet war.
„Da bin ich mir sicher. Hmm… aber da wir schon beim Thema Fracht sind: Wenn sie keine dringenderen Themen zu besprechen haben, würde ich geschwind meinen Bericht zum Verlauf des Tages abgeben.“
Erwartungsgemäß ließ sich Zahara nicht einmal zu einer gesprochenen Antwort herab, sondern winkte Kai einfach zum Fortfahren. Also fuhr der Händler fort, während nicht nur Zahara, sondern auch ihr menschliches Spielzeug und die beiden Hunde zu Abend aßen. Kai ließ sich davon aber nicht abhalten, seiner „Kapitänin“ zumindest einen kleinen Einblick in seine Geschäfte zu geben, der mit der feierlichen Übergabe des Geldbündels endete, das er vorbereitet hatte.
„910,5 Tausend Berry. Die Einsparungen unter uns beiden fifty-fifty aufzuteilen erscheint mir nur recht und billig. Bitte.“
Falls Kai Lob oder irgendetwas dieser Art erwartet hätte, er wäre bitter enttäuscht worden. Zahara fasste das Geld nicht einmal an, sondern ließ es genau dort an ihrer Seite liegen, wo Kai es hinlegte. Er unterdrückte einen Seufzer, lächelte stattdessen weiter, und fuhr fort:
„Die Geschäfte liefen damit alles in allem reibungslos. Ich hoffe, ihr Besuch bei meiner Bekanntschaft ebenso?“
„Okay, Grundkurs in Sachen Frauen: Wenn du jemanden fickst und dann einfach abhaust, ist das unhöflich. Wenn du jemanden ne ganze Weile fickst und *dann* einfach abhaust, gehört dein Schwanz in ein Einmachglas.“
Kai musste all seine Kraft aufbringen, beim auf diesen Hinweis folgenden Hustenanfall nicht die Hälfte seines Fischs wieder auszuspucken. Keine Skrupel, kein Lob, und dann auch noch kein Anstand? ...warum noch mal war Kai überhaupt an Board dieses Schiffes?
Nachdem sich sein Hals wieder einigermaßen beruhigt hatte, tupfte sich Kai möglichst ruhig den Mund ab und räusperte sich. Für einen Moment erwog er, tatsächlich das zu sagen, was er in diesem Augenblick dachte, bevor er sich im letzten Moment eines Besseren besann, den bereits weit geöffneten wieder schloss, und stattdessen beinahe flüsterte:
„Weniger aus dieser Antwort, als vielmehr der Tatsache, dass sie ihre Waffe nicht bei sich tragen, schließe ich einfach einmal, dass das Schwert tatsächlich in Reparatur ist. Wie lange wird sie brauchen?“
„Morgen, Punkt 12 Uhr. Für die Reparatur will sie nichts. Abgesehen von der einen Million, die du ihr bringst, wenn du mein Schwert abholst.“
Kai zog eine Augenbraue hoch. Eine Million Berry erschien ihm wie ein angemessener Preis – es war mehr ein Symbol, ein Mindestpreis sozusagen, als der wirkliche Gegenwert der in Anspruch genommenen Dienste. Viel eher verwunderte ihn, dass es an ihm sein sollte, die Waffe abzuholen. Diese Idee war ganz offenbar nicht Zaharas Kopf entsprungen, was gleichzeitig bedeutete, dass er vermutlich alleine würde gehen müssen, ohne die dunkelhaarige Frau. Ganz allein zu ihr…
Morgen. Mach dir darüber morgen Gedanken. Zuerst das Geschäft. Zuerst das Geld.
Mit diesem eher kümmerlichen Versuch, die Gedanken an eine wahrscheinlich recht zornige Waffenschmiedin zu verdrängen, streckte Kai etwas gedankenlos die Hand nach dem Geldscheinbündel aus, das noch immer neben Zahara lag. Zu spät bemerkte er, dass dieser direkte Griff vermutlich nicht die schlauste Vorgehensweise war, eine Dame wie Zahara daran zu erinnern, dass es hier eigentlich um ihr Schwert ging. Entsprechend fiel die Reaktion der Frau aus, deren Hand wesentlich schneller war.
„Du sollst andere Schulden begleichen.“
Die Stirn runzelnd nahm Kai die Hand zunächst zurück und fixierte Zahara. Offenbar wollte sie tatsächlich weiterhin diese ganze Sache erörtern. Nun, sollte sie. Das hieß noch lange nicht, dass Kai mitspielen musste. Er sollte selbst zu Lyn? Gut. In dem Fall würde er jedoch nicht auch noch die Reparatur bezahlen. Nicht solange er noch immer der Meinung war, dass Zahara tief in seiner Schuld stand. Oder was genau hatte die Frau getan, eine Befreiung aus dem Gefängnis, die Wiederbeschaffung eines Gegenstands von hohem sentimentalem Wert, ein gerettetes Leben, sowie das Geschenk eines ganzen Schiffes mitsamt Crew aufzuwiegen?
Mit einem Schulterzucken antwortete er: „Tja, um diese ‚anderen Schulden’ werde ich mich leider nicht kümmern können, wenn mein Kopf voll mit Geldsorgen ist. Solange sie also nicht vorhaben, mich mit diesem Geld in der Hand zu begleiten… naja, wir haben jetzt ja genügend andere, hochwertige Schwerter im Frachtraum.“
Zum Schein in sein Essen vertieft hatte Kai keine Möglichkeit, das herannahende Geldbündel aufzufangen, bevor es ihm gegen den Kopf schlug und auf seinem Teller landete. Einsicht auf Seite von Fräulein Azhir? Gut, sie hatte sich dem Gewicht des Bündels nach zu urteilen einige Scheine abgezweigt, doch offenbar wollte auch sie nicht auf Teufel komm raus einen Streit vom Zaun brechen.
Beinahe ebenso unvorhergesehen wie das Bündel traf Kai Zaharas fast beiläufiger Kommentar: „Sie wird dir außerdem einige Dokumente mitgeben. Da wäre aber noch eine Sache: Lyn wollte, dass ich ohne dich verschwinde.“ Der zweite Teil dieser Aussage ließ Kai nicht nur scheinbar einen Augenblick innehalten, wobei Messer und Gabel in seinen Händen bewegungslos in der Luft verharrten.
Schon im nächsten Augenblick landete das Besteck allerdings mit leisem Klirren zurück auf dem Teller, wo es damit fortfuhr, den braun gebratenen Fisch zu zerteilen. Lyn wollte, dass Zahara ihn zurückließ. Eigentlich durfte ihn diese Enthüllung nicht verwundern. Nicht, wenn er davon ausging, dass Zahara zum Grund ihres Besuchs bei exakt jener Waffenschmiede einige Worte mehr verloren hatte, als unbedingt nötig gewesen wären.
Allein ein winziger Hinweis auf dieses Schiff, diese Crew, Fort Geoff…
Es verging nicht ganz eine Minute, bis Kai erneut den Mund nicht nur deshalb aufmachte, um ein größeres Stück Fisch zu sich zu nehmen. „Ich nehme an, dass ihr diese Forderung abgelehnt habt?“
So musste es sein, andernfalls hätte Zahara sicherlich nicht von dieser Bitte berichtet. Gleichzeitig musste die Fremdländerin wissen, dass die die Bussarde noch nicht allein unter Kontrolle halten konnte. Andererseits… bestand nicht einmal die kleinste Chance, dass Zahara vom Gegenteil überzeugt war, und Kai nur deshalb davon erzählte, um irgendeinen Vorteil daraus zu schlagen? Vielleicht wollte sie ihn erpressen, für die Überfahrt zu den nächsten Inseln Geld verlangen, ihn anstatt der Million Berry für das Schwert übergeben, oder…
„Sie hat nachgegeben, ja. Ob man ihr bei so etwas trauen kann, musst du wissen. Du hast mehr Zeit mit und in ihr verbracht als ich.“
Kai lachte leise. Zahara und Erpressung. Natürlich. Wie hatte er nur darauf kommen können?
Sich dem durchdringenden Blick seiner Partnerin durchaus bewusst, behielt Kai seinen eigenen auf dem Teller vor sich. „Gut, gut. Überlassen sie mir einfach den Rest, und machen sich keine Sorgen. Ihr Schwert und diese Dokumente werden bei mir in guten Händen sein.“ Die Frage, ob Zahara tatsächlich nicht mitkam, konnte auch bis morgen warten.
Trotzdem das Thema hiermit eigentlich geklärt schien, warf es eine der Fragen auf, die Kai bei der ganzen Zusammenarbeit mit Zahara bisher eher unbeachtet gelassen hatte. Dabei handelte es sich um eine Frage, ohne deren Beantwortung ein Geschäft nur selten erfolgreich abgeschlossen wurde:
Wie sehr vertrauten sich die beiden Partner gegenseitig?
Ach ja, Vertrauen. Damit war es so eine Sache. Einerseits funktionierte keine einzige Art von Partnerschaft ohne zumindest ein Quäntchen Vertrauen darauf, dass er Partner einem nicht gleich bei der nächsten Gelegenheit in den Rücken fiel. Andererseits lag es doch auch in der Natur der Menschen, an erster Stelle an sich zu denken. Jede Art von Vertrauen musste sich also auf Verhältnisse stützen, die vom Partner erwarteten, sich so zu verhalten, dass es für ihn von Vorteil war. Oder, anders ausgedrückt: Erwarte von einem Partner nicht, aus einem ätherischen Glauben an höhere Werte wie Freundschaft oder gar Liebe aufzuhören, an sich zu denken.
Kai hatte damit sicherlich eine recht pragmatische Auffassung von Vertrauen, doch bisher fuhr er mit dieser ziemlich gut. Noch nie war es ihm passiert, dass sein Vertrauen ausgenutzt war, allein deshalb, weil jeder Fall, der möglicherweise so hätte gedeutet werden können, von ihm nicht als Vertrauensbruch gewertet wurde.
Nach einer ganzen Weile der Stille entschied Kai sich schließlich dazu, die Ehrlichkeit seines Gegenübers mit gleicher Münze zu belohnen. Ohne einleitende Worte darüber zu verlieren, griff sich Kai unter die Jacke, tastete eine Weile blind nach etwas, und zog schließlich ein kleines Tier hervor, das er zwischen sich und Zahara auf den Tisch stellte. Den Blick noch immer auf seinen Teller gerichtet, fragte Kai: „Wissen sie, was das ist?“
„Eine ziemlich hässliche Schnecke?“
Eine gebildetere Antwort hatte Kai nicht wirklich erwartet. Das Dienstmädchen Annabelle schien dagegen sichtlich überrascht, sowohl über die Schnecke selbst, als auch die Unwissenheit ihrer Kapitänin. Ohne Spott oder Ähnliches in seiner Stimme fuhr Kai fort:
„Eine Teleschnecke, um genau zu sein. Auch, wenn das Tierchen nicht so aussieht, kann man mit diesem Gerät hier…“, Kai zeigte mit einer freien Hand auf das kleine, abnehmbare Sprechgerät, das über eine Kordel mit dem Schneckenhaus verbunden war, „…mit anderen Schnecken, und damit mit ihren Besitzern kommunizieren. Gerade in den Blues benutzt sie vor allem die Regierung, um Informationen auszutauschen und Angriffe zu koordinieren.“
„Warum zeigst du mir das?“, kam die simple Antwortfrage. Kai räusperte sich, bevor er begann:
„Als ich heute Abend meine Notizen zu den Einkäufen fertig gestellt habe, hat dieses kleine Ding hier geklingelt. Jemand hat mich mit seiner Hilfe kontaktiert. Was mich insofern verwundert hat, als ich die Schnecke vor heute Abend noch nie in meinem Leben gesehen habe.“
Diese Offenbarung lies Zahara offenbar aufhorchen; warum sonst hielt sie das erste Mal an diesem Abend mit ihrer beladenen Gabel inne, fixierte ihre Zofe und wies sie an, mit den Hunden ein Stockwerk höher in die Kapitänskajüte zu gehen? Annabelle auf der anderen Seite machte einen hörigen Knicks und das Versprechen, niemandem außerhalb des Raumes von diesem Vorfall zu berichten. Es wäre interessant zu erfahren, ob sich die Frau an dieses Versprechen hielt.
