Matsu-Atoll » Episode 003: Zuhause ist, wo...?

Eine Woche auf See. Sieben Tage. Eine Menge Zeit, die man mit verhältnismäßig vielen Menschen auf verhältnismäßig kleinem Raum verbringen musste. Und von diesen Zeitspannen würde es noch viele weitere geben. Zahara hatte das Gefühl, die Zeit auf hoher See würde langsamer vergehen. Das, obwohl die Kapitänin höchst produktiv war. Sie fertigte Salben gegen Entzündungen und zur Desinfektion an (auf einem Schiff zog man sich häufiger Kratzer oder Schnittwunden zu, die schnell versorgt werden mussten), übte jede Nacht viele Stunden den Umgang mit Uahed und kümmerte sich um die Mannschaft. Dies erachtete sie als notwendig, denn nach ihrer kleinen Foltereinlage mit Timmy, hatte ihr die Crew oft nur angsterfüllte Blicke zugeworfen und war ihr aus dem Weg gegangen. Das war zwar auf der einen Seite hervorragend (niemand, wirklich niemand auf diesem Schiff würde es wagen, Zahara zu hintergehen, widersprechen oder überhaupt nur schief anzusehen), auf der Anderen war es aber auch problematisch. Eine Herrschaft konnte nicht nur auf Furcht alleine aufgebaut werden. Untertanen mussten ihre Könige sowohl fürchten, als auch lieben. Das war Zaharas Ziel. Die ar-Raqim sollten eine Glücksgefühl erleben, solange sie auf der gleichen Seite wie Zahara standen und sich den eigenen Tod wünschen, sollten sie diese wechseln.
Deshalb begann Zahara am nächsten Abend bereits damit, gemeinsam mit der Mannschaft zu essen, immer mal wieder etwas Alkohol oder Tabak springen zu lassen und die Männer mit Geschichten zu unterhalten. Favoriten waren dabei der Kampf gegen Levass oder Lonay, von dem wohl niemand genug bekommen konnte. Bei Ersterer wurde etwas geflunkert, die Zweite hingegen wahrheitsgemäß wiedergegeben. Auch Kais Rolle wurde dabei nicht vernachlässigt. Zahara hatte gemerkt, dass dem Händler immer mehr Respekt entgegen gebracht wurde und war der Meinung, dass das nicht schaden konnte. Ein Ehepaar wollte schließlich niemand streiten sehen.
Ihr Training mit Uahed wurde auf die nächtlichen Stunden gelegt, wenn so gut wie niemand mehr die Augen offen hatte. Lediglich die wenigen Wachposten, die nachts Ausschau halten, konnten stundenlang beobachten, wie Zahara am Bug des Schiffes stand und ihre Waffe durch die Luft sauste, bis sich die Kapitänin schweiß überströmt wieder zurückzog. Diese Information machte natürlich schnell die Runde und bestärkte Zaharas Ruf als Kriegerprinzessin.
Annabelle fand in dieser Woche immer mehr Selbstvertrauen und sprach auch etwas öfter, wenngleich nur Zahara dieses Privileg genießen durfte. Männern gegenüber war die Zofe nach wie vor mehr als nur abgeneigt (wer konnte es ihr verdenken?), weshalb wohl auch das Training mit Kai etwas problematisch gewesen war. Zahara hatte ihn nämlich gebeten, Anna den Umgang mit Schusswaffen beizubringen und ihr eine Pistole zu besorgen. Einige Manöver mit kurzen Klingenwaffen hatte sie der jungen Frau selbst beigebracht.
Lonay hingegen ging seinem Job als Sklaventreiber mit einer inneren Leidenschaft nach, die Zahara faszinierte. Er schrie, brüllte und spuckte, aber die Mannschaft tat, was er sagte. Es wurden oftmals Proben eingelegt und nach einigen Tagen waren die ar-Raqim zumindest in der Lage, geordnet die Ruder zu bedienen und der Slavery zu einer verblüffenden Geschwindigkeit zu verhelfen. Auch der Umgang mit Kanonen wurde geübt und zu Kais Verdruss wurde auch zwei mal das Zielen und Abfeuern einstudiert. Bei all den Übungen war Zahar vor Ort. Nicht nur, um die Crew und Lonay bei der Arbeit zu beobachten, sondern auch um selbst einige Informationen aufzuschnappen. Was war denn eine Kapitänin, die den Unterschied zwischen Bug und Heck nicht kannte? Genau. Gut, dass diese Zeiten vorbei waren.
Was Zaharas Vergangenheit anging, so machte sie leider sehr geringe Fortschritte. Sie hatte sich die Unterlagen Lyns von Annabelle übersetzen lassen (die Zofe war klug genug um diese Aufgabe nicht mit einem Kommentar zu versehen), allerdings handelte es sich dabei hauptsächlich um technische Zeichnungen und Erklärungen. Lediglich eine Vermutung wurde bestätigt: Uahed kam allem Anschein nach von Gazierah. Das war es aber leider auch schon, was der Vater der Schmiedin hatte herausfinden können. Zahara war einige Zeit etwas niedergeschlagen gewesen, fing sich aber relativ schnell wieder.
Mit Kai hatte sie eher wenig zu tun, auch wenn sich die beiden nicht aus dem Weg gingen – es gab schlichtweg nichts zu besprechen. Dies änderte sich erst, als Matsu nur noch einen Tag entfernt war und Zahara Annabelle losschickte um Kai zu holen. Als die beiden wenige Zeit später zurückkamen, lächelte die Kapitänin ein wenig und füllte zwei Gläser mit Wein, wenngleich Kai sich wohl nicht betrinken wollte. Er baute ab!
„Ich lasse euch beide dann mal allein. Saliet, Dakā!“, sagte Annabelle und verließ mit den beiden Hunden den Raum. Die Tiere gehorchten zwar nur Zahara, ließen sich aber von Anna pflegen und füttern – mehr konnte die Kapitänin nicht erwarten.
„Wie ich sehe, gewöhnt sich dein Spielzeug langsam an sein neues Leben.“, merkte Kai an und Zahara nickte lächelnd. „Tut es.“ Dann nahm sie ihr Glas in die Hand und begann von dem mittelmäßigen Wein zu kosten. Guter Alkohol stand definitiv auf ihrer Einkaufsliste und wenn Kai damit ein Problem hatte, konnte er sie mal kreuzweise. Doch deswegen war er nicht hier. „Wir erreichen in etwa einem Tag Matsu. Du sagtest, du kennst dort jemanden? Magst du mich über anfallende Kosten und den groben... Plan aufklären?“
Kai antwortete gelassen, während er immer mal wieder an seinem Glas nippte. „Viel gibt es da nicht zu klären. Die Insel ist, wie gesagt, bekannt für ihre hervorragenden Zimmermänner und ich kenne mehr als einen, der die Reparatur übernehmen könnte. Ich werde mich dementsprechend einen Tag lang einfach mal umhören und Preise vergleichen. Was die Kosten angeht, puh... ich kann mir nicht vorstellen, dass es mehr als eine Viertel Million wird. Maximal.“, erklärte er und Zahara schien zufrieden.
„Klingt gut. Dann bleibt ja traumhaft viel für vernünftiges Essen, etwas Einrichtung und einen neuen Koch übrig.“ Kais Reaktion war weniger zufrieden – wann immer es ums Geld ausgeben ging, wirkte er wie ein getretener, in die Ecke gedrängter Hund.
„Und vergiss nicht einen ausgebildeten Arzt, einen vernünftigen Navigator, und den ein oder anderen Zimmermann. Es sei denn, Anna soll sich weiterhin um deine Wunden kümmern und ich um die Seekarten.“ Wenigstens verstand er die Notwendigkeit, einige Posten auf der Slavery besetzen zu müssen.
„Kennst du diesbezüglich auch jemanden?“ Die Annahme, dass Kai einfach für alles etwas oder jemanden kannte, lag doch nicht allzu fern, oder?
„Ich kenne einige Leute für jeden der Jobs, jedoch ist keiner von ihnen so talentiert, das sich ihnen... unser Schiff mitsamt Crew anvertrauen würde.“
„Schade. Müssen wir uns wohl auf die Suche machen.“, sagte die Kapitänin und leerte ihr Glas, ehe sie sich mal wieder nachschenkte. „Ich wollte dich noch fragen, was uns auf Matsu wirklich erwartet. Versteh mich nicht falsch, dass du überall und für alles jemanden kennst ist traumhaft – macht vieles sehr einfach. Aber ich habe das Gefühl, dass „Bekannte“ bei dir nie einfach nur „Bekannte“ sind.“, sagte Zahara lächelnd. Fräulein Ballyp war ihr im Kopf geblieben. Kai wirkte hingegen etwas überrascht.
„Lyn hat wohl einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen, wie? Nun gut. Lass es mich so sagen: Es gibt Bekannte, und es gibt... 'Bekannte'. Die Leute, die ich für die Reparatur der Slavery anheuern werde, gehören zur ersten der beiden Kategorien. Glaub' mir, nach unserer glorreichen Seeschlacht will ich nichts weniger als Aufmerksamkeit erregen. Dazu gehört auch das Vermeiden allzu guter und persönlicher Kontakte.“
„Gute und persönliche Kontakte, die uns Ärger bereiten können und denen wir auf Matsu aus dem Weg gehen sollten?“, hakte Zahara nach und ihre Intentionen waren wohl deutlich zu erkennen. Einfach im Sinne von Einfach war bei Kai einfach selten der Fall.
„Denen ich aus dem Weg gehen sollte, schließlich kennt dich hier niemand - zumindest gehe ich davon aus, da du ja noch nie von Matsu gehört zu haben scheinst. Ich gebe zu, dass es auf Matsu Leute gibt, die mich nicht unbedingt sehen sollten. Das ist aber mein persönliches Problem, weshalb ich mich auch allein darum kümmern werde.“
Zahara zuckte nur zustimmend mit den Schultern. „In Ordnung. Lediglich eine Bitte: Sag im Vorfeld Bescheid, sollte es Ärger geben – für dich oder die Crew. Ich will mich nicht in deine Probleme einmischen, würde dich aber gern lebendig haben. Deal?“
Kai wirkte erneut deutlich überrascht und man hätte sein Lächeln fast als so etwas wie „warm“ bezeichnen können. Fast. Wirklich nur fast. „Keine Sorge. Es wird keinen Ärger geben. Selbst unter meinen engeren Kontakten ist Lyn ein echter Einzelfall.“
„Irgendwie glaub ich dir das nicht.“, antwortete die Fremdländerin und trank schmunzelnd weiter. Ob es auf Matsu ausnahmsweise mal tatsächlich keinen Ärger geben würde? Bisher war die Bilanz der ar-Raqim schließlich nicht sonderlich friedlich. Menschen um sie herum starben wie die Fliegen. Good times!
Kai verließ die Kabine Zaharas wenig später und als die Insel Matsu am nächsten Tag in Sicht kam, zog Zahara sich ihre schönsten Kleider an und trat gemeinsam mit Anna und ihren gdân aufs Deck, von wo aus sie gemeinsam mit Kai den nächsten Ausflug in Angriff nehmen würden.

Auch einige Stunden nach ihrer Besprechung, tatsächlich sogar am nächsten Tag, als der Ruf „Land in Sicht!“ die Crew der Slavery in Aufregung versetzte, musste Kai immer wieder kichern, wenn er an die Sorgen seiner Kapitänin dachte. An die Sorgen, und wie berechtigt sie eigentlich waren.
Das Matsu-Atoll bestand zwar aus vierzig Inseln, doch eigentlich gab es nur eine, die für die Erhabenen wichtig war – und ausgerechnet auf dieser einen war Kai ein überaus bekanntes Gesicht, zumindest in gewissen Gegenden. Aufgewachsen als Sohn eines der einflussreichsten Händler von Matsu 1 kannten ihn einfache Zimmermänner genauso wie erfolgreiche Geschäftsleute, doch glücklicherweise kam den meisten von ihnen beim Namen Kian Kaiyori nur das Gesicht eines ehrgeizigen, kleinen Jungen in den Sinn, und nicht das eines ausgewachsenen Mannes. Dennoch würden ihn einige seiner alten Kontakte erkennen, ganz zu schweigen von neueren, die er sich in seiner Zeit als freier Händler zugelegt hatte, um ohne die Gefahr einer Enttarnung die Vorteile der Insel nutzen zu können.
Wieso Kai verhindern wollte, dass man ihn erkannte? Nun, ganz einfach: Bisher hatte der Händler einen sauberen Strich zwischen seine Vergangenheit als Kind, und seiner Gegenwart als Händler und Pirat ziehen können. Kian Kaiyori war keine eigenständige Person, sondern nur ein „Sohn von“. Killing Kai dagegen war ein eigenständiger Charakter, ein Händler sondergleichen und mittlerweile erneut ein geldgieriger Freibeuter. Diese klare Trennung von damals und heute war dem Händler lieb und teuer, und er würde einige Umstände in Kauf nehmen, diese aufrechtzuerhalten.
Hierfür gab es auf zwei Ebenen zu arbeiten: Einerseits durfte die Vergangenheit nicht von der Gegenwart erfahren, und andererseits ging die Gegenwart die Vergangenheit nichts an. Um den zweiten Punkt hatte sich Kai bereits gekümmert, indem er Zahara und der Crew bis heute seinen vollen Namen nicht verraten hatte. Tatsächlich kannte nur eine Handvoll Geschäftskontakte Kais Familiennamen, beispielsweise Lyn Ballip oder Kais bester Kontakt bei der Marine, Henry Jacobson. Trotzdem fühlte Kai seine Identität in dieser Hinsicht gut geschützt.
Mit einem Besuch von Matsu drohte jedoch immer die andere, erste Gefahr: Dass seine Familie oder deren Geschäftspartner erfuhren, dass der von Piraten entführte Kian Kaiyori eben nicht ermordet worden war, sondern sich noch immer eines recht aufregenden Lebens erfreute. Würde jemand aus jenem Personenkreis jedoch ebendieses Gegenteil herausfinden, würde sich Kai mit Fragen, Nachforschungen und anderen Problemen konfrontiert sehen, die viel zu viel seiner kostbaren Zeit in Anspruch nehmen würden.
Warum also war Kai dennoch ruhig, ja fast zu ruhig, als die Slavery langsam dem Hafen von Honmatsuri entgegenfuhr? Warum war er sich so sicher, dass ihn niemand erkennen würde?
Die Antwort auf diese Frage verbarg sich im schwarzen Koffer, mit dem Kai seine Kajüte an jenem Tag verließ, um sich zu Zahara und ihrer Zofe an Deck zu gesellen und die immer größer werdende Insel zu beobachten. Gleichzeitig konnte man den Grund jedoch auch immer besser sehen, je näher das Schiff der Hauptstadt von Matsu kam. Schon von weitem kündeten bunte Fahnen und Girlanden von irgendeiner Art Festlichkeit, und je näher die Erhabenen ihrem nächsten Ziel kamen, desto lauter wurde die Kakophonie aus unterschiedlichen Liedern, die jedes Jahr um diese Zeit die Straßen von Honmatsuri erfüllte. Wen weder Schmuck noch Musik davon überzeugte, dass an Land irgendetwas im Gange war, der wurde spätestens dann eines Besseren belehrt, als festliche Raketen sich in den morgendlich blauen Himmel schraubten und bunte Rauchwolken auf ihrem Weg hinterließen.
Während sich die Slavery gemütlich an einen der vielen Piers des Hafens von Honmatsuri schmiegte, ließ sich Kai endlich dazu herab, die fragenden Blicke von Annabelle, großen Teilen der Crew und vermutlich auch Zahara zu beantworten. Während er in seinem Koffer kramte, ließ der weißhaarige Händler mit fröhlicher Stimme verlauten:
„Zwar lautet der offizielle Name ‚Ama-shi ga mei Uotsura no Saiten’, doch im Volksmund nennt man es einfach das Festival der Flossen, oder auch Fischfest. Eine Woche lang feiern die Leute sich, ihre Traditionen, ihren König, ihre Insel… im Grunde feiern sie alles, was ihnen auch nur ansatzweise einen Grund dafür gibt. Angeblich soll es auf echten und ernsthaften Traditionen der Ureinwohner von Matsu beruhen, doch hier in Honmatsuri ist das Fest für jedermann einfach der Grund schlechthin, sich sieben Tage am Stück hemmungslos zu betrinken und Scham und Anstand fahren zu lassen. Trotz dessen sind die Tage des Festivals auch wie des größten Umsatzes für die meisten Geschäfte. Vor allem die Fischereibetriebe kurbeln das Geschäft mit Sondernageboten und privaten Partys an, die natürlich keiner verpassen darf, der etwas auf sich hält.“
Kai ließ die Worte sinken, während er in seinem Koffer endlich das fand, wonach er gesucht hatte: eine orange funkelnde Maske, die eindeutig einem Goldfisch nachempfunden wurde. Mit einem breiten Grinsen setzte er sich das Objekt auf, welches eigentlich nichts weiter war als ein paar zusammengeklebte Holzreste aus dem Frachtraum, geschnitzt und bemalt von Kai höchstpersönlich. Als die Maske einigermaßen saß, schlug er die Kapuze seines Mantels hoch und deutete Zahara und Anna gegenüber eine knappe Verbeugung an.
„Es ist Tradition, sich zu dieser Zeit nur in Kostümierung auf die Straße zu begeben. Ohne eine solche wird man schnell als Außenseiter erkennt. Mit der einfachsten Maske jedoch geht man in der Ansammlung an abstrusen Verkleidung rasch unter.“
Ein Blick in Richtung Hafen verdeutlichte, was der Händler meinte: Während einige auswärtige Matrosen, die mit dem Be- und Entladen ihrer Schiffe beschäftigt waren, mit einfachen Hosen und Kopftüchern eigentlich vollkommen normal aussahen, standen sie unter ihren einheimischen Kollegen, die allesamt farbenprächtige Masken und teilweise bunte Ganzkörperkostüme trugen, ganz deutlich heraus. Doch das Fest der Flossen wäre nicht das Fest der Flossen gewesen, wenn sich gerade am Hafen auch zu dieser Zeit nur arbeitende Personen befunden hätten. Stattdessen konnte man sogar vom Deck der Slavery aus zahlreiche feierwütige Menschen beobachten, mal in extravaganten Kostümen die fast den ganzen Körper bedeckten, mal in leichter Bademode, die mit funkelnden Tätowierungen bemalte Haut zeigte. Alle trugen sie jedoch auffallende Masken, die ausnahmslos einer bestimmten Fischart nachempfunden war.
Als einer der Matrosen endlich seinen Blick von einer Gruppe besonders leicht bekleideter Damen hatte loseisen können, um zwischen Achterdeck und Pier eine lange Holzplanke auszulegen, nickte Kai den beiden Damen an seiner Dame freundlich zu und machte sich mit auf den Weg in den Hafen. Einmal drehte er sich jedoch noch zu den Frauen um:
„Ich werde irgendwann heute Abend wieder da sein. Was ihr bis dahin anstellt, soll mir ausnahmsweise gleich sein. Zumindest solange wir am Ende des Tages nicht wieder dem Schiff hinterher jagen müssen.“