Als Zahara und Kai endlich allein waren, legte sie zuerst den Bissen Fleisch, welcher noch immer vor ihr schwebte, herunter, bevor sie fragte: „Hast du ne Ahnung, wer sie dir zugesteckt hat?“
Darauf konnte Kai nur den Kopf schütteln. Sicherlich hatte er Vermutungen, doch nichts Handfestes, was den sonst so aufmerksamen Händler nicht nur ein wenig störte. „Als ich in der Klamm unterwegs war, waren die Bussarde und ich nicht allein. In den überfüllten Straßen wäre es ein Leichtes gewesen, jemand so ein kleines Objekt unbemerkt unterzuschieben. Deshalb: Nein, ich weiß es nicht.“
„Man hat gezielt nach dir gesucht.“, lautete Zaharas nüchterne Einschätzung. „Was will dieser jemand von dir?“
Kai kratzte sich am bartlosen Kinn, bevor er antwortete: „Die Kurzfassung: Das Schiff mitsamt Waffen und Crew.“
„Du hast ihm gesagt, er soll sich gehörig in den Arsch ficken?“
Beinahe hätte Kai gekichert. Direkt und schmutzig, offenbar Zaharas Lieblingsart, zu kommunizieren. „In gewisser Weise. Ich ergänzte diese Aussage mit Hinweisen darauf, dass die Waffen bereits verkauft seien, und ein Teil der Crew – namentlich Levass – nicht mehr unter uns weilt. Die Antwort der Schnecke darauf war… dass das egal sei.“
Weniger als die Forderung an sich, als vielmehr die Tatsache, dass das Fehlen eines Teils von Ladung und Crew nicht mehr vorhanden war, verwunderte Kai. Wenn es beispielsweise jemand aus der Marine auf das Schiff abgesehen hatte, wollte er sicherlich das Transportmittel und die Waffen zusammen. Ein mit Levass konkurrierender Pirat auf Rachefeldzug, oder sogar ein beutelüsterner Kopfgeldjäger wären sicherlich getroffen gewesen, dass der Kapitän bereits verstorben war. Wenn es aber egal war, ob Schiff, Ladung und Crew vollständig waren, wer konnte dann hinter der Forderung stecken? Und ging es diesem jemand wirklich um eins dieser drei Dinge, oder etwas völlig anderes?
„Was war sein Druckmittel?“ Zaharas Frage unterbrach Kais Gedankengang. It einem Seufzen antwortete ihr: „Nun ja, außer dem Hinweis, dass Schiff und Crew auf die ein oder andere Weise den Besitzer wechseln werden, und ich besser dafür sorgen sollte, davon zu profitieren, anstatt mich gegen das Unvermeidliche zu stellen?“
„Glaubst du er hat geblufft und wollte nur deine Hilfe, oder steckt da mehr dahinter?“
Die Frage aller Fragen. Ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, durch wen Kai kontaktiert worden war, und was dieser jemand möglicherweise tatsächlich wollte, ließ sich das Gewicht jedweder Drohung kaum einschätzen.
„Schwer zu sagen. Auf der einen Seite haben wir eine ziemlich lächerliche Forderung, überbracht von einer Schnecke. Auf der anderen Seite wusste er ganz offensichtlich, wer ich bin, und hatte ebenso kein Problem damit, mich ausfindig zu machen. Wen auch immer ich in Anvils Klamm über Fort Geoff befragen konnte, meinte, er oder sie habe noch nichts von den Geschehnissen dort gehört. Trotzdem gibt es hier ebenso jemanden, der ganz genau Bescheid zu wissen scheint.“
„Hätte jemand aus der Crew genug Zeit gehabt, das in die Wege zu leiten?“
Kai unterdrückte ein Lachen, auch wenn Zaharas Schlussfolgerung teilweise nachzuvollziehen war. „Jemand aus der Crew? Bitte. Keiner der normalen Matrosen ist derart verschlagen. Denk bitte daran, dass Levass diese Mannschaft zusammengestellt hat. Der einzige, der vielleicht auf die Idee kommen könnte, seine Ziele auf eine solche Weise umzusetzen, wäre Timmy.“
Nach eine kurzen Bissen Fisch fuhr Kai mit vollem Mund fort: „Und auch wenn er es nicht wahrhaben will, so ist ihm doch klar, dass ihm allein die Crew nicht folgen wird.“
„Timmy strebt nach Macht in zweiter Stelle. Je mächtiger sein neuer Meister, desto mehr gefällt er sich selbst. Biete ihm das und er füttert dich mit so vielen Informationen wie du willst.“ Eine überraschend gute Analyse der Fremdländerin, das musste Kai ihr lassen. Er kannte Timmy deutlich länger als sie, doch offenbar war dieser Wesenszug des Zwergs recht offensichtlich.
Nachdem Zahara ihren Teller tatsächlich von sich geschoben hatte, griff sie nach dem mit Fusel gefüllten Weinbecher und ließ die Flüssigkeit darin nachdenklich kreisen.
„Mehr Informationen hat er nicht preisgegeben?“
Im Geiste ging Kai das Gespräch noch einmal durch, fuhr sich aber letztlich etwas enttäuscht über die Wange. „Naja, da gibt es nur noch die Sache mit der Belohnung.“
„Wenn du dir weiter alles aus der Nase ziehen lässt, schlag ich sie dir ein.“ Der Wein half Zahara offenbar nicht, ihr Temperament im Griff zu halten, auch wenn diese Drohung ganz offensichtlich im Scherz ausgesprochen worden war. Kais Lächeln war dennoch etwas schief, sein Kichern leicht nervös. „Entschuldigung. Nun, unser mysteriöser Freund hat mir doch tatsächlich einen Posten bei der Regierung angeboten.“
Das schien Zahara nicht weiter zu denken zu geben, fragte sie doch ziemlich rasch: „Wie schnell kannst du rausfinden, wer bei der Aktion auf Fort Geoff seinen Job und Ruf verloren hat?“ Kai ließ sich derweil für seine Antwort ebenso wenig Zeit: „Von hier aus? Keine Chance. Mountainegro verfügt kaum über nennenswerte Marinepräsenz, und dementsprechend auch kaum über Leute, die Informationen anbieten. Mein verlässlichster Kontaktmann sitzt derweil auf einer völlig anderen Insel, und es ist fraglich, ob diese speziellen Informationen schnell die Runde machen. Wieso? Woran denkst du?“
„Ich denke daran, dass irgendjemand der Marine bei Levass' Angriff gehörig auf die Fresse bekommen hat. Vermutlich der Kommandeur der Marinebasis dort. Sich von einer Bande Piraten so überfallen lassen und Waffen im Wert von Millionen unter der Nase weggeklaut bekommen? Das bedeutet nicht nur den Verlust des Jobs sondern auch Schande. Meine Theorie: Wer auch immer bei der Aktion am meisten verloren hat, will entweder Rache oder seinen Ruf wieder herstellen, indem er seinen Fehler gut macht.“
Offenbar etwas in Gedanken versunken fuhr Zahara leicht murmelnd fort: „Da er dich direkt aufgesucht hat, kennt er dich. Jemand, mit dem du Kontakt hattest? Der von deinen Geschäften weiß? Das hört sich für mich nicht so an, als ob dieser Typ die Marine im Rücken hätte, sonst würden sie einfach mit ein paar Schiffen anrücken. Das ist persönlich. Und persönlich heißt emotional. Das können wir ausnutzen.“
Kurz legte Kai sein Besteck beiseite, um seinen eigenen Becher zumindest ein klein wenig zu füllen – weniger, weil ihm der Fusel schmeckte, sondern mehr, um seine eigenen Gednaken kurz kreisen lassen zu können.
Zaharas Theorie hatte Hand und Fuß, zumindest in einigen Aspekten. Der Kommandant von Fort Geoff, Arnold Benedict, hatte durchaus Grund, Kai zu kontaktieren. Er hatte viel verloren. Er kannte Kai. Er würde Rache wollen, und einen Sündenbock brauchen. Um sich gegenüber seinen Vorgesetzten zu verantworten würden ihm zudem Schiff und Crew entscheidend weiterhelfen, denn selbst wenn die Waffenlieferung verschwunden war, stand er mit etwas in der Hand doch besser da, als mit nichts.
Trotzdem gab es auch Löcher in Zaharas Theorie. Noch hatte die Geschichte um Fort Geoff nicht die Runde gemacht, weshalb die Vermutung nahelag, dass die Marine noch nicht an die Öffentlichkeit gehen wollte. Das wiederum bedeutete, dass sie den Fall wohl auch jetzt gerade erst noch erforschten, und da Benedict ein zentraler Bestandteil hiervon war, würden sie ihm sicherlich kaum die Privatsphäre einräumen, die für eine solche Kontaktaufnahme nötig gewesen war.
Wie auch immer, Zahara schien einen Weg gefunden zu haben, den Geschehnissen einen Sinn abzuringen. Es war besser, sie in dieser Überzeugung zu bestärken, selbst wenn sie falsch war, anstatt Zweifel und Unsicherheit zu schüren. Dementsprechend hielt Kai seine Partnerin nur mit einem knappen „Inwiefern?“ am Reden.
„Rache macht blind. Der zwanghafte Versuch, einen veralteten Begriff wie Ehre wiederherzustellen genauso. Wenn ich Recht habe, wird er hören, was er hören will. Du spielst ihm in die Hand und tust, was er will. Er soll sich stark fühlen. In Kontrolle. Wenn er sich sicher fühlt, schlagen wir zu und schlagen so viel Profit daraus, wie wir können.“ Eine rasche, abwiegelnde Bewegung mit der Hand. „Und dann schmeißen wir seinen Kopf von Bord, das Übliche eben.“
Innerlich schüttelte Kai mit dem Kopf – eine Idee, wie sie Zahara anschickte, doch keine sonderlich durchdachte. Der Händler konnte nicht anders, als über die alte Geschichte eines ebenso schlecht durchdachten Geschäftsplans nachzudenken.
Schritt 1: Schiff und Crew aufs Spiel setzen. Schritt 2: ??? Schritt 3: Profit. Nur, dass Zahara ihren ganz persönlichen Schritt 4 noch ergänzt: Irgendjemand töten.
„In Ordnung. Nur, damit ich dich richtig verstehe: Du willst einen Fremden, der definitiv mehr über uns weiß als wir über ihn, übers Ohr hauen. Dafür würdest du das gesamte Schiff, die Crew und nicht zuletzt uns aufs Spiel setzen, um dich eventuell dessen zu bemächtigen, was er zum Zeitpunkt der Übernahme mit sich führt. Was genau versprichst du dir davon? Meiner Meinung nach können wir diesen jemand im besten Fall um ein paar Berry erleichtern. Im schlimmsten Fall tappen wir in eine Falle und verlieren, naja, alles.“
Zahara schien von dieser Einschätzung wenig erschüttert, im Gegenteil. Die Voraussicht ihres Kameraden schien sie stattdessen ein wenig zu amüsieren. „Sei nicht albern - ohne mehr Informationen über ihn will ich gar nichts tun. Um an die zu kommen könntest du der beste Weg sein. Außerdem geht es mir nicht in erster Linie um Berry oder Besitztümer - das ist dein Ding.“ Nun, zumindest räumte sie soviel ein. Es folgte eine kurze Pause, dann: „Ich will den Typen umlegen, der mir droht und mein Schiff will.“
Mittlerweile schien Zahara nicht mehr amüsiert, sondern eher zornig und in ihrem Stolz verletzt. Kai konnte es ihr kaum verdenken, auch wenn es ihn überraschte, dass seine Partnerin Schiff und Crew wirklich schon als ihr Eigentum verinnerlicht hatte.