Mit neugierigem Blick streifte Zahara gemeinsam mit ihrer Zofe Annabelle durch die Straßen Honmatsuris. Die Besucher des Festes waren ausnahmslos gehobener Stimmung, tranken, sangen und feierten, was das Zeug hielt. Die Kapitänin verstand es nicht so Recht. Warum musste man sich merkwürdige Fischmasken über den Kopf ziehen um sich zu besaufen? Sie hatte das viele Jahre auch ohne Maske geschafft. Trotz dieser … Verständnislücke zierte eine gezackte Hecht-Maske den Kopf Zaharas, die mit ihrer extravaganten Kleidung und ihrem Körperschmuck hervorragend in die aufgetakelte, verrückte Menge passte.
Auf dem gesamten Fest waren überall auf den Straßen und Plätzen Stände verteilt. Man konnte frischen Fisch, belegte Brötchen oder diverse Spirituosen erstehen – und Zahara kaufte von allem etwas. Glühwein füllte ihren Magen gemeinsam mit Matjes-Brötchen und die gemischten Salate waren deutlich besser als das, was es an Bord der Slavery gab. Auch Anna ließ es sich gut gehen und als die beiden genug von den Feierlichkeiten hatten, schlugen sie den Weg in eine der vielen Seitengassen ein. Auch hier war es gut belebt, doch in den diversen Läden konnte man in Ruhe die Ware besichtigen. Zahara erstand weitere Kleider, zwei alte Alchemiebücher, neue Vorräte für ihr kleines Labor, einen ganzen Haufen teuren und qualitativ hervorragenden Alkohol (Rum, Whisky, Wein) und gab einiges an Geld für Einrichtung aus. Regale, einen bequemeren Sessel für ihr Arbeitszimmer und zwei vernünftige Stühle um Bitsteller (Kai) zu empfangen. Später würde sie einige der ar-Raqim vorbei schicken um die Sachen abzuholen.
Der Ausflug durch die Stadt dauerte viele Stunden und als Zahara am Abend wieder zum Schiff zurückkehrte, war die Sonne längst in Richtung Horizont gewandert und badetet die Welt in orangenes Licht. Der Alkohol hatte ihren Kreislauf wieder verlassen, weshalb sie voll bei Sinnen war, als Lonay an sie heran trat.
„Fräulein? Habe so nen Jungspund in eine der Kabinen eingeschlossen. Wollte mit euch und nur mit euch sprechen, kannte sogar euren Namen. Denke, er will hier anheuern. Hat nämlich ziemlich viel Möchtegern-Piratenschwachsinn geredet.“
Die Kapitänin nickte etwas verwirrt, machte sich aber auf den Weg zum Orlopdeck und den Offizierskabinen. Jemand wollte freiwillig auf diesem Schiff arbeiten? Das klang fast zu gut um wahr zu sein. Woher sollte Zahara auch wissen, dass auf Inseln stets einige arbeitslose Matrosen herumgeisterten und auf der Suche nach Arbeit waren?
Als die Fremdländerin die Tür aufschloss und einen ersten Blick hinein warf, konnte sie allerdings keinen Matrosen erkennen. Stattdessen saß dort ein weißhaariges Kind und schaute abwechselnd aus dem Fenster und zur einzigen Kerze im Raum, während er gedankenverloren mit den Beinen schlackerte. Als er Zahara bemerkte, richtete er sich rasch auf, strich sich die Klamotten zurecht und sah sie ziemlich überrascht an.
„Ah, endlich, Frau Azhir, sind sie, äh, hier. Ich freue mich, endlich ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“ Es dauerte viele Sekunden, bis die Frau sich zu einer Antwort herab ließ, denn sie musste den Kerl erst einmal vom Scheitel bis zur Sohle mustern. Er hatte schneeweißes Haar, ein süßes, junges Gesicht und blaue Augen. Sein Körper besaß kaum ausgeprägte Muskelpartien – er verbrachte wohl den Großteil seiner Zeit im Haus, denn gebräunte Haut sah anders aus.
„Wie alt bist du?“, fragte sie. Vierzehn? Fünfzehn? Älter durfte er kaum sein.
Der Junge zupfte etwas nervös an seinen Hemdärmeln herum, bevor er den Mund auf machte.“Wie alt...? Nun ja, alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn ich auch direkt darauf zu sprechen kommen dürfte?“ Zahara war ganz offensichtlich nicht begeistert sondern genervt, nickte aber und ließ ihr Gegenüber fortfahren. Dieses ergriff auch prompt und mit breitem Lächeln die Gelegenheit. „Sehr schön. Nun, ich würde mich gern in ihre Dienste stellen. Matrose werden, meine ich. Oder eine Art von Hilfe. Kurzum: Ich möchte mich für ihre Crew bewerben.“
Als Antwort sah er einen geschüttelten Kopf. Zahara hatte weder Zeit noch Nerven für so etwas. Hatte sie etwa Nutzen für kleine Kinder hier? Nicht einmal ein bisschen. „Verschwinde, Kleiner.“ Das Lächeln des Jungen bröckelte, doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Zahara zog ungeduldig eine Augenbraue nach oben. Der Typ war zwar noch jung, das würde ihn aber nicht sehr lange schützen.
„Das kann ich leider nicht. Es sei denn, sie meinen mit 'verschwinden', dass ich mich wieder bei diesem bauchigen Kerl melden soll, um mir meine Uniform abzuholen. In dem Fall bedanke ich mich natürlich für ihr Vertrauen, und freue mich, ein Teil ihrer Mannschaft zu sein.“
Mit einer Mischung aus Ärger und Interesse musterte Zahara den Jungen. Er hatte Mumm – oder war einfach nur stur und bescheuert. „Das kannst du nicht, weil...?“
„Ich kann nicht verschwinden, weil ich gerne Pirat werden würde. Nein, streichen sie das; ich -will- Pirat werden. Glauben sie mir, ich würde all-... vieles tun, um in ihre Crew aufgenommen zu werden, Frau Azhir.“
'Frau Azhir' verengte die Augen zu Schlitzen und schnalzte mit der Zunge. „Anna, Schätzchen? Kommst du bitte kurz?“ Kaum fünf Sekunden später stand die schöne Brünette vor ihnen und sah ihre Herrin fragend an. „Würdest du diesem Jungen bitte deinen Dolch geben?“ Die Zofe runzelte die Stirn, tat dann aber wie ihr geheißen. Der Junge nahm den Dolch in die Hand – wusste aber ganz offensichtlich auch nichts damit anzufangen. Mit einem heimtückischen, spielerischen Lächeln trat Zahara hinter Anna und legte ihr sacht aber fordernd die Hände auf die Hüften und schob sie etwas in Richtung der Waffe. Sie konnte das Blut um Hals der Frau pulsieren sehen, fokussierte aber den pubertären Jungen mit der Klinge.
„Ich möchte, dass du diesen Dolch bis zum Schaft in den Bauch unserer lieben Anna hier rammst.“, flüsterte Zahara und ihr Lächeln wurde dabei breiter. Annas Brust hob sich vor Schreck und ihre Augen weiteten sich ein wenig, doch sie machte keinen Mucks. Sie war ein braves Spielzeug. Der Junge jedoch schaute nur unzählige Male vom Dolch in seiner Hand zu Anna und dann wieder zu Zahara, eher sein Blick bei der Kapitänin hängen blieb und sein Mund wieder aufging.
„Ich wäre dumm, würde ich nicht fragen, ob ich damit dann auch wirklich Teil ihrer Crew wäre. Dazu möchte ich anmerken, dass es etwas... ineffizient erscheint, ein anderes Mannschaftsmitglied umzubringen. Wenn es nur um irgendeinen Mord geht, würde auch ein Passant genügen.“ Kam das noch jemandem bekannt vor? Wie viele von der Sorte gab es denn?! Zahara legte den Kopf etwas schief, überlegte ein wenig und gab dann klein bei.
„Liebes, würdest du bitte einen Passanten herbringen?“ Anna, erleichtert und angespannt zugleich, nickte und verschwand im dunklen Gang des Orlopdecks. „Nutz' die Zeit um mir zu erzählen, warum du ausgerechnet auf diesem Schiff anheuern möchtest.“
Der Kleine war sichtlich froh über die Zeit, die er gewonnen hatte.
„Nun ja, es gibt wenige Banden im South Blue, die gerade erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Die eine Hälfte ist entweder schon so etabliert, dass sie jemanden wie mich vermutlich nicht aufnehmen würden, während die andere Hälfte nur so tut, als wäre sie dem Piratenleben zugeneigt. Ein Schiff voller blutrünstiger Monster ist keine Piratenmannschaft. Eure Mannschaft dagegen scheint exakt in die von mir gesuchte Kategorie zu passen: Eine junge, aufstrebende Crew, die sich einen Namen zu machen versucht, Marineschiffe versenkt, und sich bei alledem nicht zu fein ist, neben Muskelbergen auch einen Händler aufzunehmen.“ Als Zahara etwas von einem Händler hörte, zog sich ein breites Lächeln über ihr Gesicht und sie schüttelte in Gedanken den Kopf. Hatte er etwas mit diesem Jungen zu schaffen? Mit seiner merkwürdigen Bitte?
„Also hat Kai dich hergeschickt?“, fragte sie und beobachtete den ertappten Seitenblick des Jungen, wenngleich sich dieser sofort danach wieder fasste.
„Kai? Kai, Kai... nein, tut mir Leid, nie gehört, sagt mir nichts.“ Für jemanden seines Alters log der Bursche vielleicht ganz gut und wirkte sogar abgebrüht, doch im Moment war er einfach nur ein kleiner Junge. Zahara sah durch die offensichtliche Lüge also hindurch wie durch poliertes Glas.
„Du machst nicht den Eindruck, auf den Kopf gefallen zu sein. Warum um alles in der Welt bist du also so unglaublich bescheuert, mich anzulügen? Kai wollte also nicht, dass ich davon weiß?“ Als sie diese Vermutung aufstellte, beugte sie sich etwas weiter nach vorne um den psychischen Druck zu erhöhen. Der Junge rückte merklich zurück versuchte mit mäßigem Erfolg, die Fassung zu wahren.
„Bei jedem Vorstellungsgespräch wird gelogen, oder nicht? Ich möchte trotzdem um Verzeihung bitten. Allerdings muss ich im selben Atemzug sagen, dass sie falsch liegen. Es ist... so ähnlich. Umgekehrt, in gewisser Weise.“
Nun seufzte Zahara genervt. Das wurde ihr zu langweilig. „Du hast jetzt eine letzte Chance, dich zu erklären. Ich würde dir sehr stark raten, sie zu nutzen.“
Der Bursche zupfte an seinen Klamotten, atmete tief durch und als er endlich antwortete, hatte er neue Körperspannung gefunden.
„Ich möchte in ihre Crew aufgenommen werden, weil ich Pirat werden will. Meine Wahl fiel aus genannten Gründen auf ihre Mannschaft, sowie aus einem weiteren: Ich kenne Kai. Ich dachte, dass eine Crew, die ihn aufnimmt, auch für mich einen Platz an Bord finden könnte. Ich wollte seinen Namen allerdings nicht vorbringen, um nicht den Anschein zu erwecken, ich würde irgendwelche Bekanntschafts-Boni ausnutzen wollen. Tatsächlich wäre es mir sogar lieb, wenn er gar nicht in die Entscheidung eingebunden werden würde, ob ich Teil ihrer Crew werde. Ich bin mir nämlich sicher, dass er etwas dagegen hätte - nicht etwa aus objektiven, sondern rein subjektiven Gründen.“
„Die da wären...?“, fragte die Fremdländerin misstrauisch und beäugte den Jungen etwas interessierter als zuvor. Konnte es denn sein, dass er...
„Es sind... recht private Gründe, und ich weiß wirklich nicht... wenn ich es sage, versprecht ihr mir dann, mich aufzunehmen? Meiner Arbeitgeberin könnte ich sicherlich besseren Gewissens über unsere Vergangenheit berichten, als einer Fremden. Wisst ihr, was ich meine?“
Zahara antwortete nicht, sondern dachte nach. Subjektive Gründe? Persönliche Probleme? Für alles geschäftliche war der Bursche hier zu jung und irgendwelche Fehden... erneut: Zu jung. Sobald sie den Schluss gezogen hatte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mit einem breiten, triumphierenden Grinsen sagte sie: „Du bist sein kleiner Bruder.“
Vidal musste nicht einmal antworten, denn seine roten Backen und der beschleunigte Herzschlag sagte Zahara, dass sie Recht hatte, weshalb sie laut auflachte. Von wegen „Hier gibt es keine 'Bekannten', die uns Ärger machen werden, nein, nein!“
„Wie gesagt wären seine Gründe, mich nicht aufnehmen zu lassen, also von euch, meine ich, ausschließlich privater und subjektiver Natur. Sicherlich hat euch Kai schon viel geholfen, doch stellt euch vor, was ihr mit zwei Denkern an Bord anstellen könntet! Ich würde auch keine große Bezahlung benötigen - ein wenig Essen, ein Platz zum Schlafen, und Kleider würden völlig genügen. Wenn ihr wollt - auch wenn ich es nicht vorschlagen würde, weil es nicht gerade zu meinen Kernkompetenzen gehört - würde ich auch das Schiff reinigen, oder beim Kochen helfen, oder Kleider flicken, oder... oder...“ Vidal verlor sich in seinen Erklärungen. Bekam er Panik? „Nehmt mich auf, und ihr werdet es nicht bereuen, wirklich!“
In just diesem Moment tauchte Anna wieder auf und führte einen volltrunkenen Mann mittleren Alters vor sich her; sie hielt ihn mit einer Pistole in Schach, aber er schien davon nicht so viel mitzukriegen. Zahara nahm das Paket am Kragen entgegen und zwang es mit einer schnellen Bewegung in die Knie.
„Gab keine Probleme, Miss. Er... 'wollte' mich. Niemand hat gesehen, dass er mit mir auf das Schiff ist.“, erklärte Anna und ihr wurde ein dankbares Lächeln geschenkt. Sie schien glücklich darüber. Nun widmete sich Zahara wieder dem weißhaarigen Jungen.
„Du hast Recht. Kai hat mir bereits viel geholfen. Ich wäre also dumm, seinen Bruder – den er anscheinend nicht an Bord haben will – einfach aufzunehmen. Das ist eine Sache, die du mit deinem Bruder zu klären hast. Meinen Segen hast du, sobald dieser Mann hier tot am Boden liegt. Das letzte Wort wird aber bei Kai liegen.“
Vidal spielte einige Zeit mit dem Dolch, sah sich Anna, Zahara und den Mann an, der inzwischen begonnen hatte, sinnlose Wörter vor sich hinzulallen. Er hatte sich kurz vor die Komagrenze gesoffen und verstand wohl nicht einmal, was gerade mit ihm geschah. Oder eher geschehen sollte.
„Ein einfaches 'okay' ist zu wenig für einen Mord. Ich werde die Sache mit Kai klären, aber ihr werdet dabei sein und ein gutes Wort für mich einlegen. Versprochen?“
Doch Zahara schüttelte nur den Kopf. „Du missverstehst. Um dieser Crew beizutreten musst du sowohl mich, als auch Kai überzeugen. Mich überzeugst du, indem du zeigst, dass du in der Lage bist, eines Mannes Leben zu nehmen. Ich werde mich nicht in Kais familiäre Probleme einmischen. Wenn du allerdings wirklich ein Pirat werden und nicht nur deinem Bruder nahe stehen willst, ist dieser Schritt so oder so ein notwendiger.“
Ein kritischer Blick Vidals machte deutlich, dass er sich etwas anderes erhofft hatte. Seufzend und etwas nervös und ängstlich sah er sich den Besoffenen an (der sabberte gerade etwas auf den Boden und rollte mit den Augen). „So oder so führt kein Weg hieran vorbei...“ Der Junge schluckte, fasste den Dolch mit beiden Händen und zitterte wie Espenlaub. Er brauchte fast eine ganze Minute, bis er die Augen schloss und nach einigem Ansetzen einfach zustach.
Der Dolch bohrte sich nicht sonderlich tief in die Schulter des Mannes, der nun endlich von seinem Schicksal erfuhr und aufheulte. Zahara nahm Vidal bei der Hand und führte den Dolch zurück zum Körper des Mannes. Vidal musste es beenden.
„Stichst du hier zu, perforierst du sowohl die Lunge, als auch eine der Arterien.“, erklärte sie. Der Bursche musste das alleine schaffen – sie gab lediglich Hilfestellung. Doch die brachte nicht besonders viel, denn Vidal brauchte ganze vier Anläufe, ehe der Betrunkene endlich auf den Boden plumpste und das Leben aus ihm röchelte. Vidal war mit Blut bespritzt und in seinem Gesicht stand sowohl Angst, als auch ein winziger Funken von Macht. Ob es ihm gefallen hatte? Im Moment sah er aber eher so aus, als würde er gerne Kotzen. Zahara nahm ihm den Dolch aus der Hand und reichte ihn ihrer Zofe.
„Anna wird sich um den Rest kümmern.“, sagte sie freundlich und beobachtete überrascht, wie Annabelle den Dolch einfach durch den Rücken des Mannes direkt in sein Herz trieb. Ein Gnadenstoß, ja, aber die Frau entwickelte langsam aber sicher eine merkwürdige Ruhe bei diesen Sachen. Ob sie schon immer so war, oder hatte Zahara nur einen guten Einfluss? Sie nahm sich vor, diese Nacht über sich etwas mehr mit Annabelle zu beschäftigen. Schließlich schlief die Zofe seit ihrer Ernennung zu dieser in Zaharas Bett, da diese es nicht benutzte. Zeit, die Brünette etwas besser kennen zu lernen, fand die Kapitänin mit einem grimmigen Lächeln.
„Du kommst jetzt mit in meine Kabine. Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie indes den frisch gebackenen Mörder und half ihm auf die Beine.
Dieser Tag wurde immer interessanter.

Jeder, der Kai kannte, sah sofort, dass der weißhaarige Händler ausgesprochen guter Laune war. Trotz Maske erkannte man deutlich, dass sein übliches Lächeln wesentlich breiter war als sonst, und in seinen geschäftsmäßigen Gang hatte sich der ein oder andere Hüpfer geschlichen.
Grund für diese ungewöhnliche Freude war der wohlige Verlauf der vergangenen Stunden. Seitdem er die Slavery verlassen hatte, konnte Kai bei mehreren Geschäften Großeinkäufe zwecks Einrichtung und Vorräten anleiern, hatte sich bei den Essensangeboten der Festivalstände zu einem Bruchteil der üblichen Preise verköstigen können, und trug zudem in seinem Koffer einige Kleider der letzten Saison, die ihm Sonderangebot waren. Das Fischfest war schon immer ein Anziehungspunkt für die ausgefuchstesten der Schnäppchenjäger gewesen, doch Kai hatte das Gefühl, dass dieses Jahr besonders viele Händler noch ein Stückchen verzweifelter versuchten, ihre Waren loszuwerden, als die letzten Male. Woran das liegen könnte, darüber hatte sich Kai bereits Gedanken gemacht, und er würde an diesem wunderbaren Abend damit fortfahren, um morgen hier und da vielleicht noch größere Rabatte zu erzielen.
Die Laufplanke knarrte leicht unter dem zusätzlichen Gewicht des beladenen Händlers, und wie ein Mann schauten sofort einige Matrosen über die Reling zu ihm herunter. Seit Timmys kleiner Schiffsnetführung waren die meisten Deckschrubber wirklich wesentlich aufmerksamer, was mögliche Eindringlinge anging, und auch das schürte Kais Freude weiter. Kurz bevor er die erhabene Mannschaft jedoch mit flötendem Tonfall begrüßen konnte, schob sich ein bekanntes Gesicht in sein Blickfeld.
„Sie will dich sehen.“
Der Ausdruck von Zaharas kleiner Zofe war hauptsächlich ernst, doch Kai entging der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen keinesfalls. Nachdem er die Frau – auf Bitten und Betteln von Zahara – in den Grundkenntnissen in Sachen Pistolenkampf eingewiesen hatte, kannte er sie gut genug, um diese kleine Emotion in der sonst eher neutralen, manchmal sogar ängstlichen Dame zu erkennen. Ihre Angst der rauen Umgebung gegenüber hatte sich in den letzten Tagen jedoch immer seltener gezeigt, und an ihre Stelle war eine neue Selbstsicherheit getreten. Keine übernatürliche Unerschütterlichkeit, das selbstverständlich nicht, aber man konnte durchaus Funken erkennen, die zu einem Großbrand werden könnten, wenn Zahara die Frau weiter so eng unter ihren Fittichen hielt.
Als ob eine standfeste Dame an Bord nicht schon schlimm genug gewesen wäre…
Mit merklich geschrumpftem Lächeln nickte Kai der Brünetten zu und verabschiedete sich mit der Entschuldigung, es würde noch ein wenig dauern – immerhin wollte er ja nicht verschwitzt und schwer beladen zur hohen Audienz bei der noch höheren Kapitänin auftauchen. Annas mimische Reaktion hierauf konnte Kai leider nicht mehr sehen, da er bereits auf dem Weg zu seiner Kajüte war.

Einige Minuten später klopfte Kai an die breite Doppeltür zu Zaharas Kajüte, woraufhin fast augenblicklich die Stimme der Fremdländerin ihn von innen hereinbat. Ohne groß Aufhebens darum zu machen schob sich Kai in das geräumige Zimmer, in dem neben Zahara, die mit den Füßen auf ihrem Schreibtisch offenbar Lyn nachahmen wollte, noch eine weitere Person wartete, eine kleine Gestalt mit weißem Haar, die den Rücken zur Tür gekehrt hielt. Hatte Zahara auf der Straße also noch ein Spielzeug aufgetrieben? Kai würde es nicht wundern, so charismatisch wie seine Partnerin manchmal sein konnte. Dem gegenüber standen leider regelmäßige Phasen leicht psychopathischer Anfälle, die solche wie das Weißhaar vermutlich rasch verscheuchen würden. In der Hinsicht musste man es Annabelle eigentlich hoch anrechnen, dass sie noch an Bord war, und nicht in die Stadt geflüchtet war.
Mit gebührendem Abstand hielt sich Kai hinter dem ewtas zusammengefallenen Kreuz des Gastes, fixierte Zahara, und breitete die Arme aus.
„Was haben wir denn da: Einen weiteren Gefolgsmann für die große Azhir, oder einen einfachen Bittsteller? Ich hoffe, du hast mich nicht nur deswegen rufen lassen.“
Das folgende Lächeln seiner Partnerin überraschte Kai insofern, als es eine neue Art von Gesichtsausdruck war. Kein Zorn, nicht allzu viel Amüsement, und auch keine Schadenfreude. Stattdessen wirkte sie… Kai konnte einfach keinen Finger darauf legen, bevor die Dame bereits antwortete:
„Nein, kein neues Spielzeug. Dein Bruder möchte den ar-Raqim beitreten.“
Augenblicklich schossen Kais Augenbrauen in die Höhe. Sein Bruder? Sicher doch. Die Chancen dafür standen so gering, dass es sich nicht ansatzweise auszurechnen lohnte. Innerhalb eines einzigen Moments ratterte eine Liste von hunderten von Gründen in seinem Geist herunter, die allesamt gegen diese lächerliche Aussage sprachen.
Trotzdem erkannte Kai das kleine Gesicht sofort wieder, als die Gestalt auf dem Schemel vor Zaharas Schreibtisch sich umdrehte und ihn aus kugelrunden, blauen Augen anschaute. Einige Sekunden verharrte das kleine Häufchen Elend in dieser unbequemen Haltung, bevor es sich wieder umdrehte. Soviel also zu „Chancen, die sich nicht auszurechnen lohnten“. Die Liste der Gründe gegen Vidals Auftauchen wurde direkt gegen eine andere ausgetauscht, die all die Probleme aufzählte, welche der kleine Kaiyori seinem Bruder mit seinem Auftauchen eingehandelt hatte – Probleme, auf die Kai gut und gern verzichten konnte.
Doch bevor er sich konkret um Vidal kümmern konnte, benötigte eine andere, deutlich einflussreichere Person seine Aufmerksamkeit. Mit einem mittlerweile enttäuschten Blick sah Kai auf seine sitzende Kapitänin herab und zuckte mit den Schultern.
„Und so endet ein erfolgreicher, vollauf zufriedenstellender Tag. Wie auch immer...“ Eine abwinkende Handbewegung bedachte Vidal, bevor Kai fortfuhr: „Willst du das ganze hier, vor dem Kleinen besprechen? Ansonsten wäre ich doch sehr dafür, dass deine Putzhilfe ihn in meiner Kajüte einschließt.“
Anstatt jedoch, wie erwartet, das Angebot anzunehmen, stand Zahara unversehens auf, ließ Vidal links liegen und näherte sich ihrem Schatzmeister. Im konspirativen, leicht bedrohlichen Flüsterton drang ihre Stimme dann sacht an kais Ohr: „Ich weiß nicht ob der Kleine wirklich nur Pirat werden oder dir nahe sein will - auf jeden Fall meint er es ernst genug um ein Leben zu nehmen. Ich hab dir gesagt, dass ich mich nicht in deine persönlichen Probleme einmischen werde.“
Dass Zahara anschließend die Kajüte verließ, registrierte Kai kaum. Pirat werden? Ein Leben nehmen? Erst jetzt bemerkte Kai die dunklen Flecken auf der ansonsten sauberen und ordentlichen Kleidung seines kleinen Bruder. Zu was, bei allen guten Geistern, hatte Zahara den Jungen gebracht? Da verließ man einmal das eigene Schiff, und schon kam so etwas!
Eine Weile blieb Kai einfach regungslos im Raum stehen, während seine Gedanken rasten. Als irgendwann seine Beine von den Strapazen des Tages leicht zu zittern begannen, ergriff Kai die einzigartige Gelegenheit, passierte Vidal und den Schreibtisch, und nahm auf Zaharas gemütlichem Sessel Platz. Der Stoff gab gerade genug nach, um sich dem Körper anzupassen, doch nicht so sehr, dass man darin zu versinken drohte. Es war die nahezu perfekte Kombination aus Gemütlichkeit und Ergonomie, die nur eine Kleinigkeit störte: Der Anblick, welcher sich Kai bot.
Vidal starrte noch immer recht verloren auf den Tisch vor sich, die Arme eng an den Körper gelegt, die Finger in der Sitzfläche des wackligen Schemels gekrallt. Seine glatten, geordneten Haare standen in extremem Gegensatz zu seinem verschmierten Gesicht und den dreckigen Kleidern. Was immer der Junge auch getan hatte, es war eine Menge Blut geflossen. Auf den ersten Blick wirkte es jedoch nicht so, als sei dies Vidals Blut; der junge hatte keinen Kratzer, ja nicht einmal eine Schwellung oder ein blaues Auge. Also hatte er doch jemand anderem das Leben genommen. Einem Matrosen, einem Zivilisten, einem Tier? Tieropfer würden durchaus zu Zaharas exotischem Aussehen passen, doch andererseits ging sie mit ihren Hunden wesentlich liebevoller um, als mit den meisten Menschen. Also hatte er doch…
„Er war betrunken.“
Vidals brüchige Stimme lenkte Kais Blick von verschmierter Kleidung zu vernebelten Augen. Die Frage, wen der Junge mit „er“ meinte, war unnötig; Vidal hatte schon immer die Gedanken seines großen Bruders besser lesen können, als umgekehrt. Es war eine von etlichen Eigenschaften, die die Beziehung der beiden belastete, und eine besonders lästige noch dazu.
Kai blieb still, und wie erwartet fuhr Vidal daraufhin fort: „Erst sollte ich die Brünette töten, um meine Willenskraft zu demonstrieren. Ich meinte, dass das Verschwendung sei, und wollte stattdessen, dass sie… dass sie jemanden von draußen bringen. Das wäre besser… für die Crew, und hat mir auch Zeit verschafft, aber…“
Der Junge schluckte, doch die eigentlich unausweichlichen Tränen blieben aus. Vidal hatte seine sechzehn Jahre zwar in überaus behüteten Verhältnissen verbracht, sodass ein Teil von ihm noch immer ein unschuldiges Kind war, doch die geschäftliche Kaltblütigkeit und Standhaftigkeit seines Vaters hatte dennoch auf ihn abgefärbt und dafür gesorgt, dass der Junge seine Gefühle in den meisten Fällen im Griff hatte. Wenn jemand darüber Bescheid wusste, dann Kai.
Da ihm jedoch zu viele Gedanken für eine Fortsetzung im Wege zu stehen schienen, opferte sich Kai und wandte zum ersten Mal Worte direkt an seinen Bruder. „…aber du konntest diese Zeit nicht nutzen, um das Fräulein Azhir von ihrem Plan abzubringen. Zerbrich dir darüber mal nicht deinen Kopf. Die gute Frau ist noch sturer als die alte Hobbs, und du weißt, dass nicht einmal er ihr einen Rabatt hatte aus dem Kreuz leiern können.“
Noch immer konnte Kai das Wort „Vater“ beim besten Willen nicht in den Mund nehmen, wenn es um seinen Erzeuger ging, geschweige denn dessen Namen. Vidal verstand trotzdem; für den Bruchteil eines Augenblicks schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Geschichten über die alte Hobbs, eine knochige alte Holzhändlerin, waren immer das Paradebeispiel in der Erziehung der Jungen für die Art Frau gewesen, mit denen sich einfach nicht handeln ließ. Diese Gattung war stur und widerspenstig jenseits jeder Logik, und alle Versuche, sie eines Besseren zu belehren, würden stets vergeblich bleiben.
Hatte sein kleiner Bruder also tatsächlich getötet. Rasch schob Kai Gedanken an sein erstes Opfer beiseite, um die damit einhergehende Sympathie Vidal gegenüber bereits im Keim zu ersticken. Das Kind war ein Problem, nichts weiter, und Schadensbegrenzung der einzige Grund, warum Kai überhaupt hier saß.
„Ich hab’ ihr nichts gesagt, wirklich. Das mit dem Bruder… es war wohl doch zu offensichtlich. Ich meine…“
Schon wieder hatte Vidal seine Gedanken gelesen. „Was hast du Zahara verraten?“ – gerade, als Kai dies hatte fragen wollen, öffnete Vidal erneut den Mund. Nicht zum ersten Mal fragte sich Kai, wie sein kleines Spiegelbild das anstellte.
Merkwürdigerweise glaubte Kai seinem Bruder, ohne nennenswerte Zweifel abwehren zu müssen. Es war einfach diese ganze Situation – Vidals sichere Stimme, sein zum ersten Mal erhobener Blick, und Zaharas komplettes Verhalten, ihr eigenartiger Blick, und dass sie die Kajüte von sich aus verlassen hatte – die ihn davon überzeugte, dass die Vergangenheit bis jetzt noch immer größtenteils im Dunklen lag. Noch. Denn nach Vidals Auftritt würde Kai seiner Kapitänin so einiges erklären müssen. Wie er sich jetzt schon auf dieses Gespräch freute!
Doch eins nach dem anderen. Vidal hatte einen betrunkenen Zivilisten getötet – soweit kein Problem, ein im Suff ins Meer gestürzter Festbesucher erregte in dieser Zeit keinerlei Aufsehen – und er hatte Zahara gegenüber nichts ausgeplaudert, sondern lediglich zugegeben, dass er Kais Bruder war und offensichtlich Pirat werden wollte. Das zumindest hatte Zahara angedeutet. Blieb nur noch die Frage, wieso der Junge…
„Ich wollte einfach nur-…“
„Also, so sieht’s aus.“
Kai fiel seinem Bruder ins Wort, bevor er wirklich realisierte, was er da tat. Seine Neugier heulte verletzt auf bei dem Gedanken daran, dass sich Vidal soeben ganz von alleine erklärt hätte, wenn man ihn nur nicht unterbrochen hätte. Diesem Aufschrei stand jedoch eine kalte Logik gegenüber, an der sich Kai gerade in Familienangelegenheiten wesentlich lieber orientierte, als an blindem Wissensdurst.
Mit seinem einstudierten Lächeln fuhr Kai somit kühl fort: „Es ist selbstverständlich, dass du nicht an Bord bleiben kannst. Man wird nach dir suchen, und zwar sehr, sehr schnell und sehr, sehr intensiv. Halt; ich weiß, was du sagen willst.“
Vidal hatte den Mund aufmachen wollen, doch Kai hob eine flache Hand und brachte das Kind damit zum Schweigen.
„Ich bin sicher, dass du glaubst, ausreichende Vorkehrungen getroffen zu haben, damit dein Verschwinden so spät wie möglich entdeckt wird. Doch glaub mir: Es wird noch immer zu früh entdeckt. Du kannst nicht hierbleiben, Punkt.“
Man sah deutlich, wie Vidal, der sich bis zu diesem Punkt wieder etwas erholt hatte, erneut auf seinem Schemel zusammensank. Jeglicher Protest war jedoch von einem eisigen Blick des älteren Bruders abgewehrt worden, sodass Kai ungestört weitersprechen konnte:
„Wenn du nicht auf demselben Wege das Schiff zu verlassen gedenkst, wie der ehemalige Besitzer der Flecken da auf deinem Hemd, solltest du mir jetzt gut zuhören. Es wird so laufen…“