Zur Entspannung hob Kai beschwichtigend die Hände und seufzte, worauf eine hochgezogene Braue nebst müdem Blick folgte. „Schon gut. Das heißt, wir verbleiben erneut mit dem Plan, zunächst mehr Informationen zu sammeln, bevor wir handeln. Ich habe nicht wirklich etwas gegen dieses Vorgehen, nur… Kommt dir das nicht ach irgendwie bekannt vor?“
Zahara ließ ihren Weinbecher nach einem tiefen Schluck etwas fester auf den Tisch zurückfinden als zuvor. „Hast du nen besseren Vorschlag?“
Kai musste nicht lang nachdenken, bevor er sich gezwungen sah zu antworten: „Nein, leider.“
Damit war der Plan offenbar angenommen, da Zahara sofort zum nächsten Schritt überging: „Ist deine Rhetorik gut genug um dem Typ vorzutäuschen, du würdest ihm helfen wollen?“
Diese Rage erntete einen fast schon beleidigten Blick von Kais Seite. Hatte die gute Frau wirklich schon vergessen, dass sie seiner Rhetorik dieses Schiff, die Crew, und nicht zuletzt das Essen und den Wein verdankte, an dem sie sich gütlich tat? Apropos: Nach einigen weiteren großen Bissen ließ Zahara doch tatsächlich von ihrem Teller ab, schenkte sich nach, und widmete sich dann erneut zwei Glimmstängeln, die sie rasch und mit geübten Griffen selbst rollte. Als sie einen der zwei ihrem Partner überreichte, setzte der wieder sein gewohntes Lächeln auf.
„So gut solltest du mich mittlerweile kennen. Dieser ‚Er’ und ich haben sowieso abgemacht, dass er morgen früh gegen neun Uhr anruft. Ich werde versuchen, ihm möglichst zweifelsfrei klarzumachen, dass ich das Angebot annehme, danach sehen wir weiter. Willst du bei dem Gespräch dabei sein?“
„Ja.“ Das würde Kai die Sache zwar nicht einfacher, doch so schnell wie diese Antwort kam, und so wie die Frau schmunzelte, freute sie sich offenbar jetzt schon auf den nächsten Morgen. Bei dem Gedanken nahm Kai einen tiefen Zug von dem beruhigenden Kraut.
„In Ordnung. Dann treffen wir uns also morgen, etwa Viertel vor neun, wo? Ein Stockwerk höher in deiner Kabine?“ Noch ein Zug. „Oh, und da wir schon dabei sind, wie sieht es dort eigentlich aus?“
„Trist, öde und unbequem? Für ein Telefonat wird’s aber reichen. Übrigens, ich werde das Schiff auf den Namen ‚Slavery’ taufen. Einwände?“
Erst stutzte Kai etwas, dann schüttelte er grinsend den Kopf. „Keine.“
„Der Name ‚Bussarde’ hängt mir genauso zum Hals raus - wir nennen uns absofort ar-Raqim. Heißt in eurer Sprache so viel wie ‚Die Erhabenen’.“
Kurz ließ sich Kai beide Namen durch den Kopf gehen. „Die Erhabenen“ auf einem „Sklaverei“-Schiff… man konnte wirklich nicht sagen, dass das nicht zu Zahara passte. Außerdem würde die Mannschaft sich damit ein einprägsames Image schaffen können, vor allem, wenn sich die vermeintliche Übersetzung des Namens mit herumsprechen würde. Bei Gelegenheit musste Kai seine Partnerin doch nocheinmal genauer Fragen, was es mit ihrem leichten Akzent und diesem neuen Namen auf sich hatte.
„Ein Name für das Schiff und die Crew? Wenn du mir jetzt noch sagst, dass du persönlich eine neue Flagge gemalt hast, werde ich vor lauter Staunen heute Nacht keine Auge zumachen können.“
Zahara schmunzelte leicht. „Wir wollen dich doch nicht um deinen Schönheitsschlaf bringen, sonst fallen dir noch die Augen zu... oh, warte.“
„Dann bin ich beruhigt. Gut, mit diesen zwei Namen, den ganzen Kanonen und anderen Waffen, Vorräten, und den Privatspielzeugen von uns beiden… da haben wir doch tatsächlich fast schon eine richtige Piratenmannschaft zusammen.“
„Jetzt müssen wir sie nur noch behalten. Und Timmy loswerden. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.“
Dieser direkte Kommentar verwunderte Kai, der dank Alkohol und brennendem Kraut jedoch nur ein müdes Nicken zustande brachte. „Mhm, keine Einwände. Allerdings wäre ich dafür, sein Ableben noch etwas zu vertagen, bis dir die Crew wirklich hörig ist. Ich weiß, der Großteil springt bereits, wenn du es ihm sagst, aber vereinzelt scheint es auch noch Rückgrat zu geben.“
„Das breche ich einem, dann leckt mir der Rest die Füße.“ Sprach’s, leerte seinen Becher und schenkte sich und Kai noch mal nach. Mittlerweile spürte der Händler deutlich, dass er, was Essen, Getränke und andere die Sinne benebelnde Substanzen anging, bald an sein Limit stieß. Dennoch nickte er dem vollen Becher zu, bevor er sagte: „Meine Güte, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du mich abfüllen willst. Wie kannst du das Zeug nur trinken? Eigentlich war der Fusel nur für die Crew gedacht.“
„Na wenn das so ist…“ Als ob sie nur auf eine Art Herausforderung gewartet hätte, leerte Zahara ihr Glas in einem Zug, füllte es erneut, und reichte den üppigen Rest in der Flasche ihrem Partner. Der schaute etwas skeptisch, nahm dann jedoch das Gesöff und tat es seiner Kapitänin gleich. Glücklicherweise musste er zu seinem Zimmer nur einige Stufen überwinden, doch auch die konnten für ein gebrochenes Genick sorgen. Und das wollte Kai auf alle Fälle verhindern, vor allem nach diesem von Erfolg gekrönten Tag.
„Wenn man die ersten zwei Gläser geschafft hat, gibt's eigentlich kaum noch was auszusetzen. Du hättest und aber ruhig was von dem guten Zeug besorgen können. Warum ist Geld dir eigentlich so verdammt wichtig?“
Eine lächerliche Frage, bei der Kai einen kleinen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. „Was sollte einem bitteschön wichtiger sein als Geld? Geld ist das Fundament von allem. Du kannst alles mit Geld kaufen. Es macht also keinen Unterschied, wer du bist oder was du willst. Geld ist immer die Antwort.“
Auch Zahara schien die doppelte Portion härter getroffen haben, als erwartet, da ihr folgender Kommentar nur als kaum verständliches Murmeln ihre Lippen verließ. Nur drei Worte konnte Kai wirklich verstehen: Dass es doch „wichtigere Sachen gäbe“. Und das gerade von Zahara?
„Was denn? Leute töten?“
„Nicht das Töten an sich. Die dadurch erreichte Triebbefriedigung? Das Gefühl gibt dir Geld nicht.“
Das konnte auch wirklich nur jemand sagen, der mit Geld nicht viel zu tun hatte. Vermutlich hatte Zahara in ihrem Leben nicht einmal 10% von der Summe in Händen gehalten, die Kai an einem guten Tag verdienen konnte. Wenn er nicht gerade von Piraten oder der Marine gejagt wurde.
Lehrerhaft schüttelte der Händler den Kopf und zählte an den Fingern ab: „Erstens kannst du dir mit Geld Waffen kaufen. Zweitens kannst du dir mit Geld Opfer kaufen. Und drittens kannst du dir mit Geld auch noch andere Arten von Befriedigung verschaffen.“
„Kai und seine Huren...“
Mit weniger Alkohol im Blut hätte Kai diese Doppeldeutigkeit eigentlich vorhersehen müssen. So traf ihn der Kommentar relativ unvorbereitet, und als mit ihm die unterschiedlichsten Gedanken an ebenjene Frau in sein Bewusstsein traten, die Zahara an diesem Tag besucht hatte, stand Kai schwankend vom Tisch auf und torkelte in Richtung Tür.
„Du hast heute Lyn besucht. Du solltest wissen, dass ich auf sowas nicht angewiesen bin. Schlaf dagegen, oh ja...“
„Hab ich da gerade getretenen Stolz quieken hören?“ War das wirklich so offensichtlich? Kai war dies in jenem Moment allerdings egal; er wollte plötzlich einfach nur noch in sein Bett fallen und sich für ein paar Stunden hoffentlich traumloser Dunkelheit ergeben.
Angestachelt von einem missmutig begellten „Verschwinde“ gelangte Kai dann tatsächlich sicher an die Tür, öffnete sie, und verließ das Esszimmer seiner Kapitänin, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen.

In Gedanken versunken stieß Zahara die Tür zu ihrer Kajüte auf. Sie hing immer noch an einigen Stellen des eben geführten Gespräches, beispielsweise der Teleschnecke oder dem großen Unbekannten, der es wagte ihre Crew zu bedrohen. Ja, sie betrachtete die Crew als ihr Eigentum. Wenn sie ein Leben als Piratin führen würde, konnte man nie früh genug damit anfangen, wie eine zu denken. Abgesehen davon ging ihr das alles ziemlich leicht von der Hand und sie fand immer und immer mehr Spaß an der ganzen Sache.
Bei dieser Bedrohung hingegen... Wut. Zahara sah ihren Gegnern gerne in die Augen und bekämpfte sie direkt. Nicht zu wissen, wer es auf einen abgesehen hatte war nicht nur ein unbekanntes Gefühl, sondern auch ein ziemlich frustrierendes. Der Kapitänin war die Macht über die Situation genommen wurden und das sorgte nicht unbedingt für gute Laune.
Ein Geräusch aus dem bisher ungenutzten Schlafzimmer unterbrach den Gedankengang und Zahara brauchte einige Momente, ehe ihr Annabelle in den Kopf kam. Sie hatte sich doch um Saliet und Dakā kümmern sollen.
Zahara wechselte das Zimmer und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie die nassen Tiere sah.
„Du hast sie gewaschen?“, fragte sie ungläubig und konnte den Blick nicht vom trocken gerubbelten Fell abwenden. Annabelle schreckte empor; sie hatte die Frau nicht kommen gehört.
„Ja, Miss. Sie sagten, ich solle mich um sie kümmern. War das... ist das ein Problem?“
„Nein, ganz und gar nicht.“, antwortete Zahara amüsiert. Gdân mochten in der Regel kein Wasser und ihre beiden waren da keine Ausnahme. Es überraschte sie deswegen sehr, dass sich die Tiere von einer fremden Frau einfach so in eine Wanne hatten stecken lassen. Annabelle schien zu verstehen. Allgemein machte sie einen lockeren Eindruck als noch zuvor in der Gegenwart Kais.
„Ich hatte früher einen Hund.“, erklärte die Brünette, Zahara ging aber nicht weiter darauf ein.
„Du kannst schlafen gehen. Ich erwarte dich morgen früh wieder in meiner Kabine.“
„Ich bin nicht müde. Ich kann hier noch sauber machen, Miss!“ Ein unterdrücktes Gähnen entlarvte diese offensichtliche Lüge und Zahara runzelte die Stirn. Warum sollte Annabelle mehr Zeit mit ihr verbringen, als nötig? Sie konnte doch nicht tatsächlich... der Kapitänin ging ein Schimmer auf und sie musste über sich selbst lachen. Unter Alkoholeinfluss war der Denkprozess ein äußerst schwerer.
„Du hast deine Nächte bisher immer bei Timmy verbracht und weißt nun nicht, wo du schlafen sollst.“, stellte sie fest und Annabelle nickte nach einigen Sekunden beschämt.