Als die Doppeltür zu Zaharas Wohnzimmer hinter ihm zufiel, seufzte Kai schwer und streckte beide Arme in die Luft, wobei seine Gelenke erschöpft knackten. Ganz so ergonomisch korrekt war Zaharas Sessel dann doch nicht. Andererseits war er sicherlich besser, als das, worauf die Kapitänin gerade saß.
Von hinten sah Kai Zahara kaum; nur einer ihrer Arme lugte jenseits des breiten, klingenbewährten Sessels hervor. Auch wenn er sich am liebsten noch etwas im Schatten des metallenen Monsters versteckt hätte, trieb ihn ein plötzlicher Schulterblick der schmalen Figur an der Seite des Sitzmöbels nach vorn. Annabelle erweckte in ihrer Position fast den Eindruck, sie würde den Bodyguard für ihre Besitzerin spielen wollen. Als ob Zahara irgendwelchen Schutz nötig gehabt hätte.
Mit einem neuerlichen Knacken, diesmal irgendwo aus der Gegend seines Steißbeins, beugte sich Kai an der Seite seiner Kapitänin herunter und setzte seine Lippen an ihr Ohr. Sein Blick überschaute dabei in einer kurzen Bewegung das Achterdeck der Slavery, wo zahlreiche Matrosen das Ende des Tages mit billigem Fusel begossen. Einige, denen offenbar eiin landgang erlaubt worden war, oder die sich unerlaubt fortgeschlichen hatten, trugen sogar bunte Masken zur Schau, oder prahlten damit, wie wenig Stoff diese oder jene Frau getragen hatte, die trotzdem auf der Straße herumgelaufen war. Nur kurz wunderte sich Kai darüber, wie normal ihm dieser Anblick bereits vorkam – der Anblick der eigenen Crew auf dem eigenen Schiff.
„Das Verhör ist beendet.“ Zaharas Ohr zuckte leicht ob der fremden Stimme, und Kai pausierte kurz. „Wollen wir nun besprechen, wie es weitergeht? Ich habe bereits einen Plan, der uns unseren Karrierestart deutlich vereinfachen könnte.“
Die schwarzhaarige Frau nickte knapp; das war alles an Beachtung, die sie ihrem Schatzmeister gab. „Ich bin ganz Ohr.“ Offenbar wollte sie dieses Gespräch tatsächlich führen, während sie auf ihrem verrosteten Thron saß. Kais Rücke ächzte schwer bei der Vorstellung.
Da er sich die nächsten Worte bereits zurechtgelegt hatte, bevor er die Kajüte verlassen hatte, konnte Kai trotz der eigentlichen Schwierigkeit des Themas ohne Gedankenpause fortfahren: „Die Familie des Jungen ist ziemlich wohlhabend, und da man sowieso nach ihm suchen wird, wäre es das Beste, wir verknüpfen die Rückgabe mit einer kleinen Lösegeldforderung. Zwanzig Millionen vielleicht. Das Festival liefert uns eine Menge Möglichkeiten, den Austausch in einer für uns sicheren Umgebung abzuwickeln. Wir werden das Kind los, kriegen dafür eine Menge Geld, und können auf unsere Liste böser Taten auch noch Entführung setzen. Wie klingt das?“
„Das klingt, als wärst du ein noch herzloserer Bastard, als ich gedacht hätte.“
Der Kommentar kam unerwartet, war Zahara doch nicht unbedingt für hohe moralischen Standards bekannt. Doch nicht nur deshalb glitten die Worte an Kai ab; seine Partnerin kannte bei weitem nicht die ganze Geschichte, also konnte sie sich auch schwerlich ein richtiges Urteil bilden. Keine Beleidigung in Richtung von Zaharas geistigen Fähigkeiten, sondern eine simple Tatsache.
„Wenn du den Jungen eintauschen willst, ist das deine Entscheidung.“ Erst jetzt stand Zahara von ihrem Thron auf, ihr Blick war jedoch noch immer auf das Achterdeck gerichtet. „Du bist dir sicher?“
Kai zögerte kurz, doch nicht wegen der Frage, sondern vielmehr aufgrund von Zaharas merkwürdigem Verhalten. In der Zeit, seit Vidal an Bord gekommen ist, war ihr kleines Spielchen mit der Ermordung eines Betrunkenen noch das Normalste gewesen, oder zumindest dasjenige, was am ehesten zur Persönlichkeit Zaharas passte, wie sie Kai bisher hatte beobachten dürfen. Dass sie Vidal jedoch nicht ausgequetscht hatte, ihm und Kai sogar ein persönliches Gespräch ermöglicht hatte, und die ganze Zeit schon so emotional wirkte, und zwar in einem nicht blutrünstigen Sinne… das war definitiv neu. Wenn nicht gerade eine neue Katastrophe ins Haus stand, würde Kai dieses Verhalten dringend analysieren müssen, denn immerhin ging es hier um die geistige Verfassung seiner im Moment wichtigsten Geschäftspartnerin.
„Ob ich mir sicher bin, dass wir eine wandelnde Zeitbombe besser loswerden sollten, bevor ihr vor Geld stinkender Vormund all seine Ressourcen in die Jagd nach den bösen Monstern steckt, die seinen kleinen Augenstern entführt haben?“ Kai rang sich ein Kichern ab. „Ich bin mir sicher. Doch was soll überhaupt dieses Gerede davon, dass es meine Entscheidung sei? Wurde ich in meiner Abwesenheit zum Kapitän ernannt? In diesem Fall wäre ich dir doch sehr dankbar, wenn du dich von deinem-meinem Stuhl entfernen könntest.“
Das erste Mal, seit sie ihre eigene Kajüte für Kai und seinen Bruder geräumt hatte, schaute Zahara ihren Schatzmeister direkt ein. Und das auch noch mit so einem Ernst in den grauen Augen, dass Kais Lächeln auf die übliche, einstudierte Größe schrumpfte.
„Deine Familie, deine Probleme, deine Entscheidung. Wenn du glaubst, dass ich etwas gegen 20 Millionen Berry hätte...“ Glücklicherweise stahl sich ein Grinsen auf Zaharas Lippen, als sie den Kopf schüttelte und in die Hände klatschte. „Ich bin überaus neugierig darauf, deinen Plan zu hören.“
Es kostete Kai kaum Mühe, sein eigenes Lächeln bei diesen Worten wieder wachsen zu lassen. „Das kann ich mir vorstellen. Allerdings wirst du darauf bis morgen warten müssen. Ich muss erst noch einige Vorbereitungen treffen, die Lage auskundschaften, und so weiter.“
Damit glaubte Kai das Gespräch beendet, doch Zahara öffnete erneut den Mund. Bereits dabei, sich umzudrehen, wandte Kai seinen Blick zurück zu einem nun wieder überaus ernsten Gesicht.
„Du hast mich lange genug im Dunkeln gelassen und ich hab’ es akzeptiert. Ob es dir gefällt oder nicht: Seit etwa zehn Sekunden ist deine Familie auch mein Problem. Es wird Zeit, dass du mich dahingehend aufklärst.“
Nur am Rande nahm Kai wahr, dass sich in genau diesem Augenblick Zaharas Zofe, die bisher wie ein Hund über ihre Besitzerin gewacht hatte, nun ihrer Wege ging und irgendwo auf das Achterdeck verschwand.
Der leichte Themenwechsel an sich kam überraschend, doch dass Zahara nun endlich auf die den Elefanten im Ziffer zu sprechen kommen wollte, war alles andere als verwunderlich. Man musste es Zahara sogar positiv anrechnen, dass sie so lange mit ihrer kleinen Forderung gewartet hatte, und sie zudem so offen stellte, anstatt sich, wie es ihr durchaus möglich gewesen wäre, durch Folter oder Ähnliches die gewünschten Informationen von Vidal zu besorgen. In dieser ganzen Familienangelegenheit verhielt sich Zahara wie schon gesagt seltsam, doch langsam konnte Kai einen Finger darauf legen und in Worte fassen, wie ihr Benehmen anmutete. Anständig. Vernünftig. Erwachsen. Ja fast… verständnisvoll?
Einerseits erleichterte Kai diese Entdeckung, denn sie wies Zahara als bessere Geschäftspartnerin aus, als er bisher für möglich gehalten hätte. Andererseits gab es auch zwei Probleme: Einerseits schien der krasse Gegensatz zwischen ihrem momentanen Benehmen und ihrem Umgang mit Timmy die gute Frau unberechenbarer als je zuvor wirken, und andererseits hatte Kai in seiner jetzigen Position wenig überzeugende Argumente dafür, Zahara die gewünschten Informationen vorzuenthalten, womit die Grenze zwischen Kian Kaiyori und Killing Kai endgültig durchbrochen wäre. Ein großer Schritt, ein besonderer Schritt, und vor allem ein Schritt, dem sich Kai bisher vollständig entzogen hatte.
Doch vielleicht war es nun endlich an der Zeit. Vielleicht war es nötig, um Kais zweiter Piratenkarriere dauerhaften Erfolg zu bescheren. Bald würden doch sowieso Steckbriefe mit seinem Konterfeit die Runde machen, womit die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart ebenso vernichtet wäre. Dann doch lieber gleich alle Karten auf den Tisch legen. Mit einem Geständnis Zahara gegenüber ließ sich zudem das Fundament für Fragen seinerseits legen, nach der noch nebelhaften Vergangenheit seiner Partnerin. Die Initiative zu ergreifen war immer besser.
Nichtsdestoweniger dauerte es eine ganze Weile, bis Kai endlich in Bewegung kam. Mit einem knappen „Warte einen Augenblick“ verabschiedete er sich in Richtung Zaharas Kajüte, wo Vidal noch immer trostlos und allein auf seinem Schemel hockte. Mit einer raschen Handbewegung war der Junge auf Zaharas Sessel verbannt, und einen Augenblick später stellte Kai bereits seinen wackeligen Hocker neben Zaharas Thron auf und gebot seiner Kapitänin, sich wieder zu setzen.
„Also gut. Du willst aufgeklärt werden, was verständlich ist, und ich bin es dir wohl schuldig, nachdem ich es nicht verhindern konnte, dass uns mein kleines Anhängsel besucht. Zu meiner Verteidigung muss ich aber sagen, dass die Chancen wirklich, wirklich schlecht standen, jemand würde tatsächlich... Hmpf, wie dem auch sei. Familie. Solange du weißt, dass du auch irgendwann... naja, egal. Also, irgendwelche speziellen Wünsche? Ein chronologischer Vortrag, rückwärts, vorwärts, geordnet nach Verwandten?“
Zahara schüttelte nur sachte ihren Kopf. In der Zwischenzeit kehrte Anna zurück, zwei Gläser und eine Weinflasche in Händen. Schon ein Blick aus der Distanz auf das dunkelrote Etikett der Flasche verriet dem Weinkenner Kai, dass es sich diesmal nicht um irgendeinen billigen Fusel handelte. Zahara hatte ihr Geld gut investiert, und das ganz allein. Die Frau überraschte ihn an diesem Tag mehr und mehr.
Als beide Teile des erhabenen Führungsduos ein Glas Wein in der Hand hielten und die Sonne langsam im Meer versank, öffnete Kai zaghaft den Mund.
„Nun denn. Es war einmal ein kleiner, rundlicher, weißhaariger Schreihals. Der wiederum hatte einen Sohn, Kian Kaiyori, und um den geht es in dieser Geschichte.“

Der Mond stand längst hoch am Himmel, als Kai erschöpft in sein Bett fiel. Das leise Schnarchen seines Bruders, das er aus dem Nebenzimmer trotz hölzerner Wände deutlich hören könnte, hielt ihn jedoch ebenso wach wie das Flackern einer einzigen Kerze, die schon auf die Hälfte heruntergebrannt war. Am meisten hinderten jedoch hunderte einzelner Gedankenstränge seine Müdigkeit im Zaum – Fragmente all der kleinen und großen Geschichten, die er Zahara an diesem Abend, in dieser Nacht erzählt hatte.
Natürlich hatte Kai viel verheimlicht, viel verkürzt, und viel beiseite gelassen. Wenn seine Kapitänin jedoch aufgepasst hatte, so kannte sie nun den Lebenslauf ihres Schatzmeister zumindest in den gröbsten Zügen. Sie wusste von der Familie Kaiyori und ihrem Einfluss, der sich weit über Matsu hinaus erstreckte; sie wusste von Kais Ausbildung, zumindest der Qualität, nicht unbedingt den emotionalen Aspekten; sie wusste von der Entführung, und von Kais darauffolgender Entwicklung. Kai hatte von seiner ersten Mannschaft erzählt, von Tsai Kong, seinem ersten Kapitän, von einigen der Gründe, wegen denen der aufbrausende Mann leider ein vorzeitiges Ende finden musste. Zudem würde Zahara so gut wie nie zuvor einschätzen können, wie viel Erfahrung Kai als Händler wirklich besaß, und wie gut sie in seinen Händen aufgehoben war. Sie würde auch nie wieder fragen müssen, ob sich Kai einer Sache sicher war, oder woher er all seine Kontakte hatte.
Insgesamt war Zahara all die Zeit eine dankbare Zuhörerin gewesen. Sie hatte aufmerksam gelauscht und Kai nicht unterbrochen, an den richtigen Stellen gelächelt, an den falschen gekichert, und Nachfragen ihrerseits hatte er nur selten als zu privat oder vorlaut abschmettern müssen; selbst in diesen Fällen hatte sie sich fast abnormal normal verhalten und ein wenig geschmollt, bevor sie wieder aufmerksam zugehört hatte.
Irgendwie hatte sich Kai den Bruch der Grenze zwischen seinem alten und seinem neuen Ich heftiger und brutaler vorgestellt. Stattdessen fühlte er jedoch wenig mehr als bleierne Müdigkeit und eine staubtrockene Kehle (der teure Wein hatte nicht einmal ein Drittel der Geschichte überlebt, und auf Fusel wollte Kai definitiv nicht umsteigen). Sicherlich lag dies mit an der Neutralität, mit der Zahara die Geschiche aufgenommen hatte; als Lyn zum ersten Mal gehört hatte, dass Kais Familie die Rettung ihres Sohnes vor dessen Entführung zu kostspielig gewesen war, wären der sonst so harten Frau beinahe winzige Tränchen die Wange hinabgekullert, hätte sie sich in jenem Moment nicht mit einem ölverschmierten Lappen das Gesicht abgetupft. Diese Reaktion, sowie die Not, ihr Gesicht von einem halben Lieter Schmieröl zu befreien, waren der Grund, warum Kai seiner Bekannten nie wirklich alles erzählt hatte.
Zahara auf der anderen Seite hatte sich einfach alles angehört, nicht mehr und nicht weniger, immer mit dem leisen Unterton, dass alles, was er ihr erzählte, erst wichtig wurde, wenn die Crew dadurch in Gefahr geriet. Und selbst dann würde sich Zahara nur einmischen, wenn Kai seine Sachen nicht selbst in den Begriff bekam. Dass er dazu jedoch durchaus in der Lage war, dies könnte er mit dem Verkauf von Vidal beweisen.
Kai holte tief Luft, als er die Kerze auf seinem Nachttisch ausblies. Der Verkauf war ein völlig anderes Thema, und wenn er darüber in dieser Nacht auch noch nachdachte, würde er gar keinen Schlaf mehr bekommen – Schlaf, den er doch so dringend benötigte, wenn man daran dachte, wie viel es zu tun gab. So viel, so schrecklich viel zu tun…

Mit einem zur Schnute gezogenen Mund trat Zahara nach dem langen, langen Gespräch mit Kai in ihre Kabine. Er hatte ihr viel erzählt, sehr viel sogar. Mehr, als sie gedacht hatte. Nicht nur, dass sie erwartet hatte, dass er weniger Informationen preis gab, nein – es steckte anscheinend auch mehr hinter dem Weißhaar als sie zuvor annahm. Während seinen Erzählungen hatte sie aufmerksam gelauscht, sich die wichtigen Sachen eingeprägt und die Unwichtigen mit einem Nicken abgetan. Seine Familie an sich und seine Vergangenheit – wenngleich interessant – interessierte sie eigentlich kein Stück. Sie hatte sich unglaublich oft dabei erwischt, wie sie über die eigenen Tiefen und die Zahar'ische Dunkelheit grübelte und deswegen immer mal wieder abschweifte. Kai wusste von der Seinen. Sie gefiel ihm nicht und er hatte mit ihr zu Kämpfen, auch wenn er das so wohl nicht zugeben würde. Schließlich hatte sie ihn zu dem gemacht, was er heute war. Zum allerersten Mal dachte die Azhir darüber nach, ob sie ihre eigene Vergangenheit vielleicht gar nicht kennen wollte. Was, wenn sie nur enttäuschen oder gar langweilig war? Was, wenn sie nur ein einfaches, herkunftsloses Mädchen war, das irgendwann in der Gosse gefunden wurde?
All die Antworten in ihrem Kopf nicht zu beantworten war aber auch keine Option. Dafür war Zahara zu stur, verbissen und uneinsichtig.
Die Tatsache, dass Kai sich mitgeteilt hatte, wurde ihm übrigens nicht sonderlich hoch angerechnet. Er hatte sich nicht von sich aus dafür entschieden sondern hatten ihn die Umstände zu dieser Handlung gezwungen – ob es Zahara eines Tages auch so gehen würde? Die Chancen standen schlecht. Seit dem Fund Uaheds hatte sie nämlich keinerlei Hinweise mehr darauf gefunden, wo genau sie her kam oder ob sie eigentlich eine Familie hatte. Ein Thema, das in ihr merkwürdige Emotionen auslöste. Eine Mischung aus Trauer, Wut und Beschützerinstinkt keimte stets in ihrem Bauch auf, sobald sie daran dachte. Eine zerstörte Familie wie die Kaiyoris war kein schönes Bild. Erneut verlor sich Zahara in ihren eigenen Tiefen.
Ein Rumpeln aus dem Schlafzimmer ließ ihren Kopf empor und ihre Hand zum Schwert fahren. Annabelle. Manchmal vergaß sie, dass die Frau auch hin und wieder Dinge tat, die ihr nicht direkt vorgeschrieben worden waren. Sie wollte eh noch einige Worte mit ihr wechseln, also öffnete sie die Schlafzimmer Tür und trat hinein.
Die Zofe hob den Kopf und wie schon so viele Male zuvor konnte Zahara unterschiedliche Gesichtsausdrücke erkennen. Freude und Angst waren derzeit die vorherrschenden.
„Was hast du mit dem Trunkenbold angestellt?“, fragte sie und schenkte sich ein Glas Bourbon ein – in jedem Zimmer der Kapitänskabine war inzwischen Alkohol samt Gläservorrat zu finden. Anna ließ ihre derzeitige Aufgabe (Zusammenlegen von Zaharas Kleidern) liegen und versuchte die Frage so schnell wie möglich zu beantworten. Ein lustiger Anblick.
„Ich habe ihn in ein Fass gestopft, Miss Azhir. Ich wollte ihn auf hoher See entsorgen.“ Die Fremdländerin nickte und schenkte sich nach. Alkohol hielt bei ihr einfach nicht lange.
„Ich würde dich gerne etwas fragen, Annabelle.“
„Ja?“ Die Zofe wirkte zugleich nervös, als auch erregt. Jemand, der sich unbedingt beweisen, Pluspunkte sammeln wollte.
„Macht es dir Spaß, zu töten?“ Die Frage erwischte Anna offensichtlich vollkommen unvorbereitet, denn sie riss die Augen auf, atmete ruckartig ein und richtete den Blick zu Boden.
„Ich... wieso...“ Sie brauchte einige Sekunden, ehe sie sich gefasst hatte. „Nicht direkt, Miss. Aber die Starken überleben. Das habt ihr mir gezeigt.“
„Also willst du stark sein? Du?“ Zahara war sichtlich amüsiert, als sie näher an die andere Frau heran trat und spielerisch mit einem kleinen Taschenmesser über die Wange Annas strich. Sie hatte eine größere Macht über diese Frau als sie zuvor gedacht hatte. Heute war ein Tag der Überraschungen!
„Ihr... ja, will ich.“
„Wie willst du stark sein, wenn du einfach nur meine Befehle befolgst wie ein Hund?“ Überrascht sah Anna ihrer Herrin in die Augen. Zahara machte es gerade unglaublichen Spaß, mit der Psyche der Zofe zu spielen. Loyalität der Kapitänin wurde gegen den Wunsch, stark zu sein, gestellt. Klassische Verursachung psychischer Dissonanz – und Anna hatte nun damit zu kämpfen.
„Aber ihr habt...“, stammelte Anna und blickte verwirrt von links nach rechts.
„Ich habe was? Ich sage dir was du tun sollst und du tust es. Braver Hund. Braver Sklave. Ist es das, was du willst? Mir dienen wie ein Hund?“
„I-Ich... ja-nein, ich...“
„Was willst du? Wann hast du das letzte Mal etwas getan, was du willst?“
„Ich..."
„Weißt du überhaupt noch, was du willst? Hast du Bedürfnisse? Lebst du noch?“, fragte Zahara und klopfte mit dem Taschenmesser gegen Annas Stirn. Die Frau wurde rot, schwitzte und Tränen sammelten sich genauso in ihren Augen wie eine aufkeimende Wut.
„Tu etwas für dich. Jetzt. Oder hast du das verlernt?“ Die Augen der Kapitänin weiteten sich vor Erwartung. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, wie Anna sich verhalten konnte. Entweder sie brach zusammen zu einem heulenden, erbärmlichen Haufen Elend oder wehrte sich das erste Mal gegen ihre Fesseln. Zahara hatte die Zofe nur deswegen in ihre Dienste genommen, weil sie Stärke bewiesen hatte. Wenn sie diese jetzt aber verloren hatte, hatte Zahara keinen Nutzen mehr für die Frau. Es wäre ein einfaches, mit dem Messer einen Kehlenschnitt durchzuführen, es wäre ein einfaches...
… langsam drehte die Exotin den Kopf und sah herab auf ihren Arm. Ein tiefer Schnitt zog sich entlang des Ellenbogens und Blut tropfte herab auf den Teppich. Annabelle wirkte zu gleichen Teilen befriedigt, als auch panisch. Das war es also, was sie wollte? Mit einem leichten Grinsen wollte Zahara beginnen, etwas zu erwidern, da brach die Zofe jedoch schon wieder aus sich heraus, warf sich nach vorne und presste Zahara ihre Lippen auf den Mund, ehe sie mit klopfendem Herzen zurückwich und mit einer unendlichen Entschuldigungs-Stammelei begann.
Zaharas Hand fuhr nach vorne und schnitt einmal quer über den Bauch Annabelles. Sie zuckte vor Schmerzen zusammen und bekam vor lauter Herzklopfen, Adrenalin und Angst kaum noch ein Wort heraus. Dann ging Zahara lächelnd zur Tür und verriegelte sie von Innen.

Am nächsten Morgen zierte ein neuer Verband Zaharas Arm, mit dem sie gerade nach einigen belegten Broten griff und sie sich auf den Teller lud. Mit dem Blick auf die Weiten des Meeres ließ es sich doch ganz angenehm Frühstücken. Geräucherter Schinken, zerstampfte, frische Leberwurst mit Gurken und Senf, dazu einige knackige Tomaten und etwas Orangensaft. Das Geld, das in besseres Essen investiert wurde, schmeckte wahrlich hervorragend, da konnte nicht einmal Kai etwas dagegen sagen, der gerade am anderen Tischende begann seinen Hunger zu stillen.
Annabelle hingegen aß so viel, dass man denken konnte, es gäbe kein Morgen. Die Frau machte allerdings eh einen anderen Eindruck – die Ängstlichkeit, die sich in den letzten Tagen langsam abgebaut hatte, war nun endgültig verschwunden und ihrem Gesicht war ein Glühen angeheftet, das für Zahara nur eines sprach: Loyalität. Sie hatte sich letzte Nacht die womöglich perfekte Dienerin geschaffen – und danach hatte sie stundenlang wach gelegen (Überraschung), geraucht und sich den Kopf über die Entführung Vidal Kaiyoris Gedanken gemacht. Vor allem zwei Punkte waren ihr besonders wichtig, weshalb sie mit ihnen auch das Gespräch eröffnen würde. Genauer gesagt mit einem, denn, dass Kais Identität vor seinem Vater geheim gehalten werden sollte, war wohl kaum eine Erkenntnis.
„Kai, eine Frage.“, sagte sie und spülte Wurst mit etwas Saft herunter.
„Möchtest du Vidals Vater nach der Übergabe töten?“ Die Frage war so beiläufig und in solch einem Ton vorgetragen, dass es fast schon erschreckend war. Vollkommen nebensächlich wurde über das Leben eines Menschen gesprochen, und … oh, hartgekochte Eier!

Es wirkte noch immer merkwürdig, zum Geruch von durchnässtem Holz und einem leichten Schwanken der Umgebung aufzuwachen, und dabei nicht zuerst daran zu denken, wie viel Glück man doch hatte, die Nacht überhaupt überlebt zu haben. An die Stelle der Überlebensängste, die mit dem Quartiernehmen an Bord fremder Schiffe ganz natürlich kam, trat jedoch etwas wenig besseres: Gedanken wie „Ist das Schimmel?“ und „Fahren wir etwa?“ gehörten nun mal zu den Sorgen, mit denen ein Schiffsbesitzer aufwachte. Kai musste sich erst noch daran gewöhnen.
Merkwürdiger als dies war jedoch der erste Blick, den Kai in sein Zimmer warf. Auf der Seite liegend fiel er auf den dunklen Fußboden der kleinen Kajüte, der vor wenigen Stunden noch blank war, und auf dem nun eine weißhaarige Gestalt kauerte und den Schlaf der Gerechten schlief.
Noch etwas benebelt vom Schlaf wusste Kai mit dem Eindringling erst nichts anzufangen, bis die Erinnerung an den vergangenen Abend über ihn hereinbrach wie ein Sturm. Anstatt von diesem jedoch fortgefegt zu werden, blieb Kai ungerührt liegen und schenkte der geschlossenen Tür zu seinem Zimmer ein müdes Augenzwinkern. Beide Riegel, die den Schatzmeister der Erhabenen vor dem Rest der Crew schützten, lagen geknackt an der Schwelle.
Kai wunderte sich weniger darüber, dass Vidal die sporadische Sicherung selbst im Dunkel der Nacht lautlos hatte überwinden können – vermutlich lag ein gewisses Auge für Details doch in der Familie, und wenn Kai dieses für seine technische Finesse missbrauchen konnte, wieso dann nicht auch sein Bruder? – es war viel eher die Frage nach dem „Warum“, die Kai umtrieb. Schon wieder. Gestern hatte ihn diese Frage während der gesamten Unterhaltung mit seinem kleinen Ebenbild geplagt, und trotz lautem Geschrei seiner Neugier hatte er sie erfolgreich niedergerungen. Noch immer bleischwer und mit Sand in den Augen fiel ihm dieser Kampf jedoch deutlich schwerer.
Es gab sicherlich verschiedene Möglichkeiten für Vidals Auftauchen. Er könnte für den großen Patriarchen der Kaiyori spionieren, um das Schicksal eines vermeintlichen piraterischen Doppelgängers des verschollenen Firmenerben zu untersuchen. Er könnte seiner Mutter einen Gefallen tun wollen, weil er glaubte, Kai würde noch leben. Er könnte auf eigene Faust handeln, um den geliebten Bruder wiederzufinden. Er könnte Selbiges tun, um die Geheimnisse des Kriminellen in Erfahrung zu bringen, die Crew an die Marine zu verraten, den Familiennamen von jedem Verdacht reinzuwaschen, und am Ende ein für alle Mal seine Vormachtsstellung zu beweisen.
Keiner dieser Gründe erforderte es jedoch, dass Vidal bei seinem Bruder auf dem Boden schlief, vorausgesetzt natürlich, der Junge nahm die Sache mit „Gewinne das Vertrauen der Zielperson“ nicht ernster als nötig. Nein, wenn es nur ums Geschäft ging, würde er nicht so übertreiben; es wäre eine unnötige und gefährliche Verschwendung von Zeit und Nachtruhe.
Die Gedankenkette zerbrach, als Vidal sich mit einem Grunzen von einer Seite auf die andere warf. Offenbar war das Kind es nicht gewöhnt, auf einer so harten Oberfläche zu nächtigen. Kai konnte es ihm nicht verdenken; so schlecht das Leben bei den Kaiyoris auch gewesen sein mag, bis zu seiner Entführung hatte Kai nicht eine einzige Nacht woanders als in seinem gewaltigen Himmelbett geschlafen. Das Möbelstück hatte der alte Kaiyori noch vor der Geburt seines ersten Sohnes erstanden, und selbst in Zeiten, in denen Kai andere Zuwendungen versagt blieben, ware ihm doch immer zwei Sachen geblieben: Gutes Essen und guter Schlaf. „Nicht, dass der Winzling noch vollends eingeht“. Ach, Elternliebe!
Möglichst ohne ein Geräusch von sich zu geben setzte sich Kai in seinem Bett auf, suchte geschwind nach seinen leichten Sandalen, die er letzte Nacht offenbar kopflos hinter sein Bett geworfen hatte, und machte sich dann auf leisen Sohlen auf den Weg in Richtung Achterdeck. Trotzdem die Holzbretter ihm keinen Schutz gewähren würden, zog Kai die Türe leise hinter sich zu, bevor er sich wunderte, ob er dies zum Umgehen einer Unterhaltung mit seinem Bruder tat, oder um einem Kind nach einem harten Tag eine möglichst ausgiebige Erholungsphase zu gönnen.

Etwa eine Stunde später tanzte Kai um das schwere Steuerrad, das vor dem Eingang zum Esszimmer der Kapitänen lag, und betrat dieses anschließend mit federndem Schritt. Zaharas neue, immer aufmüpfigere rechte Hand hatte ihn zum Frühstück mit ihrer Besitzerin gebeten, aus Angst, er könne vielleicht die Abmachung von letzter Nacht vergessen haben, nachdem doch einiges an Alkohol geflossen war. Kai hatte die Frau mit einem schiefen Grinsen verscheucht, welches Anna glücklicherweise noch immer ein paar Schweißperlen abringen konnte. Der Tag, an dem die Frau keine Angst mehr vor ihrem Schießtrainer hatte, wäre der Tag, an dem sich Zahara eine neue Zofe würde suchen müssen. Eine blinde Loyalistin mit Schusswaffe war ein unnötiges Risiko.
Ganz im Gegensatz zu Anna war die Crew an diesem Morgen unerwartet gut gelaunt. Offenbar hatte sich Zaharas Großzügigkeit nicht nur auf ihren Schatzmeister beschränkt; zwei schwere Bierfässer standen noch immer an Deck der Slavery. Ob sie den Alkohol aus eigener Tasche bezahlt hatte, oder aber erwartete, dass sie die Ausgaben von der Schiffskasse erstattet bekäme, würde noch in Erfahrung gebracht werden müssen.
Trotzdem sah Kai mit einem zufriedenen Lächeln den Matrosen von Levass – seinen Matrosen – dabei zu, wie sie vergebens versuchten, mit den Folgen eines mal mehr, mal weniger heftigen Katers zurechtzukommen. Einige Übergaben den Inhalt ihres Magens dem Meer; eine rügenswerte Verschwendung, doch Kai wollte ausnahmsweise nicht so sein, von der Hoffnung beseelt, der vergeudetet Alkohol wäre der Preis für einige weniger durchzechte Nächte, in denen die Matrosen den Nachwirkungen ihrer letzten Feier gedachten.
Ein wenig abseits saß Lonay mit seinen Männern, die über irgendeiner Art von Würfelspiel brüteten. Nur äußerst selten erfüllte das Klackern kleiner Knochen die morgendliche Seeluft; die meiste Zeit schienen die Söldner über das Spiel nachzudenken, als wirklich zu spielen. Eine merkwürdige Trainingsmethode ihres bärtigen Anführers, oder schlicht Zeichen für die geistige Beschränktheit der Männer? Bisher hatte sich Kai eigentlich nicht um solcherlei sorgen müssen: Das Training durch Lonay und seine Männer war zwar bei weitem noch nicht abgeschlossen, doch schon jetzt glaubte Kai hin und wieder etwas Neues an Deck beobachten zu können. Matrosen, die ihre Ruderplätze eifrig gegen solche verteidigten, die vergaßen, dass neuerdings jeder eine eigene, feste Position an Bord hatte, damit sich niemand jemals wieder im Weg stand und im Gefechtsfall erneut Chaos ausbrach. Es war eine Neuerung, die Kai überaus gut gefiel – Ordnung war meistens gleichbedeutend mit Effizienz, und etwas Besseres als Effizienz gab es nicht.
Im Esszimmer der Kapitänin hatte man offenbar nicht auf den letzten Gast der kleinen Veranstaltung gewartet. Annabelle saß bereits vor einem halbleeren Teller, zwei beschmutzte Geschirrstücke deuteten jedoch darauf hin, dass sie schon deutlich weiter fortgeschritten war. Zahara dagegen saß überraschenderweise deutlich ruhiger und gesitteter am Tisch und nahm ihr Essen vergleichsweise zivilisiert zu sich. Der neue Verband an ihrem Arm machte diesen Eindruck jedoch genauso zunichte wie ihr restliches verwildertes Auftreten.
Kai grüßte die beiden Damen mit einem kurzen Kopfnicken, dann setzte er sich Annabelle gegenüber an Zaharas andere Seite und zauberte nach ein wenig Abtasten des eigenen Körpers hervor, was er schon lange keiner Dame mehr gezeigt hatte: Seine Sakeschale. Spätestens nach dem vergangenen Abend musste er seine Angewohnheit, Alkohol nur mit dem kleinen Schüsselchen zu sich zu nehmen, wieder aufleben lassen. Das winzige Tongefäß hatte ihn schon bei vielen Geschäftsabschlüssen vor allzu verführerischen, alkoholischen Ablenkungen bewahrt, da würde es an Bord der Slavery sicherlich auch nichts schaden.
Mit nicht mehr als ein paar Tropfen dunklen Rums, die er sich aus einer herumstehenden Flasche selbst serviert hatte, schnappte sich Kai etwas Brot mitsamt frischem Fisch, deren Kombination hoffentlich die Reste seiner Müdigkeit davon spülte. Als Zahara wenig später das unvermeintliche Gespräch eröffnete, glaubte Kai tatsächlich, beinahe vollauf geistig wie körperlich anwesend zu sein. Entsprechend gefasst nahm er die Frae seiner Kapitänin auch, bevor er mit einem breiten Grinsen den Kopf schüttelte.
„Nein, möchte ich nicht.“ Nicht, dass Kai nie darüber nachgedacht hätte, seinen Erzeuger das Zeitliche segnen zu lassen; im Gegenteil. In gewissen Abschnitten seines Lebens waren es etliche gedankliche Ableben des werten Kaiyorioberhauptes, welche Kai bei Laune gehalten hatten. Diese Zeiten lagen jedoch schon weit hinter dem Händler, der die letzten Jahre wahrlich genug mit eigenen Problemen zu kämpfen gehabt hatte. Mit einem Blick auf den Zustand der Crew und seinem alten neuen Status als Pirat hatte sich hieran auch nichts geändert.
Allerdings war dies nicht der Hauptgrund für Kais Unwillen. Hätte er den Tod des Alten für nötig erachtet, hätte er ihn wirklich gewollt, so hätte er sich Zeit dafür genommen. Doch in der jetzigen Situation… „Es würde sich schlichtweg nicht lohnen, im Gegenteil, es würde uns sogar schaden. Wenn wir unser Erpressungsopfer töten, und in einer Woche oder einem Monat erneut vor einem ähnlichen Problem stehen, wird unser neuer Opfer vielleicht nicht ganz so willig sein, zu bezahlen. Wenn ein Händler sich den Ruf einhandelt, seine Geschäftspartner nach erfolgreichem Tausch zu töten, wie viele, glaubst du, werden in Zukunft mit diesem Händler Umgang pflegen wollen?“ Den Mund gefüllt mit einem kleinen Bissen Fischbrötchen ergänzte sich Kai selbst: „Im Moment müssen wir uns um unseren Ruf kümmern, ganz einfach. Bloß, weil bisher keine Zeitung Steckbriefe mit unseren Gesichtern enthielt, heißt das nicht, dass die Marine uns vergessen hat. Andererseits ist es ja auch genau das, was wir wollen: Wir sind Piraten, und Piraten leben davon, dass die Leute Angst vor ihnen haben. Steckbriefe sind ein Teil davon, genauso wie ein makellos-grausamer, aber auch nicht allzu blind-zerstörerischer Ruf.
Oh, und da wir gerade dabei sind, zwei weitere Dinge sind ebenso wichtig:“ Rasch schluckte Kai den Bissen Frühstück herunter, bevor er Zahara unverblümt angrinste: „Erstens, wie geht es mit usnerer Flagge voran, und zweitens, was glaubst du, welche Aret von Beinamen wird uns die werte Regierung wohl verpassen?“