„Hast du Angst, unten bei der Crew zu nächtigen?“, fragte sie und erneut bekam sie ein kleines Nicken als Antwort. Zahara seufzte innerlich ein wenig; sie hätte dieses Problem kommen sehen müssen. Derzeit gab es auf der Slavery nur zwei Frauen und eine davon in den Crewquartieren unterzubringen würde mehr Probleme schaffen als lösen. Allgemein musste Zahara in der nächsten Zeit auf ihre neue „Freundin“ etwas aufpassen müssen, bis diese sich das Selbstbewusstsein und den Ruf erarbeitet hatte, damit die Mannschaft sie in Ruhe ließ. Viele hielten es bestimmt noch für einen Scherz, dass sich Annabelle nun um des Kapitänins Angelegenheiten kümmerte.
Mit ihren schlanken Fingern deutete Zahara auf ihr großes Bett. Darin war genug Platz für Vier – nicht, dass er gebraucht werden würde.
„Du kannst hier schlafen. Keine Widerrede.“ Annabelle hatte schon bestürzt zu einer Protestantwort angesetzt, aber Zahara würde das nicht dulden. Sie hatte im Moment weder die Nerven, noch die Zeit für weiteren Ärger. Außerdem war es vermutlich ein sehr schlechter Zeitpunkt um einem weiteren Matrosen den Kopf abzuhacken, weil er die neu eingestellte Zofe antatschte.
Die verdutzte Frau wurde einfach zurückgelassen; Zahara hatte andere Pläne für die kommende Nacht. Die Alchemieutensilien, die Kai am Tag erstanden hatte, befanden sich nun auf einigen Tischen im Arbeitszimmer aufgebaut und sie hatte vor, sie einzuweihen. Womit sonst sollte sie ihre Zeit vergeuden? Außerdem hatte Kai doch nach irgend einer Droge verlangt, nicht? Da konnte sie auch versuchen, ihm irgend etwas zu liefern.
Sie sortierte Plättchen, Schälchen und Kräuter, mischte und zermahlte einige davon und ließ nicht nur ein gefülltes Reagenzglas leise vor sich hinblubbern, während in einem großen Kolben qahuha-Kaffee über dem Bunsenbrenner aufgekocht wurde.
Da ihre Ressourcen leider sehr begrenzt waren, konzentrierte sich Zahara darauf, ihr geliebtes Kalla-Kraut zu irgend etwas neuartigem zu entwickeln. Sie war nicht darauf aus, großen Profit zu machen, sondern einfach nur einen spaßigen Zeitvertreib zu finden – es war schon viel zu lange her, dass sie sich mit Chemikalien und Pasten auseinandergesetzt hatte. Nicht, dass sie noch einrostete!

Am nächsten Morgen hatte sich in dem kleinen Arbeitszimmer erstaunlich viel verändert. Fast alle Schälchen, die Kai besorgt hatte, waren mit einer grünlich-weißen Paste gefüllt, die sich unter sich aber in einzelnen Farbnuancen und ihrer Konsistenz ein wenig unterschieden. Einige Tassen mit schwarzer Flüssigkeit standen herum – dabei handelte es sich aber einfach nur um Kaffee. Kurz gesagt: Es herrschte Chaos. Alchemistenchaos. Bei all der Arbeit hatte Zahara dann doch glatt vergessen, dass Annabelle es sich in ihrem Bett gut gehen ließ und es auch schon kurz vor neun Uhr war. Zaharas Plan war aufgegangen: Für eine Nacht hatte sie die Gedanken an fremde Marine-Admiräle und Mord und Totschlag verdrängt. Wie gut, dass Kai in Kürze kommen würde, um sie daran zu erinnern.

Trotzdem ein kühler Seewind über das breite Deck der Slavery wehte, stand Kai der Schweiß auf der Stirn. Schwer atmend stand er an der Reling, beide Arme auf das glatt geschmirgelte Holz gestützt, den Blick aufs Meer gerichtet.
Während am gestrigen Abend Alkohol, Essen und Glimmstängel Kai dabei geholfen hatten, seinen angeschlagenen Körper zu vergessen, war die Erinnerung gemeinsam mit einem unschönen Kater an diesem Morgen erneut grausam über ihn hergefallen. Sein sowieso stickiges Zimmer hatte sein Übriges getan, sodass Kai so schnell wie möglich an Deck des Schiffes gestürmt war, um der morgendlichen Kühle etwas Erfrischung abzugewinnen. Leider hatte er dabei außer Acht gelassen, dass das Schiff immer noch im Hafen von Mountainegro angelegt hatte, und jeder Windstoß Asche und Staub mit sich führte und die Luft irgendwie schal schmeckte.
Die Sache nicht besser machte auch die Tatsache, dass er offenbar der einzige war, der wirklich schwer unter den Bedingungen zu leiden hatte. Einige Matrosen, die an diesem Morgen schon an Deck mit ihren Kollegen tratschten, sahen zwar etwas angeschlagen aus, doch niemand übergab seinen Mageninhalt dem Meer. Trotzdem schenkten ihm nur wenige der Männer einen zweiten Blick – ein Vorteil von Kais Status als inoffizielle rechte Hand der Kapitänin und Herr über Geld und Güter. Wäre Kai wie früher als Handelsreisender zu Gast bei den Bussarden gewesen, hätten sich schon längst einige Crewleute über das dürre Weißhaar lustig gemacht, das über die Relign reiherte.
Nach einem weiteren, glücklich überstanden Fehlalarm zog Kai vorsichtig seinen Kopf zurück und sah zum Horizont, wo die Sonne, hinter schweren Schnee- und Aschewolken verborgen, nur langsam Richtung Zenit kroch. So wenig er sich auch darüber freute, es wurde langsam Zeit, Zahara den abgesprochenen Besuch abzustatten. Zum etwa vierzehnten Mal fuhr Kai mit den Fingern seiner rechten Hand über den glatten Körper der kleinen Teleschnecke, die in den Falten seiner Jacke ein kleines Nickerchen hielt. In wenigen Minuten würde das Tier jedoch aufwachen und laut brüllend den Anruf eines völlig Unbekannten ankündigen.
So wenig er sich an jedes Detail des Gesprächs des vergangenen Abends erinnern konnte, so wusste Kai doch, dass ihm die ganze Sache noch immer nicht wirklich gefiel. Zaharas Deutungsversuch, dass die Anrufe Teil eines Racheplans von einem jemanden von Fort Geoff sein könnten, wollte einfach nicht zu den Informationen passen, die ihm seine Kontakte hier auf Mountainegro eingebracht hatten. Wenn beispielsweise Arnold Benedict, der Kommandant von SB-6, der mysteriöse Anrufer war, dann konnte er nicht gleichzeitig wie bisher vermutet bereits von seinen Kollegen in Gewahrsam genommen worden sein. War der kleine Arnold einflussreicher, als selbst Kais Kontakt bei der Marine geglaubt hatte?
Wie man es auch dreht und wendet, diese Sache stinkt.
Es half jedoch alles nichts. Mit einem kehligen Ächzen hievte sich Kai von der Reling, schwankte ein wenig, und stolperte dann mehr in Richtung des kleinen Häuschens, das über dem Achterdeck thronte und Zaharas neue Räume beherbergte. Der Weg gestaltete sich auf den ersten zwei Dritteln schon schwierig, doch als Kai endlich an einer der beiden Treppen ankam, die zum Haus hinaufführten, brauchte er fast doppelt so lange wie für den Rest des Weges.
Oben angekommen stützte sich Kai kurz an der Tür zu Zaharas Wohnzimmer ab, holte mehrmals tief Luft, strich sich die zotteligen Haare zurecht, strich seine Jacke glatt und versuchte, mit einem Kopfschütteln seine Gedanken in Ordnung zu bringen – mit mäßigem Erfolg. Andererseits, warum vergeudete er hier überhaupt Zeit, Ordnung in seine Erscheinung und sein Innenleben zu bringen? Ein Vorteil des Piratenlebens war es doch, dass Sauberkeit und Aufgeräumtheit nicht unbedingt zu den Dingen gehörten, über die man sich Gedanken zu machen brauchte. Einen guten Eindruck bei Zahara musste er zudem auch nicht mehr hinterlassen – die gute Frau wusste, was sie an ihrem Partner hatte, auch wenn der in der zweiten Woche ihrer gemeinsamen Zeit schon nicht mehr auf seine Erscheinung achtete, wenn die beiden unter sich waren. Alles also Zeitverschwendung? Nun, Kai konnte sich die Situation so zumindest etwas schönreden.
Auf sein schweres Klopfen an der dunklen Doppeltüre meldete sich zunächst niemand, und auch ein zweiter und dritter Versuch hatte keinen Effekt. Schlief die Kapitänin etwa noch, oder war sie anderweitig beschäftigt? Hatte sie den Termin schon vergessen? Wieso auch immer Zahara die Tür nicht öffnete, Kai wollte unter keinen Umständen mehr Zeit in der Kälte stehend vergeuden. Kurzerhand betätigte er eine der beiden gusseisernen Klinken, öffnete vorsichtig die Tür, und schob sich durch den kleinstmöglichen Spalt, der ihm Einlass gewährte. Als ihm auch in dieser Situation kein Ruf die Aufmerksamkeit der Fremdländerin verschaffte, betrat Kai ganz das Vorzimmer, schloss die Tür und schaute sich um.
Noch immer wirkte das Wohnzimmer der Kapitänin der ar-Raqim – der Name der Crew ging Kai wesentlich schwerer über die Lippen als der des Schiffes; vermutlich würde er bald auf „die Erhabenen“ ausweichen – etwas trostlos, war es doch viel zu groß für lediglich einen Schreibtisch, einen Sessel und einen wackeligen Schemel. Wenn die Crew in naher Zukunft Geiseln und Geschäftspartner hier empfangen würde, müsste das Zimmer dringend etwas komfortabler eingerichtet werden. Jedoch sollten auch die Matrosen sehen, dass es sich ihre neue Herrin hier gemütlich machte, und sie sie somit nicht so schnell wieder los sein würden.
Leisem Rascheln und Klirren folgend erließ Kai das kahle Wohnzimmer und schlich durch die Tür zu einem der Nebenräume. Während er im Zuge von Levass’ Ermordung bereits im Schlafzimmer des Kapitäns gewesen war, betrat er nun zum ersten Mal den dritten und letzten Raum der Kapitänsgemächer. Dort fand sich schließlich Zahara, die über einen Tisch mit einem Großteil ihrer neuen Laborausrüstung gebeugt war und eine Substanz mit der anderen zu mischen schien. Die unterschiedlichsten Gerüche erfüllten das Zimmer, wobei ein Duft nach Kräutern und das schwere Aroma von frischem Kaffee vorherrschten. Sich der Anwesenheit ihres Gastes offenbar bewusst vertröstete Zahara Kai mit einem leichten Wink der Hand in Richtung einer noch sauberen Tasse, mit der er sich offenbar selbst bedienen sollte. Stattdessen nahm Kai jedoch eins seiner persönlichen Trinkschälchen, tröpfelte ein wenig dunkles Gebräu, und nippte nur ganz, ganz vorsichtig an der Flüssigkeit. Wenn Kai etwas aus dem gestrigen Abend gelernt hatte, dann, dass man in Zaharas Nähe besser vorsichtig mit jeder Art Rauschmittel umging – man konnte nie wissen, wie stark das war, was Zahara einem anbot, oder wie viel davon man letztlich zu sich nahm.
Nachdem der erste Schluck jedoch ohne größere Nebenwirkungen von sich ging, abgesehen von einem überraschend sauberen Geschmack und einem wohlig heißen Gefühl in Mund, Kehle und Magen, füllte Kai sein Schälchen ganz.
„Dein neues Labor scheint dir ja ziemlich zu gefallen. Wie viel hast du schon kaputt gemacht?"
Die als Scherz gemeinte Frage wurde erst gar nicht registriert. Es dauerte eine Weile, bis Zahara, offenbar noch immer in ihre Gerätschaften vertieft, knapp antwortete: „Keine. Hier.“ Eine Hand nach hinten ausgestreckt fuhr sie fort: „Nimm nen Finger und schmier’s dir aufs Zahnfleisch.“
Misstrauisch beäugte Kai die grünlich-weiße Paste, die zäh in einer weißen Schale auf Gebrauch wartete. Der Duft nach Pfefferminz war zwar angenehm, doch wie gesagt, die Erfahrung lehrte Vorsicht im Umgang mit Substanzen, die Zahara anbot. Dementsprechend wenig nahm Kai auf den Finger, bevor er sich zaghaft über die Zähne fuhr. Überraschenderweise verbreitete sich der frische Minzgeschmack sofort in seinem gesamten Mund, was Kai sein übliches Lächeln aufsetzen ließ.
„Keine kaputten Schalen, und dann auch noch das? Als wären die beiden Namen gestern nicht genug gewesen.“
Plötzlich drehte sich Zahara mit einem leichten Grinsen und eine neugiergen Funkeln in den Augen zu ihrem Partner um, welchen sie fast so beobachtete wie ein… ein…
„Merkst du schon was?“
…ein Versuchstier. Oh verdammt.
Tatsächlich glaubte Kai zu wissen, was Zahara meinte. Aus dem vermeintlich frischen Geschmack auf der Zunge wurde rasch ein unruhiges Kribbeln, das sich hinterrücks in seinen Kopf schlich und diesen mit zitterndem Nebel umfing. Der Raum drehte sich kurz vor Kais Augen, der sich rasch an einer Wand abfing, um nicht zu Boden zu fallen. Als ob er nicht angeschlagen genug gewesen wäre!
„Aww, ich... du weißt aber schon, dass wir eigentlich gleich das Gespräch mit unserem... puh... Mister Unbekannt haben, und ich...“
Das schien Zaharas ungehinderter Neugier einen kleinen Dämpfer zu verpassen. „Hm.“ War alles, was sie zu diesem Kommentar zu sagen hatte. Dann: „Ignorier die Halluzinationen einfach, solltest du welche bekommen.“
Halluzinationen? Nein, die gute Frau hatte wahrlich nicht daran gedacht, dass die beiden heute noch mehr vorhatten als zugedröhnt den Tag an Deck zu verschlafen. Mehr und mehr fragte sich Kai, wie Zahara ihr Leben vor Fort Geoff bestritten hatte – eine Fremdländerin mit Akzent, die sich so gut mit Betäubungsmitteln auskannte? Wenn das nicht „zwielichtige Vergangenheit“ schrie, was dann?
Ungläubig schüttelte Kai seinen Kopf, bereute diese Entscheidung jedoch sofort und krallte sich noch fester an einer der Wände fest.
„Natürlich, nichts leichter als das. Nun, wenn... wenn ich richtig liege, haben wir noch ein paar Minuten bevor der Anruf kommt. Irgendwelche Anmerkungen, in welche... welche Richtung ich das Gespräch lenken sollte?“
Diesmal war es Zahara, die den Kopf schüttelte, allerdings ohne dadurch beinah das Gleichgewicht zu verlieren. „Nichts, was dir nicht schon klar ist. Versuch’ einfach so viele Informationen wie möglich zu bekommen.“
Kai zweifelte noch immer daran, dass es so simpel sein würde. Wer auch immer ihn kontaktiert hatte, hatte größten Wert auf Anonymität gelegt. Diese wird er sicherlich nur dann gefährden, wenn es an die eigentliche Übergabe geht, und selbst dann stehen die Chancen gut, dass er einen Zwischenhändler einschalten könnte.
„Um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass unser Freund damit so einfach rausrücken wird.“
„Du solltest ihm doch helfen - allein schon zu wissen, wie du ihm helfen sollst, wäre ein Anfang.“
Zahara hatte offenbar schon vergessen, dass sie genau das bereits wussten. Der Unbekannte wollte, dass ihm Kai die Slavery mitsamt Crew und aller Ladung, die noch an Board war, übergab. Wie er das anstellen sollte, nun, was sollte das wie schon über den Auftraggeber verraten? Sicherlich würde er nicht offiziell ein Marineschiff zur Übergabe schicken, sebst wenn er zur Marine gehörte, ebenso wie er sich vermutlich nicht selbst zeigen würde. Also konnten sie nur aus dem Was Informationen ziehen, doch das gestaltete sich als relativ schwierig, wie der vergangene Abend bereits gezeigt hatte.
Es vergingen noch einige Minuten des Schwiegens, in den Kai und Zahara gemeinsam ins Wohnzimmer der Kapitänsräume wechselten, wo sie noch etwas starken Kaffee tranken, bevor das kleine Tierchen in Kais Jacke zu brüllen begann. Hastig stellte Kai es auf Zaharas schweren Schriebtisch und setzte sich auf seinen üblichen Schemel. Als er die Hand nach dem Mikrofon der Schnecke ausstreckte, merkte er nur zu deutlich, wie sein ganzer Arm zitterte. Krankheit, Übermüdung, Koffein und diese merkwürdige Paste… und alles Dank Zahara. In Zukunft würde Kai noch vorsichtiger sein müssen, was die Angebote und Geschenke seiner Partnerin betraf.
Als er das Mikrofon endlich in der Hand hatte und von der Schnecke nahm, hielt diese augenblicklich in ihrer Wehklage inne. Stattdessen meldete sich eine tiefe, irgendwie verzerrte Stimme zu Wort, die vor allem aus der Mund der Schnecke äußerst ungewöhnlich klang.
„Haben sie es sich überlegt?“
Kai seufzte möglichst leise. Der gute Herr wollte keine Zeit vergeuden und sich definitiv nichts mit Smalltalk aus der Nase ziehen lassen. Soviel zu Zaharas Plan. Es musste doch aber einen Weg geben, dem Fremden irgendeine Informationen abzuringen…
Mit leicht brüchiger Stimme krächzte Kai: „Wenn sie noch mal… noch einmal wiederholen könnten, was genau-…“
„Das wissen sie.“, fiel ihm die andere Stimme prompt ins Wort. Nicht, dass sie Unrecht hatte, aber unhöflich war dieses Vorgehen dennoch. Noch ein Versuch würde trotzdem nicht schaden…
„Nein, nicht wirklich. Sie wollen Schiff und Crew, gut, aber wie-…“
„Das erfahren sie, wenn sie annehmen. Also: Ja oder Nein?“
Kai warf Zahara einen missmutigen Blick zu. Selbst mit völliger Kontrolle über all seine Sinne wäre dem Händler keine Möglichkeit eingefallen, einem derart zugeknöpften Geschäftspartner genauere Informationen abzuringen. Was auch daran lag, dass Kai den Fremden gut verstehen konnte, aus rein geschäftlicher Sicht: Es gab keine bessere Situation als die, in der man über den Feind alles wusste, während der über einen selbst keinen blassen Schimmer hatte. Jede Information an das Gegenüber bedeutete hierbei, einen Trumpf aus der Hand zu geben.
„Also?“
„Schon gut, ja. Ja.“
Im selben Augenblick knackte die kleine Schnecke auf dem Schriebtisch und schloss die Augen, womit das Telefonat beendet war. Ein einfaches Ja. Ein weiterer, unzufriedener Seitenblick traf Zahara, die nachdenklich den Mund verzog.
„Nun, das war einfach.“
„Ich hasse warten.“
Ein einfaches Nicken war eigentlich alles, was Kai darauf antworten konnte. Trotzdem seufzte er zumindest etwas entspannter als noch vor einigen Minuten: „Wäre es das erste Mal...“ Mittlerweile hatte sich Kai bereits daran gewöhnt, dass der aufregende Karrierestart der Erhabenen wohl zum größten Teil aus Warterei bestand – warten auf die Marine, warten auf Informationen aus Fort Geoff, warten auf Zaharas Schwert. Apropos:
„Und jetzt, Frau Kapitän?“
„Jetzt frühstücken wir. Gibt's noch irgendwelche Sachen, die wir besorgen müssen?“ Obwohl es ums Essen ging, klang die Kapitänin nicht allzu glücklich; im Gegenteil.
„Soweit ich weiß nichts, außer deinem Schwert, und diesen... Dokumenten?“ Kai zögerte kurz, während er noch immer auf seinem Schemel saß, dann stand er auf und wendete sich halb zum Gehen. „Wann sollten wir das Ding noch mal abholen?“
„Punkt 12 Uhr.“
„In Ordnung. Dann treffen wir uns, sagen wir... um halb Zwölf?“
Genug Zeit, um vom Hafen aus zu Lyns Werkstatt zu gelangen, ohne sich beeilen zu müssen, ganz zu schwiegen von den insgesamt zwei Stunden, die Kai wahrlich gebrauchen konnte, um sich ein wenig zu erholen. Als Zahara einfach nur nickte, fuhr er fort: „Sehr schön. Dann werde ich den Rest der Zeit nutzen, um... genau, am besten gehe ich noch einmal unser Inventar durch. Immerhin müssen die Waffen noch aufgezeichnet werden, und die Nahrung, und...“ Der Händler verlor sich ein wenig in seinen schlechten Ausreden, während er murmelnd Zaharas Kajüte verließ und dabei eigentlich nur eins im Kopf hatte: Sein Bett zwei Stockwerke tiefer.

Genau zwei Stunden später sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Die Farben waren irgendwie heller, die Luft frischer und weniger zäh, und Kais Körper durchströmten auch nicht mehr unangenehme Hitzewallungen. Auch tanzten vor seinen Augen keine rosafarbenen Tiere mehr, sondern nur die kleinen Flammen der Kerzen, mit denen sein Raum erhellt wurde. Noch etwas ungläubig fuhr sich Kai übers Gesicht und zwickte sich einmal, ohne dass sich das Zimmer dabei veränderte.
Kein Traum. Endlich kein Traum mehr!
Etwa drei oder vier Mal hatte er bereits geglaubt, rundum gesund aufzuwachen, nur um festzustellen, dass er lediglich von einem Traum in den nächsten, und dabei aus dem Bett fiel. Nun jedoch war er endlich wirklich wach, und das auch noch in relativ guter…
Als plötzlich das Schiff unter seinen Füßen heftig zu schwanken begann, wusste Kai, dass er wohl doch noch nicht ganz gesund war. Ob die Nachwirkungen der grünen Paste, Alkohol, oder zuviel Kaffee anzulasten waren, vermochte Kai zwar nicht zu sagen, doch eigentlich war der genaue Grund auch irrelevant. Wichtig war nur, dass Kai seine noch immer mäßige Verfassung Zahara zu verdanken hatte, und dass er diesen Gedanken dringend festhalten musste, um in Zukunft vorsichtiger in der Nähe der Frau zu sein.
Noch immer etwas wacklig auf den Beinen strich sich Kai Kleidung und Haare zu Recht, streckte seine Glieder etwas, und zog schließlich seinen Koffer von unter dem Bett hervor. Neben zehn Waffen, einigem Sprengstoff, Kugeln, Schwarzpulver und verschiedenen Kleidern befanden sich hierin mittlerweile auch knapp neun Millionen Berry. Der Geruch des Geldes belebte Kais Geister besser wieder als jeder andere Duft, erinnerte er ihn doch daran, warum er überhaupt an Board der Slavery war: Nicht, weil er allein schlechter würde überleben können, und auch nicht, weil das Piratenleben ach so aufregender war als das eines gejagten Händlers. Im Moment wirkte seine Position als Schatzmeister einer aufstrebenden Piratencrew einfach als die beste Möglichkeit, den kleinen Batzen Geld in einen großen Batzen Geld zu verwandeln. Eine knappe Million zusätzlich, seid er sich nach Fort Geoff aufgemacht hatte, war dabei nur der Anfang.