Schade. Mit einem klaren Rachemotiv hätte Zahara arbeiten können. Was den Rest von Kais Ausführungen anging: Die Flagge war nach wie vor ein Problem. Kai hatte gemeint, sie solle Zaharas Inneres repräsentieren. Super. Das Problem an der Sache muss nicht noch einmal erläutert werden, oder? Beinamen der Regierung hingegen... die waren Zahara ziemlich egal. Sie wusste um ehrlich zu sein nicht einmal wirklich, was damit gemeint war, geschweige denn vergeudete sie Gedanken an solch eine Banalität. Deshalb winkte sie auch relativ schnell ab und brachte Kai mit weiteren Broten zum Schweigen. Keine Fragen mehr! Hunger!
Man musste schließlich gut gestärkt in einen Tag gehen, an dem... ja, was eigentlich? Kai würde die ganze Zeit abwesend sein und irgendwelche Pläne aushecken, für die Kapitänin der Slavery gab es hingegen nichts zu tun. Ein ganzer, langer Tag voller Freizeit, Faulenzen und Frönen. Es gab schlimmeres. Nachdem der Schatzmeister also das Weite gesucht hatte, beschäftigte sich Zahara einige Stunden lang mit der Crew, sah Lonay bei der Arbeit zu und wechselte einige Worte mit seinen Männern. Hin und wieder verzog sie sich mit Anna in ihre Kabine, werkelte ein wenig an diversen, alchemistischen Zutaten und deren Produkten (die erstandenen Alchemiebücher waren keine Anfängerkost) und genoss es, nichts zu tun. Als der Abend anbrach sammelte sie jedoch ihre sieben Sachen zusammen (Hündchen, Annachen, Lonaychen) und machte sich auf in Richtung Stadt, wo sie Kai in einem der vielen Restaurants treffen würden um den Ablauf und Plan der Übergabe zu besprechen.

„... also hab ich ihr meine Kette in die Tasche geschoben und die Marine gerufen.“
Lonay klatschte in die Hände und lachte so laut, dass der ganze Laden davon mitbekam. Und das obwohl Zahara viel Wert auf Abgeschiedenheit gelegt hatte. Nachdem die ersten Weingläser jedoch geleert, aufgefüllt und wieder geleert worden waren, befand sich die allgemeine Stimmung am Tisch der ar-Raqim auf einem gehobenen Niveau. Derzeit warteten sie auf Kai und teilten Geschichten ihrer Vergangenheit.
„Hm... ah! Huehuehuehuehue. Also ich wurde von so einem Bürohengst angeheuert ein wenig Drecksarbeit für ihn zu erledigen. Ein paar Leuten Angst einjagen, zeigen, was für ein machtvoller, toller Kerl er doch ist, ihr kennt das. Auf jeden Fall meinte er dann am Ende, den zweiten Teil des abgemachten Geldes nicht zu bezahlen.“ Lonay breitete die Hände aus und schaute ganz unschuldig. „Das geht nicht. Also musste ich ihm das zeigen.“ Erneut drang ein kehliges Lachen aus seinem Mund, seine Geschichte wurde allerdings von der plötzlichen Ankunft Kais gestört, der die Wach-gdân passiert und sich unter angetrunkenen Begrüßungen neben Zahara niedergelassen hatte. Das Buffet stand noch auf dem Tisch und war nicht angerührt worden – eine Sache der Höflichkeit oder sowas. Nachdem er seine Fischmaske abgenommen hatte, konnte man seinen skeptischen Blick sehen. Hatte das Essen mal wieder zu viel gekostet? Innerlich schüttelte Zahara den Kopf, stieß Lonay dann aber unter dem Tisch gegen das Bein.
„Oh ja, ja. Um es kurz zu machen: Seine Frau stand offenbar auf... echte Männer.“, sagte Barc fröhlich, klatschte sich auf den kugelrunden Bauch und lachte laut. Grinsend widmete sich die Kapitänin ihrem Neuankömmling und füllte währenddessen ihren Teller mit gefüllten Kartoffeln, Kaviar-Eiern und etwas Weißbrot.
„Und, was hast du uns für eine Geschichte zu erzählen, Kai?“, fragte sie den Weißhaarigen, der sich nun, genau wie der Rest, erst einmal um das Essen kümmerte umd nur mit den Schultern zuckte.
„Nun, nichts Besonderes, nur der klassische Kampf Gut gegen Böse. Nur, dass diesmal die Bösen gewinnen. Zumindest hoffe ich das schwer.“ Mit einem Blick auf Lonay ergänzte er: „Oh, nur um sicher zu gehen: Wir sind die Bösen, ja?“ Der Söldner schute nur böse und grummelte etwas unverständliches in seinen Bart, erwiderte jedoch nichts. Zahara hingegen nickte und schwieg ebenfalls um ihren Mund mit den hervorragenden Kartoffeln zu füllen und mit etwas Wein herunter zu spülen.
„Also gut. Damit wir alle auf dem selben Stand sind, vielleicht ein kurzer Rückblick auf die Situation: Durch glückliche Umstände sind wir in den Besitz einer Geisel gekommen, die einem der hiesigen Händler 20 Millionen Berry wert sein dürfte. Die Geisel selbst ist handzahm, und unser Geschäftsmann besitzt wirklich sehr, sehr viel Geld. Es war damit nur noch die Frage, wie wir das eine gegen das andere tauschen.“ Kai wartete eine Weile, aber nachdem Lonay etwas überrascht drein schaute und Zahara einfach gar nicht reagierte, fuhr er fort. „Genau um dieses Detail habe ich mich heute gekümmert. Ich konnte unsere Zielperson erfolgreich kontaktieren, ohne unsere Identität preisgeben zu müssen, und es scheint so, als wäre sie tatsächlich mehr als willig, das Geld zu bezahlen. Nur, was die von mir erdachte Übergabemethode anging, war der gute Mann erst skeptisch, doch auch das war auf lange Sicht kein Problem. Kurzum: Der Termin und die Umstände der Übergabe stehen fest.“
Erneute Pause. Erwartete Kai etwa Lob? Da war er an der falschen Adresse, denn Lonay war immer noch überrascht, Zahara ungeduldig und auch Anna trommelte leise mit den Fingern auf dem Tisch herum.
„Gar nichts? Na denn, sei's drum. Zu der Übergabe an sich ist eigentlich nur eines zu sagen...“ Pause. Ja konnte der Gute denn mal in die Hufe kommen? Himmel... „Meine Damen und Herren, heute Nacht muss nochmals eingekauft werden. Morgen werden wir nämlich eine der, wenn nicht die größte Festivität während des Festivals der Flossen besuchen: Den Maskenfischball.“
Während Kai nun einige Blätter aus seinem Koffer herausholte und sie sorgfältig auf dem Tisch ausbreitete, dachte Zahara darüber nach, was sie so eben erfahren hatte. Sie würden auf einen Ball gehen? Einen Maskenball? Unnötig zu sagen, dass sie noch nie das Vergnügen gehabt hatte und diesem auch nicht wirklich freudig entgegensah. Auf den Papieren konnte sie nun Zeichnungen eines großen Hauses, diverse Karten und Pläne des Grundrisses erkennen. Unterlagen eben. Zwischendrin lagen auch noch einige Fotos von bärtigen Männern und etwas zu pummeligen Frauen. Beides nicht schön anzusehen. Zahara war nicht die einzige, die sich interessiert über die neuen Spielsachen beugte. Auch Lonay und Anna beäugten die Pläne und schoben sogar das Essen etwas zur Seite um dem Schatzmeister der Crew mehr Platz zu verschaffen.
„Der Maskenfischball ist wie gesagt einer der Höhepunkt des mehrere Tage dauernden Festivals. Es findet immer am siebten und vorletzten Tag der Festlichkeiten statt, dem sogenannten Clownfischtag, an dem alle Menschen erneut dazu aufgerufen werden, zu feiern was das Zeug hält, bevor die Woche zu Ende geht. Alle Menschen werden entsprechend noch mehr mit sich beschäftigt sein als die restlichen Tage. Doch das ist noch nicht alles. Der Ball selbst ist eine stets vielbesuchte Angelegenheit, auf der sich alles zeigt, was auf Matsu Rang und Namen hat. Soll heißen: Wir haben ein Haus voller Händler und Politiker, die es gewohnt sind, dass sich alles um sie dreht, die sich gegenseitig selbst den kleinsten Vorteil neiden, und vermutlich eher noch mehr feiern würden, hörten sie von unserem Plan, anstatt dass sie auf den Gedanken kämen, uns aufzuhalten. Der größte Vorteil besteht jedoch darin, dass eine komplette Maskierung absolute Pflicht darstellt. Dieser Tatsache sei Dank können wir unsere Geisel anstatt in einem Sack völlig offen mit uns führen, ohne, dass man uns sofort auf die Schliche kommt. Sobald der Handel abgeschlossen ist, können wir uns natürlich trotzdem enttarnen, hier und da ein wenig Schmuck mitgehen lassen, und unseren Crewnamen laut verkünden, um ein wenig an unserem Ruf zu feilen. Diesen Part würde ich im Übrigen euch überlassen, Frau Kapitän. Sobald wir das Geld eingesackt haben, ist es mir gleich, ob ihr diese einmalige Gelegenheit zum Rauben und Plündern wahrnehmt oder nicht.“
„Das hängt davon ab, wie viel Wert auf Sicherheitspersonal gelegt wird. Ich würde gerne vermeiden, die gesamte Mannschaft mitzunehmen. Das würde dann doch etwas zu viel... Aufsehen erregen.“, antwortete Zahara nach einigen Sekunden des Überlegens und erntete als Antwort sogar einen leicht anerkennenden Blick seitens Kai. War der Abend nicht wundervoll?
„Das ist leider der Haken an der ganzen Sache: Selbst im besten Fall können wir maximal, sagen wir, zu fünft oder sechst dort auftauchen, da die Feier nur mit Anmeldung besucht werden kann. Ich habe uns bereits mit falschen Identitäten angemeldet und dabei folgende Teilnehmer berücksichtigt...“ Kai zog eines der Blätter hervor, auf dem ein paar gekritzelte Namen standen.
„Wir werden uns als auswärtige Handelsfamilie ausgeben, die durch Bekannte auf die Gästeliste geraten ist. Dabei werde ich jedoch lediglich den Part des Butlers übernehmen - dies gibt mir ein wenig Freiheit und verringert die Chance weiter, als Einheimischer erkannt zu werden. Der Rest der Familie sieht wie folgt aus:
Zahara, meine Kapitänin, ihr wäret die Matriarchin der Familie, eine aufstrebende Firmenerbin, die jedoch an den rundlichen Besitzer eines Konkurrenzunternehmens zwangsverheiratet wurde - verkörpert natürlich von unserem liebreizenden Herrn Lonay.“ An der Stelle zog der Mann seinen unsichtbaren Hut und deutete eine Verbeugung an.
„Dieses entzückende Pärchen wurde sogar schon mit Kindern gesegnet - einer Teenagertochter, gespielt von Annabelle, und einem jüngeren Kerlchen, unserer Geisel. Dieser Kernfamilie können wir noch den ein oder anderen Butler hinzufügen, einer der jüngeren Matrosen könnte als Mündel durchgehen, und, sollte es denn als nötig erachtet werden, nehmen wir einen oder zwei Matrosen als aufdringliche Cousins oder Onkel mit. Es ist üblich, dass die größeren Familien nicht jeden Verwandten zweiten oder dritten Grades anmelden, der sich dem Kernclan praktisch aufdrängt.“ Blöde Matrosen auf so eine delikate Angelegenheit mitnehmen? Na-ah. Ohne Zahara. Für sie war eher interessant, ob die werte Geisel auch mitspielen würde anstatt Ärger zu verursachen.
„Natürlich wird er das. Ein weiterer Vorteil meiner Rolle ist, dass ich den ganzen Abend an der Seite des einzigen, männlichen Erben verbringen kann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.“ Zahara war zufrieden. Bisher sahen die Grundlagen des Planes nicht nur brauchbar, sondern auch gut durchdacht und vernünftig aus. Kai schien eine Menge Arbeit in diese Sache investiert zu haben. War aber noch der Großteil zu klären... „Wie wird die Übergabe selbst ablaufen?“ Die Antwort auf diese Frage war keine willkommene. Zwar grinste Kai wie er es immer tat, sagte aber: „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“ Kein Wunder also, dass Zahara etwas erstaunt drein blickte und sich Anna und Lonay direkt zu ihr gesellten.
„Es ist allgemein bekannt, dass die eigentliche Übergabe den kritischsten Punkt einer Entführung darstellt. Oft geht diese schief, weil die Gegenseite in der Regel schneller und flexibler agieren kann, da sie, nun ja, nicht anonym bleiben muss und alle Register ziehen kann. Es ist deshalb unverzichtbar, dieser Gegenseite so wenig Informationen wie möglich zu geben, und selbst diese werden erst im letzten Augenblick übermittelt. Selbst dann kann es jedoch passieren, dass der Zufall wie so oft den Ganoven einen Strich durch die durchgeplante Rechnung macht. Deshalb wird es unser Ziel sein, unseren eigentlichen Plan erst dann in Stein zu meißeln, wenn wir alle Informationen haben, also auf der Feier sind.“
„Mit anderen Worten: Du hast keine Ahnung und wir improvisieren.“ Zahara trank einen großen Schluck und lächelte. „Gefällt mir.“
„Das dachte ich mir. Allerdings improvisieren wir nicht auf die herkömmliche Art...“ Kai wuchtete seinen Koffer auf den Tisch und zog drei Mappen hervor, die er prompt den Anwesenden vors Gesicht knallte. „Wir improvisieren auf meine Art. Es mögen bitte alle ihre Mappen bis morgen auswendig lernen; bevor wir losgehen, werde ich einen kurzen Test abhalten, und wer nicht besteht, wird zurückgelassen.“
Mit hochgezogener Braue warf Zahara einen Blick in die Mappen und konnte neben einigen Fotos viel, viel Schreibkram erkennen. Schreibkram, den sie nicht entziffern konnte. Super. Etwas... ah, Ablenkung!
„Als kleinen Trost habe ich alleridngs noch das hier besorgt...“, sagte Kai und legte vier Babyteleschnecken auf den Tisch. Erneut überrascht musterte Zahara die Tiere und hatte kaum Probleme damit, sie ihren zukünftigen Besitzern zuzuschreiben. Kais war unscheinbar und weiß, Lonay hingegen braun und etwas größer als die anderen. Annabelles war etwas kleiner, hatte dafür aber unglaublich lange Wimpern und ihre eigene war schwarz und trug etwas Goldschmuck. Zahara nahm sich ihre und wandte sich wieder Kai zu.
„Wie funktionieren die Dinger?“
„Eigentlich ist es ganz einfach: Diese Baby-Teleschnecken sind auf unsere Bedürfnisse insofern zugeschnitten, als sie auf Sprachkommandos reagieren und damit auch ohne soetwas wie Wählscheiben mit den anderen Schnecken in Kontakt treten können. Das funktioniert aufgrund der Größe zwar nur solange, wie wir uns alle auf derselben Insel befinden, doch das sollte eigentlich auch genügen.“
Nun war es an der Kapitänin anerkennend zu nicken. Mehr Lob würde Kai an diesem Abend aber auch nicht erhalten; hoffentlich hatte er aufgepasst.
„Jeder von uns wird seine Schnecke mit auf die Mission nehmen und die anderen benachrichtigen, falls sie oder er etwas wichtiges herausgefunden hat. Die Schnecken können entweder mithilfe von Ton, oder durch Vibrieren auf eingehende Anrufe aufmerksam machen. Fürchtet euch übrigens nicht davor, auch öffentlich die Schnecken zur Hand zu nehmen: In den Kreisen, die wir infiltrieren werden, hat jeder so ein Ding, um stets über die neusten Neuigkeiten in Sachen Wirtschaft Bescheid zu wissen.“
Da das Thema Schnecken nun geklärt war, konnte man ja zu anderen Tieren wechseln. „Ich nehme an, Waffen und Hunde sind dort nicht sonderlich erwünscht?“, fragte sie mit leicht enttäuschtem Blick. Sie war ganz offensichtlich nicht voller Hoffnung. Kai schnalzte mit der Zunge und antwortete: „Dahingehend bin ich mir noch nicht ganz sicher. Zumindest, was die Hunde betrifft. Dolche oder Pistolen führt dort ebenfalls jeder mit, auch wenn es die wenigsten zugeben. Immerhin ist es nicht Gang und Gäbe, die oberen Zehntausend nach Waffen abzutasten - besonders nicht die Damen. Die Hunde dagegen... wenn man sie als hochgezüchtete Preisträger ausgeben kann, könnten wir sie durchbekommen. Im Schlimmsten Fall werden sie draußen angebunden und müssen warten.“ Preisträger? Das würden die Beiden schon hinbekommen. Wie zur Bestätigung konnte man ein leises Knurren von unter dem Tisch hören. So oder so beließ die Kapitänin es dabei – nicht begeistert.
„Eine andere Sache. Wenn wir uns dort einen Namen machen wollen... weißt du, wer die zwei oder drei mächtigsten, wohlhabendsten und einflussreichsten Männer auf dem Fest sein werden?“
„Seite 17, zweiter, dritter und vierter Absatz.“ Unser lieber Kai hatte wohl wirklich an alles gedacht. Oder? Zahara blätterte ein wenig und konnte die Bilder einiger merkwürdiger Menschen sehen. Dennoch würde es schwer werden, diese in Maskierung auftreiben zu können.
„Gut, wenn es ansonsten keine Fragen mehr gäbe... dann wünsche ich uns allen noch ein geruhsames Abendessen, bevor wir uns in die Aufregung einer verkaufsoffenen Nacht stürzen, um unsere Kostümierungen zu besorgen. Oh, und bitte nicht vergessen, die Mappen zu lesen, ja?“, schloss Kai mit einem sehr breiten Grinsen (das wohl vor allem dem grimmigen Lonay gewidmet war – lesen war ganz offensichtlich keine seiner Lieblingsbeschäftigungen) und begann nun endlich, wie ein echter Mann zu essen. Zumindest wie ein Halber.

Das Buffet wurde sowohl mit Smalltalk, als auch Schweigen zu Ende gebracht und sie alle ließen sich die Köstlichkeiten schmecken. Mit vollem Bauch, geröteten Wangen und dem wunderbaren Gefühl der Befriedigung machten sich unsere tapferen Helden... unsere hinterhältigen Bösewichte zurück zu ihrer Geheim... zu ihrem Schiff. Genau. Davor hatten sie noch einen der Läden in Anspruch genommen und trugen nun Anzüge für die Herren und Kleider für die Damen mit sich (schwarz, sexy, gut) sowie dazu passende Fischmasken. Zahara hatte sich auch hier für die etwas dunklere Variante entschieden. Dass die Maske mit glitzernden und funkelnden Steinchen besetzt war, hatte Kai überhaupt nicht gefallen.
Als Kai in Richtung seiner Kabine verschwand um seine Sachen zu verstauen tat Zahara das Gleiche. Dann jedoch war Zeit, sich dem Problem „Schrift“ zu widmen. Zahara konnte wie gesagt lesen – kein Ding. Nur Allgemeinsprache? Da wurde es schwierig. Aus diesem Grund klingelte Kais neue Teleschnecke und Zahara orderte ihn mal wieder hoch in ihre Kabine.
Als er eintraf, saß Zahara auf ihrem Schreibtisch, hob mit zwei Fingern seine Mappe empor und wirkte einigermaßen entspannt. „Du hast dir ja einige Mühe gemacht. Ein Problem: Ich hab eure Schriftsprache nie gelernt.“ Als sie das sagte, wirkte sie nicht etwa peinlich berührt oder schämte sich dafür – sie war stolz und überheblich wie immer. Fast so, als wolle sie sagen: „Meine Sprache ist eh viel geiler, ihr Pisser!“ Kai zog nur eine Braue empor, ehe er sich in sein übliches Lächeln flüchtete.
„Wie's aussieht, sollte ich mir langsam über feste Nachhilfelehrerhonorare Gedanken machen. Erst Anna, jetzt das. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ich dir unsere Schrift beibringen soll, und du mich nicht hierher zitiert hast, damit ich dir alles vorlese, oder?“
„Das erscheint mit als die langfristigere Methode.“, erwiderte die Kapitänin lächelnd. Kai nickte nur zufrieden.
„Hervorragend. Über die Kosten können wir uns entweder später unterhalten, oder du bezahlst mich jetzt sofort in... Naturalien.“
Zahara verschränkte sichtlich amüsiert die Arme und legte den Kopf schief. Kein Geheimnis, an was sie dabei dachte. „Ah ja?“
Kai ging leider nicht darauf ein sondern breitete nur die Mappe aus und suchte einige Blätter. „Du könntest mir zum Beispiel sagen, woher dein Akzent stammt. Ich meine, natürlich ist eine Leseschwäche kein kleiner Bruder, der plötzlich auftaucht, doch hieß es nicht erst vor kurzem, dass persönlichere Probleme gelüftet werden sollten, wenn sie die Crew in höherem Maße beeinträchtigen könnten? Und, nunja, diese Mappe nicht selbst studieren zu können ist kein kleines Hindernis...“
Die Fremdländerin winkte ab. Ihr war schon klar, dass Informationen eine Handelsware darstellen und Kai gerade drauf abzielte (obwohl er mit Sicherheit noch irgend einen Weg fand, Geld dafür abzuzwacken). Sie deutete auf ihr Tagebuch.
„Lêsan ist eine fast ausgestorbene Sprache. Sie wird nur noch von den einheimischen Stämmen auf Gazierah gesprochen.“
„Gazierah, warmes Fleckchen Erde, viele Schatzjäger, die nach merkwürdigen Artefakten suchen aber nur selten etwas finden. Über die Stämme weiß ich leider nicht viel - sonderlich handelsfreudig schienen sie mir gegenüber nie zu sein.“
„Du warst schonmal auf Gazierah?“, fragte Zahara überrascht. Lange konnte er sich dort aber nicht aufgehalten haben. Der Händler nickte mal wieder lächelnd. Ob er da gewesen war? Was für eine Frage!
„Ich war eigentlich schon auf jeder Insel unseres schönen Blues, zumindest auf jeder, wo es Menschen mit potentiellen Handelswaren gibt. Gazierah war jedoch nicht sonderlich ergiebig, was das betrifft - der Aufwand, dessen es bedurft hätte, zwischen all den vermeintlichen Antiquitäten echte Schätze zu finden, war mir persönlich viel zu groß. Abgesehen davon habe ich ja nun auch ganz ohne Aufwand meinen eigenen Schatz aus Gazierah, richtig?“
„Ganz ohne Aufwand?“ Zaharas Stirn war gerunzelt. Nicht nur wurde sie gerade als Schatz bezeichnet (Kais Schatz), sondern spielte er auch ihre bisherigen Erlebnisse allzu deutlich herunter.
„Nun ja, für einen Händler ist die Rettung eines Schatzes aus einem Marinegefängnis, seine Verteidigung vor ganzen drei Schiffen unserer lieben Gesetzeshüter, und natürlich dessen Zähmung ein großer Aufwand. Für einen Piraten jedoch, im Vergleich... was einen nicht umbringt, mach nur stärker, richtig?“
Von dieser Stellungnahme blieb bei der Kapitänin eigentlich nur „gezähmt“ hängen. Hatte der Typ noch alle Tassen im Schrank? Zahara entschloss sich, später noch einmal darauf zurückzukommen. Jetzt aber beugte sie sich gemeinsam mit Kai über die Unterlagen und begann damit, all diese nervigen Buchstaben in ihren Kopf zu hämmern. Kai war kein besonders guter Lehrer, trotzdem dauerte es kaum länger als zwei Stunden, ehe Zahara die Grundlagen verstanden und eigenhändig in der Lage war, diese Mappe auswendig zu lernen. Sie fand die gelernte Schriftsprache zwar kantig, eckig und nicht mit der Schönheit lêsans vergleichbar, hatte aber keine Probleme damit.
Irgendwann lehnten sich also beide Piraten zurück, verschränkten die Arme hinter dem Kopf und Kai meinte, es wäre wohl wieder Zeit für Worte anstatt Schrift.
„Warum hast du eigentlich mich gefragt, dir das ganze beizubringen, und nicht dein Haustier? Ich meine, dir ist doch sicherlich klar, dass dich meine Zeit mehr Kosten wird als die Worte 'Gazierah' und 'Lêsan'.“ Wie schön, dass er einen Punkt ansprach, auf den Zahara eh noch kommen wollte.
„Ah, was das angeht: Ich hatte den Eindruck, dass wir dieses kleine Projekt hier gemeinsam leiten. Du kannst kein angeheuerter Söldner, der für jeden Handgreif Geld verlangt und Teilhaber gleichzeitig sein.“
Kai lehnte sich ungewohnt lässig mit einem Arm auf den Tisch und stützte den Kopf mit der Anderen. „Ich wäre trotzdem kein guter Händler, wenn ich nicht versuchen, so viel Profit wie möglich aus jeder Leistung herauszuschlagen, die ich erbringe. Vor allem wenn es um Leistungen geht, die nicht zur üblichen Jobbeschreibung eines Piratenschatzmeisters gehören.“
„Du dürftest gemerkt haben, dass mir Geld an sich nicht sonderlich wichtig ist. Trotzdem erscheinen mir solche Dienstleistungen hier als Investition um den Profit der ar-Raqim zu maximieren. Liege ich da etwa falsch?“ Zumindest ein bisschen hatte Zahara unter ihrem Adoptivvater gelernt.
„Du hast vermutlich recht. Hmm... vielleicht muss ich mich einfach noch daran gewöhnen, dass ich... wir... jetzt tatsächlich eine eigene Piratenmannschaft anführen. Du hast mitbekommen, dass die Männer uns als ihr Elternpaar betrachten?", fragte Kai, nachdem er seufzend den Kopf geschüttelt hatte. Zahara lächelte nur ein wenig. Natürlich hatte sie das mitbekommen.
„Bael bedeutet Ehemann.“
„Natürlich. Ich frage mich, was die Crew hinter unserem Rücken noch so tuschelt. Was sie sagen, wenn du mich jeden Tag aus heiterem Himmel auf deine Kajüte zitierst.“, erzählte Kai mit einem breiten Grinsen und sah sich zur Verteidigung erhobener Hände gegenüber.
„Eine Frau hat ihre Bedürfnisse.“
„Selbstredend, selbstredend.“, erwiderte Kai müde lächelnd und erhob sich in Richtung Tür. „Ich glaube, ich gehe einfach mal ein paar der Männer aushorchen, bevor ich in mein Bett steige. Wir sehen uns morgen früh, erneut zum Frühstück?“
Zahara nickte zur Antwort, stand ebenfalls auf und näherte sich Kai. Eine ernsthafte Verabschiedung? Wüsste man es nicht besser, hätte man doch fast von einem Gute-Nacht-Kuss ausgehen können! Stattdessen aber wanderte das Knie der Kapitänin in rasantem Tempo in die Genitalien des Händlers und ihre Lippen flüsterten ihm zärtliche Worte ins Ohr.
„Man nennt eine Dame nicht zahm. Merk dir das.“

Ein schwarzgrüner Piranha. Eine goldbraune Forelle. Ein blaugrauer Katzenwels. Eine weißgelbe Barbe. Ein schwarzsilberner Putzerfisch. Zwei rötliche Stichlinge. Was für die freie Wildbahn eine lächerliche Vorstellung war (zumindest für alle, die nicht an die Legende vom All Blue glaubten), war auf Matsu während dem Festival der Flosse eine völlig normale Gruppe. Zumindest nach außen hin. Wüssten die Leute jedoch, dass Zahara beispielsweise ihr Kostüm sicherlich nicht zufällig gewählt hatte, sondern mit dem blutgierigen Tier ganz bestimmte Assoziationen hervorrufen wollte… nun, besser, sie erfuhren es erst, wenn Vidal in seinem unschuldig weißen Aufzug gegen das Lösegeld ausgetauscht worden war.
Trotzdem Zaharas Wahl vielleicht etwas zu herausfordernd war, musste Kai sagen, dass die Gruppe insgesamt genauso wirkte, wie er es sich vorgestellt hatte: Völlig chaotisch. Da war die ältere Stiefmutter, die mit einem aufreizenden schwarzen Aufzug trotz Ehemann jeden Blick auf sich zu ziehen versuchte. Ebenjener hatte sich einen der wenigen Fische ausgewählt, die mit seinem Körperumfang vereinbar waren, ganz zu schweigen von der erderschütternden Mythologie, die die Welse in manchen Teilen der Welt umgab. Die Kinder dieser beiden Exzentriker versuchten sich dagegen mit klassischen Gattungen abzugrenzen: Die Tochter woünschte sich zwar offenbar auch nichts anderes, als angesehen zu werden, doch das gediegene Gold stellte einen guten Kontrast zum aufreizenden Schwarz der Mutter dar. Der Sohn dagegen wirkte in seinem weißen Aufzug ganz ideal so, als hätte jemand anderes ihm das Kostüm ausgesucht, während er selbst am liebsten irgendwo anders wäre. Diese zerrüttete Familie wurde perfekt ergänzt von einem Butler, der einen der unterwürfigsten Fischer aller Zeiten verkörperte. Die zwei Piratenbrüder schließlich, die mit ihrem langgezogenen Kostüm in Rot offenbar ein paar leidenschaftliche Gefährten waren, die man so jedoch niemals direkt auf die Feier geladen hätte, machte sie zum perfekten ungewollten Anhang.
Kurzum: Kai hatte wirklich wenig zu bemängeln. Entsprechend glücklich breitete er die Arme aus und umfing mit der Geste die komplette Gruppe, die wie bestellt und nicht abgeholt am Achterdeck der Slavery darauf wartete, endlich loszuziehen.
„So, meine liebe Partygesellschaft. Die Kostüme sehen allesamt hervorragend aus, und die persönliche Abfrage des Mappeninhalts lief ebenso recht zufriedenstellend. Mit einigen Ausnahmen.“
Tatsächlich hatte Lonay bei Weitem nicht so schlecht abgeschnitten, wie Kai befürchtete; trotzdem konnte er sich einen schweren Blick in Richtung des Sklaventreibers nicht verkneifen. Anschließend fuhr er mit üblichem Lächeln in die Runde fort:
„Bevor wir losgehen, möchte ich dennoch ein letztes Mal die drei Schritte der folgenden Mission durchsprechen. Sicherlich werden wir vor Ort ebenso Zeit haben, uns abzustimmen, doch alles, was wir jetzt diskutieren, erweckt schon weniger Aufmerksamkeit, als wenn wir auf der Feier die ganze Zeit nur Ohren für unsere Schnecken haben.
Nun denn, unsere drei Schritte zum Erfolg lauten…“ Demonstrativ hob Kai seine linke Hand hoch und spreizte von einer Faust zunächst nur den Zeigefinger ab. „Nummer eins, Infiltration. Wir werden uns unter die Gäste mischen, die Lage auskundschaften, und Informationen sammeln. Zahara, Lonay und die ‚Kinder’ werden sich mit Hästen unterhalten, während ich vor allem meine Augen offenhalten werde. Schritt eins gilt als erfolgreich, wenn wir es unerkannt in den Nordflügel schaffen und zum ersten Mal Sichtkontakt mit unserem Ziel hergestellt haben: Marco Kaiyori.“
Alle Anwesenden hatten zwar ein Bild von dem schwerreichen Händler erhalten, doch da er ebenso wie seine Frau und seiner Männer maskiert wären, würde es etwas dauern, den Mann zu finden. Vermutlich würde die Entdeckung Kai allein obliegen, während der Rest genug damit zu tun hatte, nicht aufzufallen.
Zum ausgestreckten Zeigefinger gesellte sich ein dünner Mittelfinger. „Nummer zwei, die Übergabe. Wir analysieren die Lage der Festlichkeiten und einigen uns auf eins der Übergabeszenarien, die ihr in eurer Mappe verzeichnet hattet. Anschließend werden ich, unsere Geisel, und gegebenenfalls eine Verstärkung den Handel abschließen, und im besten Fall ohne Geisel, und dafür mit Geld dastehen.
Womit wir bereits bei Nummer drei wären: Der Flucht. Es ist nicht zu vermuten, dass man uns nachstellen wird, doch es ist ebenso nicht auszuschließen. Ihr kennt die Fluchtwege, und ihr kennt das ‚schlimmster Fall’-Szenario. Wie es auch kommen mag: Behaltet die Ruhe, verfallt nicht in Panik, und denkt immer daran, dass wir niemanden zurücklassen werden – nicht, weil er oder sie ein ach so wertvoller Mensch und Freund ist, sondern weil er oder sie Informationen über den Rest preisgeben könnte. Und auch, wenn wir mit dieser Aktion Aufmerksamkeit erregen wollen, sollten doch wir die einzigen mit Geiseln bleiben, nicht wahr?“
Mehr gab es eigentlich zu sagen. Das Studium der Mappen hatte jedwede weitere Ausführung unnötig gemacht, was Kai wie so oft ganz allein seiner Voraussicht verdankte. Seine Kollegen mochten es vielleicht ansehen, doch Kai war nicht nur stolz auf seine Arbeit, sondern freute sich auch schon fast auf das, was vor ihnen lag.
Noch.
„Also dann: Meine Damen, meine Herren, lassen Sie und aufbrechen.“