Anders als bei seiner Reise von Thomason nach SB-6 und dem ersten Besuch von Mountainegro nahm Kai diesmal, bevor er sein Zimmer verließ, vier der insgesamt acht Pistolen aus ihrem Versteck und verstaute sie in den weiten Falten seiner Kleidung; zwei in Brusthöhe, zwei rückseitig an der Hüfte. Nicht, dass Kai sich vor Lyn fürchtete… nun, zumindest nahm er nicht deshalb die Pistolen mit… der Grund war vielmehr die Tatsache, dass es erst gestern jemand geschafft hatte, ihm unbemerkt eine Teleschnecke unterzuschieben. Dieser jemand glaubte nun, dass Kai für ihn arbeitete, weshalb er ihn wohl noch genauer im Blick behielt. In einer solchen Situation war es unabdingbar, sich zu bewaffnen, bevor man das Haus verließ. Nicht zuletzt schätzte Kai seinen neuen vermeintlich-Auftraggeber so ein, dass dieser kaum zimperlich sein würde, käme er zu dem Schluss, dass sein neuer Angestellter eher eine Belastung denn ein Gewinn sei.
Das Wort „vermeintlich“ erinnerte Kai unliebsam an eine Option, die er bisher rigoros an den Rand seines Bewusstseins gedrängt hatte: Die Möglichkeit, Zahara und die Erhabenen zu verraten und das Angebot tatsächlich anzunehmen. Man mochte zwar glauben, dass es für diese Option längst zu spät war, nachdem Zahara von dem Unbekannten wusste, doch in Wahrheit gab es keinen besseren Ausgangspunkt. Zahara, die so unberechenbare Zahara, fühlte sich sicher und in Kontrolle und glaubte, dass ihr neuer Schatzmeister absolut ehrlich zu ihr war. Doch was wenn nicht? Was, wenn er den nächsten Anruf des Unbekannten verheimlichte? Was, wenn er Zahara nicht verriet, wie das Schiff und die Crew übergeben werden sollte, und wenn er beide einfach in eine Falle laufen ließ? Eine Anstellung bei der Regierung… ein durch und durch lizenzierter Händler mit der Autorität eines Marines… würde er so nicht viel größere Chancen auf Ruhm und Reichtum haben, als ein einfacher Pirat?
Natürlich nicht. Allein die Vorstellung, ein ganzes Schiff mitsamt neuen Waffen und zwar dummen, aber doch kräftigen Seeleuten aufzugeben, nur für ein undurchsichtiges Versprechen auf eventuell mehr? Allein beim Gedanken an solch ein wackliges Geschäft drehte sich Kais leerer Magen um. „Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ – ein einfaches Sprichwort, das aber so viel Wahrheit in sich trug und die Situation einfach perfekt zusammenfasste.
Ein letztes Mal tastete Kai seinen Körper nach den vier Waffen ab und überprüfte ihre Sichtbarkeit, bevor er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, sein übliches Lächeln aufsetzte, und endgültig hinaustrat.

Knapp zwanzig Minuten später befand sich Kai, gefolgt von einer in neue Kleider gehüllten Zahara, die so einige Blicke auf sich zog, auf dem Weg zu Lyn Ballips Werkstatt. Beinahe hätte Kai seine Partnerin auf ihr Outfit aufmerksam gemacht, als die beiden das Schiff verlassen hatten, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. Würde man die aufbrausende Dame damit konfrontieren, dass sie wegen dem Unbekannten besser möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zogen, hätte Zahara sich ein wohl noch aufreizenderes Stück Kleidung ausgesucht, allein aus Trotz.
Also durchstreiften Kai, Zahara und zwei knurrende Hunde die Menge, die sich wie jeden Tag in den Straßen von Anvils Klamm versammelt hatte, relativ ungehindert. Die meisten Männer machten Zahara freiwillig Platz, während sie starrten, und den Rest schreckten die knurrenden Tiere zuverlässig ab. Es war kein Wunder, dass die Gruppe so früher als abgesprochen an Lyns Laden ankam, und nach einem kurzen Gespräch war klar, dass Zahara vor der Tür warten würde, bis Kai sich allein mit Lyn herumgeschlagen hatte.
Unentschlossen stand Kai vor der blankpolierten Eingangstür des Ladens, den er in der Vergangenheit schon so oft besucht hatte. Alles hatte damals mit dem Hinweis eines Geschäftspartners angefangen, der die Manufaktur Ballip für die beste Schmiede auf Mountainegro genannt hatte, zumindest wenn es um Einzelanfertigungen ging. Persönliche Waffen, Maschinerien, kleine Geschenke, alles stellten die Ballips her, die sich ausgezeichnet mit jeder Art von Material und Mechanismus auskannten.
Diese Vielseitigkeit hatte Kai schließlich das erste Mal in den Laden befördert. Als aufstrebender Händler war er sofort davon begeistert, wie hoch die Ballips ihre Kunst schätzten, und was für eine Liebe sie für Details hegten. Vom wem hätte sich besser der Wert von Qualität lernen lassen, als von solchen Handwerkern? In all seienr Begeisterung hatte sich Kai auch nicht von den Gruselgeschichten abschrecken lassen, die die Leiterin der Werkstatt umgaben, welche nach dem Tod ihres Vaters das Geschäft übernommen hatte.
Was für ein Idiot Kai damals gewesen war. Drei angebrochene Rippen hatte er seinem ersten Besuch bei Lyn zu verdanken, beim zweiten ein verdrehtes Handgelenk und eine aufgeplatzte Lippe, und der dritte hätte ihn beinahe einen Finger gekostet. Der vierte Besuch bei Lyn jedoch… nun, es war der erste von vielen gewesen, mithilfe derer Kai zu dem Händler werden konnte, der er heute war: Ein Experte auf seinem Gebiet, der sich mit Waffenqualität ebenso gut auskannte wie dem Wert von Technik.
Trotzdem zögerte Kai, als er vor der Tür stand, bevor er sich doch dazu überwand, die Klinke mit festem griff zu packen, die Tür zu öffnen, und mit einem Lächeln auf den Lippen laut zu grüßen: „Guten Tag, meine Sch-…“
Der Tritt mitten ins Gesicht schleuderte Kai direkt wieder nach hinten aus dem Laden auf die Straße, wo Passanten hastig zur Seite traten. Auch dann mischte sich von ihnen keiner ein, als eine pinkhaarige Frau aus dem Laden stürmte, Kai am Kragen packte, und zurück in ihr Geschäfts zerrte. Als wäre nichts gewesen, schloss sich der Menschenstrom hinter dem Paar, während Kai halb benommen auf einem harten Stuhl irgendwo jenseits der Werkstatt landete. Hatte ihn Lyn den ganzen Weg geschleift? Seine Beine und vor allem sein Hintern brannten zumindest so, als hätte sie genau das getan.
Eine ganze Weile hörte er die Stimme seiner Bekannten nur leise über das Klingen in seinen Ohren hinweg. Ein paar Worte wiederholten sich immer wieder, darunter „Idiot“, „Hohlkopf“ und andere Beschimpfungen, aber auch „Pirat“, „Schlampe“ und „ausländisch“. Erst, als Lyns erster Redeschwall sein Ende gefunden zu haben schien, kam Kai wieder soweit zu Bewusstsein, dass er den Kopf heben konnte, um Lyn anzusehen.
Anstatt wie üblich hinter ihrem metallenen Schreibtisch zu sitzen, die Füße auf die Tischplatte gestemmt, saß sie dieses Mal darauf, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht schief gelegt, den Blick auf Kai fixiert. Kais eigenes Sichtfeld schwankte noch etwas, trotzdem glaubte er, ein paar Gefühle in den Augen der Frau wiederzuerkennen. Wut auf alle Fälle. Ungeduld. Eifersucht? Und Sorge; kein Wunder, nachdem sie ihn gerade quer über eine ganze Straße getreten hatte. Doch noch etliche andere Emotionen waren da, die Kai jedoch kaum zu deuten wusste.
„…du zu? Hallo? Kai? Kai!“
Im verzweifelten Versuch, seine Gedanken zu klären, presste Kai seine Augen fest zu, blinzelte ein paar Mal, und murmelte dann: „Keine… ich meine, ja, ich hör’ dich… uhm… was war die Frage?“
Lyns Kopof sackte herunter, dann stand sie auf, nahm Kai beim Kinn und sah ihm erst in das linke, dann in das rechte Auge. Wer so oft wie sie um sich prügelte, der verstand auch ein wenig von erster Hilfe – oder glaubte zumindest erkennen zu können, wenn jemand eine Gehirnerschütterung hatte. Lyns Meinung nach hatte Kai den Test wohl bestanden, da sie schnell von ihm abließ, um endlich ihren Stammplatz hinter dem Schreibtisch einzunehmen.
Eine ganze Weile saßen die beiden so einfach nur da und schwiegen sich an. Wartete Lyn darauf, dass sich Kai erholte, dass er zuerst etwas sagte, oder sollte dieses Schwiegen eine Art Strafe sein? War der Tritt etwa nicht genug? So oder so würde dieses Teffen wohl nie ein Ende finden, wenn nicht bald…
„Hast du das Geld?“
Kai stutzte, als Lyns Stimme, ernst und beinahe emotionslos, den Raum erfüllte. Der Händler nickte kurz, hob seine verschrammte Hand an seine Jacke, und produzierte exakt das Geldbündel, welches er am Abend zuvor noch Zahara angeboten hatten. Noch immer etwas verwirrt legte Kai das Bündel einfach auf den Tisch und sah Lyn wortlos an. Die drehte sich ebenso still um, griff nach etwas, und legte schließlich ihrerseits etwas auf den Tisch: Zaharas Schwert. Ohne die Schrauben, Zahnräder und Kettenglieder, die aus dem zerstörten Griff herauslugten, war die Waffe nur an der eigentümlichen Klingenform wiederzuerkennen.
Nach einer neuerlichen Welle der Stille war es wieder Lyn, die sie brach: „Zufrieden?“
Mittlerweile wieder einigermaßen bei sich, schaffte Kai es, sein übliches Lächeln aufzusetzen und zu nicken. „Gute Arbeit. Ich hatte nichts anderes erwartet.“
„Ich schon.“
Überrascht schaute Kai seine Bekannte an, die mit den Augen rollte und sich vorbeugte.
„Pirat? Schon wieder? Das hatten wir doch schon. War der große Killing Kai nicht immer auf der Suche nach, naja, ich weiß auch nicht, neuen Erfahrungen? Neuen. Nicht alten. Also, wieso?“ Ein abfälliges Nicken in Richtung des reparierten Schwertes folgte. „Sag’ mir nicht, dass es nur wegen ih-…“
Ein kleiner Blutstropfen flog durch die Luft, als Kai plötzlich auflachte. Wie konnte er auch anders bei dem, was Lyn ganz offensichtlich andeutete? Trotzdem lief ihr Kopf als Antwort puterrot an, was Kai kaum bemerkte.
„Sei bitte nicht albern. Würde ich tatsächlich nur deshalb mein Leben aufs Spiel setzen? Nichts und niemand auf der Welt wäre das wert. Zumindest soweit ich weiß. Vielleicht gibt es ja auf der Grandline… aber nein. Nein. Dass du… niemals. Wirklich nicht. Ernsthaft.“
Was eigentlich als Beruhigung gedacht war, hatte ganz offenbar den gegenteiligen Effekt: Lyn begann leicht zu zittern, ihr Kopf noch immer rot, aber weniger vor Scham. Zumindest aus Kais Sicht. Allerdings dachte der gute Mann auch nicht, dass sich Ly Ballip überhaupt schämen konnte.
Es dauerte etwas, bis sich Lyns Teint wieder normalisiert hatte, und noch länger, bevor sich Kai traute, den Mund zu öffnen – doch auch diesmal kam Lyn ihm zuvor.
„Es bleibt also dabei? Du wirst wieder aufs Meer fahren, als… Pirat… und so versuchen, ans große Geld zu kommen? Zusammen mit dieser Irren, auf einem Sklavenschiff? Schau nicht so; ich hab’ einem meiner Leute gesagt, er soll überprüfen, wie ihr beiden Hübschen überhaupt hergekommen seid. Die vielen Ruder machen die Sache klar. Du weißt hoffentlich, dass das nicht gut enden wird.“
Darauf konnte Kai lediglich nicken. So sehr er an seinem Leben hing, und so wenig er es nur für eine einzelne Person aufs Spiel setzen würde, so wusste er doch auch, dass die großen Chancen immer auch großes Risiko bedeuteten. Andererseits machte es nun wirklich keinen Unterschied, ob er als Händler auf der Flucht vor der Marine das Zeitliche segnete, oder als Pirat auf der Flucht vor der Marine.
„Du bist dir sicher?“
„Ja.“
„Ganz sicher?“
„Natürlich.“
„Und es gibt keine Möglichkeit…“
„Nicht wirklich.“
„…dass du hier bleiben könntest?“
Die vorgezogene Antwort warf Lyn kurz aus der Bahn, bevor sie sich wieder fasste und auf dem großen Sessel zurücklehnte. Ihr Blick drohte Kai regelrecht zu durchbohren, doch der Händler blieb einfach nur sitzen und lächelte. Er kannte Lyn gut genug um zu wissen, dass sie es früher oder später einsehen würde, wenn man ihr keine Wahl ließ. Und tatsächlich: Nach einem tiefen Seufzer drehte sie sich um, bückte sich, und hievte einen schweren Koffer auf den Tisch. Klickend öffnete sich das Stück, und in einer fließenden Bewegung nahm Lyn eine der Waffen darin heraus und richtete sie direkt auf Kai.
„Denk’ dran: Du bist es, der mich dazu zwingt…“

„Warte kurz, ich muss… oh…“
Auf halbem Weg durch den Hafen war es wieder so weit: Zum mittlerweile vierten Mal musste Kai seiner Partnerin und ihren Hunden Einhalt gebieten, um den schweren Koffer von einer Hand in die andere zu nehmen. Das kratzige Leder des Griffs hatte seinen sowie schon lädierten Fingern wahrlich den Rest gegeben, und auch wenn das, was sich in dem Gepäckstück befand, die Mühe allemal wert war, ließ sich der Schmerz darüber kaum vergessen.
Zahara schien das ganze nicht weiter zu kümmern; seitdem Kai ihr ein Bündel Dokumente und ihr Schwert übergeben hatte, war die Frau in beides so vertieft, dass sie gern hin und wieder anzuhalten schien. Kai selbst wusste zwar nicht – noch nicht – was genau in den Aufzeichnungen stand, doch es war offenbar interessant genug, um die Aufmerksamkeit der fremdländischen Dame zuverlässig vom Wehklagen ihres Partners abzulenken. Der hatte mittlerweile den Koffer in der anderen Hand und wies die Gruppe an, weiterzuziehen.
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als Kai und Zahara endlich am Pier von Anivls Klamm ankamen. Nicht, dass die Sonne hinter den schweren Aschewolken wirklich zu sehen gewesen wäre, doch die Bewohner der Insel, Kai eingeschlossen, lernten mit der Zeit den Sonnenstand auch bei Bewölkung zuverlässig einzuschätzen. Nicht einmal zwei Stunden hatte der Besuch bei Lyn in Anspruch genommen, nicht einmal zuzüglich Hin- und Rückweg, was Kais sowieso schon trotz zusätzlicher Belastung leicht federnden Schritt umso leichter werden ließ, je mehr sie sich der Slavery näherten.
Insgesamt war es jetzt schon ein erfolgreicher Tag. Der Besuch bei Lyn war… noch wusste Kai nicht genau, wie er den Besuch in einem Wort zusammenfassen sollte, doch das würde sich am Abend schon noch ergeben. Lächelnd bog er um das vorletzte Lagerhaus vor der Anlegestelle der Slavery, während er sich den Inhalt des Koffers noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Spätestens jetzt war es an der Zeit, eine Werkstatt für sich selbst einzurichten, entweder in seinem Zimmer, oder aber nahe dem Frachtraum, damit die Transportwege möglichst klein waren, wenn größere Reparaturen anstanden.
Der Frachtraum ist besser, allein schon wegen dem Platz. Vielleicht sollte ich mein Bett sogar komplett nach unten verlagern, und das Zimmer als persönliche Schreibstube belassen. Oder es wird ein begehbarer Kleiderschrank. Oder eine kleine Schatzkammer. Oder aber wir machen daraus eiWAS ZUM TEUFEL!?
Lächelnd bog Kai um die letzte Ecke, lief einige Schritte auf die Anlegestelle zu, an der die Slavery auf Kapitänin und Schatzmeister wartete, und erstarrte:
Das Schiff war spurlos verschwunden.

Einen Fuß vor den anderen setzend, durchstreifte Zahara die verwinkelten Straßen der Stadt. Ihre Augen hingen nicht am dreckigen Kopfsteinpflaster sondern auf den vergilbten Seiten in ihren Händen. Diverse Zeichnungen und Querschnitte ihrer Waffe waren darauf zu sehen. Zahnräder wurden genauso detailliert dargestellt wie der im Griff versteckte Mechanismus – der, allem Anschein nach, sehr viel komplizierter aufgebaut war als sie bisher angenommen hatte.
Aus immer anderen Winkeln wurde das Schwert dargestellt, der Fokus lag immer auf anderen Teilen und Zahara blätterte ungeduldig durch den Stapel. Schlau wurde sie nicht daraus. Mit einem unzufriedenen Schnauben und mahlenden Kiefern warf sie die Dokumente wieder zusammen und starrte verständnislos auf die kantigen, abgehakten Buchstaben. George hatte ihr diese Schrift vor Jahren einmal beibringen wollen, doch das war in einer Phase Zaharas Leben gewesen, in der sie von all diesen Sachen nichts hatte wissen wollen. George hatte es nicht noch einmal versucht. Deswegen hatte sie keine Ahnung was da geschrieben stand und das war ein unschönes Gefühl. Informationen in den Händen zu halten ohne sie entziffern zu können? Eine reine Qual. Die Erkenntnis, dass sie früher oder später diese Schriftsprache lernen musste, kam ihr erneut vor Augen und sie warf einen Seitenblick auf Kai. Konnte sie ihm gegenüber so eine Schwäche offenbaren? Sie würde es vermeiden solange es ging, denn obwohl unsere gute Zahara rein gar nichts auf die Meinung anderer gab, so war ihr diese eine Tatsache doch beinahe... peinlich.
Das Gefühl ihres Schwertes in der Hand machte all das aber fast wieder gut. Der raue Griff fühlte sich vertraut an und lag in ihrer Hand, als wäre er für eben diese angefertigt worden. Gedanklich stockte die Frau kurz – war er das vielleicht sogar? Fast schon glücklich sah sie herunter auf die gebogene, breite Klinge.
Uahed.
Sie kannte den Namen des Schwertes. Und noch viel wichtiger: Es besaß einen. Ein leichtes Lächeln zog sich über die Lippen der exotischen Schönheit und sie hob den Kopf um sich dem trostlosen Anblick der grauen Schmiedestadt zu stellen. Allmählich wurde er monoton und langweilig. Anfangs noch hatte Zahara die Steinbauten und das hege Treiben mit Faszination betrachtet, inzwischen war Abneigung an dessen Stelle getreten. Sie war froh darüber, diese Insel mit ihrem Dreck bald hinter sich lassen zu können.
Als das ungleiche Duo um die letzte Ecke bog, ging es der Frau ziemlich ähnlich wie ihrem Partner: Sie erstarrte. Nur für einen winzigen Moment, aber für diesen kurzen Augenblick war ihr Kopf vollkommen leer gefegt. Als nächstes folgte der ruckartige Seitenblick zu Kai – doch dessen Gesichtsausdruck war so echt und schockiert, dass es keinerlei Möglichkeit gab, dass er von dieser... Wendung gewusst haben konnte. Das war übrigens auch alles vernünftige, was Zahara in diesem Moment zu Stande brachte. Ein Seitenblick. Dann fingen ihre Augen Feuer, ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihr ganzer Körper begann zu zittern.
Passanten wurden mit einem Blick bedacht, der von Tod, Zerstörung und blankem Hass erzählte. Keiner wagte es, sie noch einmal anzusehen. Alle senkten den Kopf, beschleunigten den Schritt und eilten weiter. Als Zaharas Kehle ein Laut entfleuchte, der eher zu ihren gdân als einem Menschen gepasst hätte, ließ diese Kai auf der Stelle stehen und eilte hinab in Richtung Hafen. Kai folgte ihr auf dem Fuße, aber für den weißhaarigen Händler hatte sie keine Aufmerksamkeit mehr übrig. Ihre Augen huschten über die dreckigen Arbeiter, Passanten und Schmiede. Ganz offensichtlich suchte Zahara nach etwas – oder jemandem...
„Miss!“, ertönte es plötzlich aus der Nähe und Zaharas Kopf zuckte empor. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie Anna auf sie zueilen sah. Nicht etwa weil sie Sorgen um die Frau gehabt hätte, sondern viel eher weil sie ihre neue Zofe noch am selben Morgen mit einer Aufgabe bedacht hatte: Annabelle Johnson sollte auf das Schiff achten. Sie war vollkommen nass und fror allem Anschein nach bis hinab auf die Knochen. Ihre Lippen waren blau, die Haare klebten ihr am aufgelösten Gesicht.
„Ich hab euch gesucht! Das Schiff!“
Zahara musste sich sehr zusammenreißen um eine stabile Stimmlage zu finden, als sie ihre Hand auf die kalte Wange Annas legte.
„Ich wusste, dass er gelogen hat!“
„Wer?“, presste Zahara zwischen den Zähnen hervor. Anna schluckte einmal tief, ehe sie fortfuhr.
„Timmy.“
Oh wie sie es gewusst hatte. Dieser kleine, pissgesichtige Wichser. Sie hatte den Verrat gerochen. Ihr Kopf zuckte sofort in Richtung Kai und hinter dem klaren Ausdruck der kalten Mordlust konnte er etwas erkennen, das man durchaus als „Ich hab es dir doch gesagt!“ interpretieren konnte. Nur sehr, sehr viel feindseliger, versteht sich. Wollte Zahara den Zwerg nicht aus dem Weg haben und hatte sich von Kai davon abhalten lassen?
„Er hat der Mannschaft gesagt, er handle auf eure Befehle, Miss. Er hat das Schiff auf die andere Seite der Insel fahren lassen – anscheinend um euch dort zu treffen. Ich hab's nicht geglaubt und bin von Bord gesprungen, als sie abgelegt haben.“, berichtete Anna und zitterte nach wie vor am ganzen Körper. Das erklärte das viele Wasser. Dass Zaharas Zofe mit dieser Aktion nicht nur Geistesgegenwärtigkeit sondern auch so etwas wie Treue oder Loyalität bewiesen hatte – obwohl sie ohne Probleme einfach hätte verschwinden können – sollte der Kapitänin der ar-Raqim erst später bewusst werden.
„Andere Seite der Insel?“
„Ja. Außerdem hat er kurz nachdem ihr verschwunden seid irgend eine große Kiste an Bord geladen. Mehr... mehr weiß ich nicht, Miss. Tut mir L...“
„Kai – wie schnell kommt man ans andere Ende der Insel?“, fragte Zahara sofort und beachtete Anna nicht weiter. Sie wollte jetzt eigenlicht nicht mehr reden sondern handeln. Timmy Zunge und Augen herausreißen, seinen Körper zerreißen lassen und ihren Hunden zum Fraß vorwerfen. Und das Schiff finden. Ja, das auch.
Im Endeffekt gab es zwei Wege auf die andere Seite: Man konnte ein Schiff nehmen oder durch die Stollen im Inneren des Berges gehen. Da ein Schiff allerdings extrem viel Aufwand war, entschloss sich Zahara sehr schnell für den Weg durch die Minen von Mountainegro und ignorierte alles andere. Sie pfefferte Kai die Dokumente in ihrer Hand gegen die Brust und dieser verstaute sie in seinem Koffer. Dass er das Innere vor Zahara verbarg, bemerkte die Frau gar nicht – nachdem sie Anna einen Dolch in die Hand gedrückt hatte war sie sofort in Richtung Stolleneingänge aufgebrochen. Ihr ganzer Körper war angespannt und bebte nur so vor blanker Wut.

Die Klinge zog einen roten Strich über die Kehle des Mannes, der von Zahara brutal gegen die steinerne Höhlenwand gedrückt wurde.
„Eine kleine Lagune mit einigen Höhlen! Verbrecher, Piraten und Arbeitslose treiben sich dort herum.“, plapperte der Bergarbeiter heraus. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Man musste Zahara wirklich nicht gut kennen um zu sehen, dass man es sich mit ihr im Moment lieber nicht verscherzen sollte, sollte man an seinem Leben hängen.
„Bring uns hin.“, knurrte sie und als der Mann zu Widerworten ansetzen wollte, rammte sie ihm die Faust gegen das Gesicht, sodass sein Kopf mit einem lauten Knacken gegen den Fels schlug und sein Körper ohnmächtig zu Boden sank. Der zweite Mann machte nicht denselben Fehler, sondern nickte einfach nur so schnell er konnte und eilte voraus.
Gewalt schaffte Antworten und in diesem Fall einen Führer durch die verwinkelten Stollen Mountainegros.

Es dauerte fast den ganzen restlichen Tag um sich durch die schlecht beleuchteten Tunnel zu schlagen. Hin und wieder konnten sie sich ein wenig ausruhen indem sie sich von einem der merkwürdigen Schienen-Karren transportieren ließen, die Zahara noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war aber auch noch nie in ihrem Leben wirklich unter Tage gewesen. Die Hitze hingegen, die hier herrschte war fast greifbar und klebte auf der Haut wie heißes Wachs. Gesprochen wurde nichts. Der Bergarbeiter wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Anna war wie immer still und Zahara hätte so oder so jedes Gespräch an sich abprallen lassen. In Gedanken riss sie dem Zwerg seit Stunden die Eingeweide heraus – das war befriedigender als sich darüber zu unterhalten, wie der mysteriöse Fremde nicht auf Kai gewartet hatte um seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Draußen herrschte bereits Dunkelheit, als sich die Gruppe dem Ende der Tunnel näherte, weshalb Zahara auch erst das Ende ihrer kleinen Reise bemerkte, als sie unter den verrußten Sternenhimmel taumelte...

Mountainegro war schon immer ein hartes Stück Pflaster. Das deutlichste Zeichen hierfür war wohl, dass trotz einer mangelnden Marinepräsenz Recht und Ordnung herrschte. Dies war den zahlreichen Handwerksbetrieben der Schmiedeinsel zu verdanken, deren muskelbepackte Arbeiter für mehr gut waren als ihre Werkzeuge nur gegen Metallschrott zu richten. Das Recht, begangene Verbrechen zu sühnen, lag dabei immer beim Opfer, wobei sich die Frage der Angemessenheit nur indirekt stellte: Zu harsche Strafen wurden von den Nachbarn als ängstlich oder kleinkariert betrachtet werden, während sie Firmen den Ruf verderben konnten; zu große Nachsicht, und man wurde bestenfalls weich genannt, im schlimmsten Fall sah man sich dem Vorwurf gegenüber, die Sicherheit der Insel auf die leichte Schulter zu nehmen.
Aus dieser Praxis ergab sich über die Jahre auch die Tradition, Verbrecher nicht etwa ins Gefängnis zu stecken – eine überaus unwirtschaftliche Praktik, da die Gefangenen nur aßen und schliefen, also Geld kosteten anstatt zu verdienen – sondern entweder als Zwangsarbeiter zu rekrutieren, die den von ihnen angerichteten Schaden abarbeiten mussten, oder, falls der Geschädigte dem Schädigenden keine zweite Chance geben wollte, ins Exil zu schicken.
An der zweiten Option gab es nur einen Haken: Mountainegro war praktisch ein einziger Vulkan. Es gab keine Wälder, in denen man sich verstecken konnte, keine kleinen Dörfer, die nicht irgendwie mit den großen Städten zusammenhingen und entsprechend keine Exilanten aufnahmen, und auch Handelsschiffe gaben sich nur äußerst ungern mit solchem „Gesocks“ ab, aus Angst, Handelsbeziehungen zu gefährden. Damit blieb Verbrechern nur eine einige Möglichkeit: Sich in den endlosen, verwinkelten Höhlensystemen von Mountainegro zu verstecken. Eine solche Existenz war jedoch in vieler Hinsicht wesentlich bemitleidenswerter als ein Gefängnisaufenthalt: In den Höhlen gab es kaum Nahrung, außer Kleintieren und Pilzen. Nur die abgelegensten Höhlen waren nicht kartographiert, sodass ein Gang in die Stadt oft zwei Tage in Anspruch nahm. Zudem war jeder Exilant in den Höhlen praktisch Vogelfrei, da eine Leiche nur selten gefunden wurde – vor allem da es möglich war, diese in einer der zahlreichen Lavagruben für immer verschwinden zu lassen.
Doch auch in dieser ausweglosen Lage haben es manche Menschen geschafft, die Hoffnung nicht zu verlieren und sich eine neue Existenz aufzubauen – und vor dem Ergebnis der Anstrengungen genau solch willensstarker Menschen standen Zahara und Kai nun. „Die Grube“, wie man die Siedlung inoffiziell nannte, war eine riesige Lagune, die zur Hälfte vom schweren Vulkangestein Mountainegros überdacht wurde. Trotzdem der Nachthimmel wie auf ganz Mountainegro von einer undurchdringlichen Wolkenwand verborgen wurde, spiegelte das Wasser der Lagune eine endlose Zahl Sterne wieder: Es handelte sich um Fackeln, Öllampen und andere Lichtquellen, die die Bewohner der Grube überall in der Höhle befestigt hatten. Diese Bewohner – Gastarbeiter, Exilanten, Bettler; der sogenannte Bodensatz der Gesellschaft von Mountainegro – hatten sich damit eine Art eigener Stadt aus Felsen und Treibgut errichtet, die vor Leuten nur so überquoll. Schon einige Meter von dort entfernt, wo Kai und Zahara über die Grube sahen, kauerten Menschen auf der sandig-schwarzen Ascheerde, wickelten sich in ihre löchrige Decken und versuchten, trotz ihrer ausweglosen Lage ein wenig Ruhe und Frieden zu finden. Besser als diese hatten es da schon diejenigen, welche eine kleine Höhle ihr Eigen nannten, oder sogar eine aus Treibholz mühsam zusammengezimmerte Hütte.
Im Zentrum der Höhle lag eine ebenso windschiefe Ansammlung morscher Anlegestellen, die alleine eine Möglichkeit boten, die zackige Küste der Lagune zu überwinden. Entsprechend viele kleine Boote und einige wenige Schiffe lagen hier vor Anker, und trotz der fortgeschrittenen Stunde liefen ruppige Männer und Frauen umher, entluden Fracht, oder bellten grimmigen Matrosen Befehle zu.
Insgesamt war die Grube ein einzigartiger Anblick, doch Kai, einen schweren Koffer in zittrigen Händen, hatte nur Augen für das größte der im Hafen liegenden Schiffe: die Slavery. Von Zaharas und seinem Aussichtspunkt aus wirkte das Achterdeck völlig verlassen, beinahe tot, doch durch einige Luken des Orlopdecks tropfte verräterischer Fackelschein. Irgendwer war an Board. Noch.
Ungeduldig schob Kai die Dienstmagd seiner Partnerin und den zwangsrekrutieren Fremdenführer beiseite und stürmte einen der zahlreichen Pfade hinunter, die durch die provisorische Stadt direkt zum Hafen führten. Der Hinweis, dass nur ein Anwohner sich erfolgreich durch die verwinkelten Gassen schlagen konnte, welcher Zaharas jüngstes Opfer ihm hinterherrief, ignorierte der Händler geflissentlich: Ein Blick hatte ihm gereicht, um einen Weg durch das Labyrinth aus Fels und Holz zu finden – für Kais geschultes Auge war dies nicht schwieriger, als das Innenleben einer Pistole zu verstehen, Lyns Ausbildung sei Dank.
Trotzdem es so wirkte, ignorierte Kai den Rest der Gruppe nicht; er achtete jedoch nur darauf, dass Zahara und ihre Hunde mit ihm Schritthalten konnten. Der Fremdenführer, den Zahara erfolgreich eingeschüchtert hatte, um den schnellsten Weg hierher zu finden, war nun sowieso wertlos, und was Anna betraf… die Frau hatte ihm den ganzen Weg über böse und misstrauische Blicke zugeworfen, als würde sie, anders als Zahara, den Händler noch immer der Mittäterschaft im Diebstahl der Slavery verdächtigen. Kai hätte darauf nicht weniger geben können – diese Anna war nicht mehr als Zaharas Spielzeug, und Spielzeuge hatten keine eigene Meinung, geschweige denn eine, die man beachten musste.
Zahara und ihre Hunde andererseits… abgesehen davon, dass die Dame nicht so irrational wie ihr Gefolge war und ganz offenbar nicht glaubte, ihr Partner würde sie hintergehen, verfügte Zahara doch zudem über einen wesentlich größeren Nutzen. Und das nicht erst seitdem ihr Schwert wieder repariert war. Ihre Hunde hatten schon dem ein oder anderen Mann die Kehle aufgerissen, und auch waffenlos hatte Zahara es geschafft, Levass in ein Häufchen Hackfleisch zu verwandeln. Beides wäre bei dem, was vor Kai und seiner Partnerin lag, von wesentlichem Vorteil.
Doch was war das überhaupt? Was war es, das Zahara und Kai wegen dem Diebstahl ihres Schiffes unternehmen sollten? Kai hatte sich den ganzen Weg zur Grube genau darüber Gedanken gemacht. Zumindest ein Aspekt der Lösung dieses Problems schien eindeutig: Das Nachbeben, sprich die Bestrafung der Crew, würde Zahara obliegen. Sie war nicht nur die Kapitänin, sondern schien auch ein Händchen für Folterung zu haben. Doch was lag zwischen dem Sturm auf das Schiff und die Bestrafung der Männer?
Unter normalen Umständen hätte Kai zur Vorsicht geraten. Unter normalen Umständen hätten er und Zahara erst beobachten müssen, wer an Bord war, wie viele Männer es zu überwältigen galt, und wo Timmy steckte, der vermeintliche Kopf hinter dem gesamten Diebstahl. Unter normalen Umständen hätte Kai nicht zum fünfundvierzigsten Mal nervös seinen Mantel nach seinen Waffen betastet.
Doch von „normal“ konnte seit Kais Inhaftierung auf Fort Geoff doch eigentlich sowieso keine Rede mehr sein. Die Flucht mit Zahara, der Tod von Levass, sein plötzlicher Posten als Schatzmeister einer Piratencrew… der Ausdruck „sich überschlagende Ereignisse“ war exakt für solche Zeiten geschaffen worden. In all dieser Verwirrung stand jedoch eine Sache felsenfest:
Das Schiff, die Crew und die Fracht gehörten ihm. Zahara mochte da anderer Meinung sein, Timmy mochte da anderer Meinung sein, und sogar die Crew selbst mochte da anderer Meinung sein. Nicht jedoch Kai. Ohne ihn würden die sogenannten Erhabenen nicht einmal existieren – ihre Geburt hatten sie allein Kai zu verdanken, womit waren sie automatisch sein Eigentum waren. Und was passierte, wenn jemand tatsächlich glaubte, Kian „Kai“ Kaiyori um sein Eigentum bringen zu können…
Einen knappen halben Kilometer vom Schiff entfernt blieb Kai im Schatten einer löchrigen Bootshütte stehen und drehte sich zu Zahara um. Ein paar geschickte Griffe später spuckte der Koffer, den er noch immer nicht aus der Hand geben wollte, zwei lederne Riemen aus, mit denen er sich das Gepäckstück wie einen Rucksack umschnallen konnte. So präpariert tastete er nochmals seinen Waffen, bevor er Zahara ganz genau in den Blick nahm.
„Also dann, Frau Kapitän: Darf ich fragen, wie genau du das Schiff wiederzuerringen gedenkst?“