Der Abend war, wie nicht anders zu erwarten, ein heilloses Chaos. Dabei spielte jedoch weniger das Wetter eine Rolle – es war unerwartet klar, und die letzten Strahlen der Sonne verschwanden erst jetzt träge hinter einem feuerroten Horizont – als vielmehr das kunterbunte Treiben auf den Straßen von Honmatsuri. Stand reihte sich an Stand, überall aßen, tranken und brüllten halbbekleidete Möchtegernfische, und die Nase wurde von einer Kakophonie aus den wildesten Gewürzen, Schweiß, Fisch, Erbrochenem und etlichen Parfüms gequält. Das Farbenwirrwarr der teils schon arg zugerichteten Kostüme griff derweil das Auge an, und die Ohren litten unter einem Mix aus menschlichem Geschrei und schräger Musik, die wiederum Ergebnis zahlreicher Straßenkünstler in viel zu geringem Abstand voneinander war. Schnelle Volkslieder und alte, langsame Balladen paarten sich hierbei mit dem Geplärre Betrunkener, die laut auf Trommeln und Pauken einprügelten und klirrende Glocken und Schellen zu Tode schüttelten.
Wären die Menschen nicht viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, so wäre ihnen die Gruppe von Kai auf vielerlei Weise aufgefallen: Keiner redete, keiner trank, und keiner irrte ziellos umher. Stattdessen marschierten die Piraten zielstrebig durch die ärmlichen, aber glücklichen Straßen, und das auch noch in neuen, ja teuren Kostümen! So mancherlei „anerkennender“ Blick traf deshalb Zahara und Annabelle, doch Lonays gewaltiger Rumpf im Schatten der beiden Damen überzeugte schnell jedermann davon, dass es besser wäre, sich doch lieber abzuwenden. Zwar wurde man nichtsdestoweniger von dem ein oder anderen Betrunkenen angerempelt, doch insgesamt schafften es Kai und seine Gruppe relativ unbehelligt durch die Straßen der Stadt.
Nach etwa einer halben Stunde Fußweg zeichnete sich dann deutlich die Grenze zwischen dem ärmeren Hafenviertel und dem wohlhabenderen Geschäftsviertel aus. Die Gebäude wurden größer und massiver, die Menschen feierten mit etwas mehr Würde (sprich: nur noch jeder dritte hatte deutlich zu viel über den Durst getrunken anstatt, nun ja, jeder), und der Schmuck war von deutlich höherer Qualität. Während sich die Arbeiter im Hafen mit alten Fahnen und ein paar Bannern begnügt hatten, trumpften Händler mit bunten Girlanden, verstreuten Skulpturen und etlichen Lichtern auf. Wären sie nicht auf Mission gewesen, so hätte Kai vermutlich darüber gestöhnt, wie viel Geld und Zeit in diesen Schmuck investiert worden war, obgleich das Fest in zwei Tagen sowieso wieder vorbei sein würde. So jedoch führte er Zahara und den Rest der Erhabenen zielsicher durch die Gassen seiner Heimatstadt, die sich kaum verändert hatten.
Andere Menschen hätten vermutlich Heimweh beim Anblick altbekannter Mauern verspürt, doch Kai war lediglich froh darüber, in seinem Leben weit mehr gesehen zu haben als die kleinkarierten Geschäftsleute von nebenan und ihren jämmerlichen Besitz. Genau das wäre nämlich sein Schicksal gewesen, wäre er ausgelöst oder gar nicht erst entführt worden: Als Kind eines großen Händlers, Gefangen im goldenen Käfig einer ungewollten Erbschaft, hätte er sicherlich bis in seine späten Zwanziger Matsu niemals verlassen, und selbst wenn, dann garantiert nicht unbeaufsichtigt. Es bestand zwar die sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass Kai in diesem Szenario über mehr Geld verfügte als heutzutage als Pirat, doch auch wenn man dem Händler dies nicht anmerkte, würden die zusätzlich Berry auf seinem Konto nicht ansatzweise die Erfahrungen aufwiegen, die er in den letzten Jahren gemacht hatte. Tatsächlich wären sie es vermutlich nicht einmal wert, die letzten Wochen aufzugeben – immerhin hatten die ihm ein eigenes Schiff und eine Piratenmannschaft eingebracht!
Trotzdem seine Gegenwart insofern seiner neuen Gemeinschaft gehörte, freute sich Kai spitzbübisch darauf, seinem Erzeuger in dieser Nacht einen herben Schlag zu versetzen. Zwanzig Millionen waren zwar nur etwas mehr als die Portokasse des alten Kaiyori, doch es war der ideelle Wert des Angriffs, der zählte: Der Moment, in dem Kai sich als verschollener Sohn preisgeben und seinen Vorgänger damit vollkommen bloßstellen würde, wäre mehr wert als die Vermögen zweier Arbeitsleben.
Eigentlich trübte nur eines Kais unbändige Vorfreude, und dass war sein Blick, der bei all den Gedanken an Heimat und Familie immer wieder unbewusst über Vidal streifte. Der kleine Junge war wirklich nicht mehr als eine Geisel, entführt von Piraten, seiner Freiheit beraubt, und das obwohl er einfach nur von Daheim hatte fortwollen. Kai musste sich darauf konzentrieren, nicht daran zu denken, wie bekannt ihm diese Geschichte vorkam, und welche Zweifel aus diesem Déjà-vu-Gefühl erwuchsen.
Glücklicherweise bog die merkwürdige Gruppe schließlich um eine letzte Ecke, und schon breitete sich vor ihr das Gelände des großen Maskenfischballs aus.
Das Zentrum der Festlichkeiten war ganz eindeutig das Herrenhaus von Jonah Trafford, einem der, wenn nicht dem einflussreichsten Fischer von Matsu. Dieser Status mochte sonst nicht viel wert sein, doch auf einem Atoll, das auf eine jahrhundertelange Tradition im Fischfang zurückblicken konnte, bedeutete er Macht, Reichtum und jede Menge Autorität. Selbst wenn die Regierung von Matsu 1 nicht bereits schwer von der Wirtschaft beeinfluss wäre, hätte Trafford mit der Drohung, Teile seiner mehrere Tausend Mann starker Belegschaft zu entlassen, jeden halbwegs vernünftigen Politiker für seine Zwecke beeinflussen können – und zwar ganz ohne sein gigantisches Vermögen anzapfen zu müssen. Selbst Kai wusste nicht ganz genau, über wie viel Geld der Mann tatsächlich verfügte; niemand wusste das wirklich, außer Jonah Trafford selbst.
Sein gewaltiges Anwesen legte jedoch den Schluss nah, dass der mittlerweile neunzigjährige Fischer in angeblich fünfzehnter Generation schon weit über die hundert Millionen Berry-Grenze hinfort geschritten war. Mit einem separaten Flügel pro Himmelsrichtung bildete das Haus eine Art Windrose, in deren Zentrum sich ein riesiger Garten befand – das Hauptgelände für die Teile der Feierlichkeiten, die unter freiem Himmel stattfanden. Die Hauptstraße, die zwischen Süd- und Ostflügel auf ebenjenes Gelände führte, und auf der die Gruppe Piraten nun entlang flanierte, war von etlichen Lampen in Fischform erleuchtet, die träge in einem kühlen Abendwind schwankten. Sowieso hatte Trafford praktisch das gesamte Anwesen mit Lampen praktisch zugedeckt: Jedes Dach, jede Ecke, jede Straße, jede Zinne… überall umrissen kleine Lichtpunkte die Konturen von Wegen und Gebäuden. Aus der Luft betrachtet musste es ein wahrhaft göttlicher Anblick sein.
Noch vielfältiger als die Auswahl an Lampen waren lediglich die Kostüme, die die Gäste trugen: Genauso wie die Piraten trugen auch die Gäste Maskierungen, die jeweils einer besonderen Fischart nachempfunden waren. Man sah Regenbogenflossen, Clownfische, Forellen, Karpfen, sogar Haie, und hier und da ein paar Wale und Delphine – die High Society nahm es insofern nicht ganz so genau mit dem Begriff „Fisch“. Andererseits konnte man ruhigen Gewissens über diesen kleinen Fauxpas hinwegsehen, wenn man von einer Orcadame gestreift wurde, die die charakteristischen weißen Flecken durch präzise geschnittene Löcher in einem engen, nachtschwarzen Seidenkleid nachzuahmen versuchte. Andererseits war der Anblick männlicher Narwale nicht ganz so anregend, wusste man doch ganz genau, mit welchem Thema jene Herren die weiblichen Gäste sicherlich den ganzen Abend bedrängen würden.
Kai, zufrieden damit, wie die Gruppe in das allgemeine Bild der Feiergesellschaft schmolz, lenkte seinen Blick zur ersten Anlaufstelle der Piraten: Dem Garten. Zwischen vier riesigen Blumenbeten, die allesamt Flora aus jeweils einem der vier Blues zur Schau stellten, unterhielten sich und feierten kostümierte Männer und Frauen angeregt, während nur hin und wieder jemand etwas ungeduldig in Richtung des schweren Portals des Nordflügels schaute. Der Eingang zum Ballsaal war noch immer verschlossen, und es würde wohl sicherlich noch eine halbe Stunde dauern, bis sich die Pforten öffneten und die Gesellschaft sich Musik und Tanz hingeben konnte. Bis dahin konnte man sich jedoch bei insgesamt vier kleinen Bars mit Getränken versorgen, während mehrere Dutzend Guppys mit überladenen Tabletts die Gäste mit Appetithäppchen versorgten.
Die allgemeine Lage schien damit kaum von Kais Annahmen abzuweichen: Während der Ost- und der Südflügel an diesem Abend geschlossen blieben und damit für die Mission irrelevant waren, bildete der Nordflügel des Anwesens das Hauptaugenmerk der Gruppe. Dieser beherbergte nicht nur den Ballsaal, in dem sich das Fest größtenteils abspielen würde, sondern auch eine Bibliothek, die mit ihren verwinkelten Regalen für eine Geldübergabe ideal wäre. Ebenso gab es jedoch auch zahlreiche Lagerräume und lange, verwirrende Gänge, die man hierfür nutzen könnte. Zudem wohnten in den entsprechenden Bereichen lediglich einige Diener; die Besitzer des Hauses quartierten dagegen im Westflügel. Dieser wäre als einziger Flügel nebem dem nördlich ebenso für die Gruppe von Belang, und wenn auch nur für mögliche Zweipläne Zaharas: Das Haus beherbergte etliche Kunstgegenstände und Wertsachen ebenso wie weitere wertvolle Geiseln. Noch glaubte Kai nicht, dass die Fremdländerin sich dort austoben wollen würde, doch sicher war sicher.
Das restliche Anwesen war nur in Sachen Flucht interessant. Wie erwartet standen überall Wachleute in den gestreiften Kostümen bunter Feuerfische, die jedoch nicht bewaffnet wirkten. Trotzdem würden sie ein Problem werden, wenn die Gruppe auf ein unbehelligtes Davonkommen abgewiesen war. Kai hatte jedoch nicht umsonst eine kleine Klapptür in den Zäunen jeder der vier Seiten des Anwesens angebracht, was bemerkenswert einfach gewesen war. Glücklicherweise hatte das Personal zu viel mit den Vorbereitungen des Fests zu tun gehabt, als dass es auf einen kostümierten Händler hätte achten können, der mit Metallsägen und Scharnieren spielte. Sicher nur irgendein Handwerker. Oder so.
Die Fluchtwege waren damit geklärt, ebenso wie die Haupteinsatzgebiete. Damit blieb nur noch die eigentliche Aufgabe: Sich wahrhaftig unters Volk zu mischen. Denn so unbeschäftigt, wie die Gruppe im Moment aussah, würden sie bei all den palavernden Reichen bald auffallen.
Möglichst unaufdringlich schob sich Kai deshalb an die Seite seiner Kapitänin, deutete eine knappe Verbeugung an und flüsterte ihr zu: „Es ist soweit. Zeit, deinen Schauspielkünsten freien Lauf zu lassen.“

„Ah ja? Dann verschwinde und besorg uns was zu trinken, Felix.“, fuhr Zahara ihren neu gewonnenen Diener an und scheuchte ihn mit einer unfreundlichen Handbewegung hinfort. Sie hatte sich dazu entschlossen, ihre Rolle möglichst nahe am Original zu spielen. So würde „Enyo Rybar“ nicht nur natürlich wirken, Zahara hatte vermutlich auch mehr Spaß an der ganzen Sache.
Sie sah Kai und Vidal noch einige Sekunden hinterher und nachdem sich auch Lonay verabschiedet hatte um „Kontakte knüpfen“ zu gehen, lächelte Zahara ihrer Zofe zu und schlug sich mit ihr zum nächsten Butler durch. Zwei Sektgläser wurden vom schwarzen Holztablett genommen. Sehr erlesener Geschmack, prickelte nicht zu sehr und war auch nicht zu süß. Keine Frage: Hier ging gerade verdammt viel Geld flöten. Unter anderen Umständen hätte sich Kai wohl unter dem nächsten Teppich verkrochen.
Die Kapitänin hingegen ließ den Blick einfach nur einige Zeit schweifen und stellte sehr schnell fest, dass viele Augenpaare auf ihr und Anna hafteten. Sobald jedoch der Blick erwidert wurde, drehten die Männer die Köpfe. Schwache Vorstellung.
Es dauerte einige Minuten, bis sich der Erste den Mut angesammelt hatte um auch tatsächlich zu den beiden Frauen zu treten. Er wirkte jedoch unsicher und irgendwie Fehl am Platz (in der Nähe zweier Schönheiten). Ein Blick über die Schulter des Mannes zeigte, dass es sich wohl um irgend eine dumme Wette oder Mutprobe handelte. Da Zahara allerdings im Moment nichts besseres zu tun hatte, ließ sie sich auf die Sache ein. So ein bisschen. Ganz kleines bisschen. Nachdem sie nämlich erfuhr, dass der Kerl kaum dazu in der Lage war, vernünftige, zusammenhängende Sätze zu produzieren und nicht einmal annähernd ein großer Fisch in diesem Garten war, wurde er schleunigst abgeschoben.
Wer war Zahara, sich mit niederem Volk abzugeben? Weder Enyo noch sie selbst waren für das Fußvolk geschaffen.
Der nächste Bewerber war hingegen schon ein anderes Kaliber. Zahara erkannte sein Gesicht trotz Maske – Kai hatte in seiner Mappe einige Sätze zu ihm geschrieben. Neureich, alles geerbt.
„Heeey, ihr zwei Hübschen.“ Schleimige, ölige Stimme. Passte zu den Haaren. Dünne, beringte Finger legten sich auf die Hüften beider Frauen und Zahara schüttelte ein wenig den Kopf.
„Kannst du dich nicht entscheiden?“, fragte sie angriffslustiger als eigentlich geplant und schnippte dabei mit den Fingern. „Welche von uns? Entscheide dich. Jetzt.“
Offenbar überfordert, zögerte der Mann ein wenig, ehe er eine Hand zurückzog. Anna sollte es also sein. Natürlich – als ob er mit einer starken Frau hätte umgehen können. Lachend schlug die Kapitänin auch die zweite Hand weg.
„Glaubst du wirklich, meine Tochter würde sich mit jemandem wie dir abgeben? Geld wie Heu, aber alles aus Papis Tasche. Wir verkehren nicht mit unfähigen Schnöseln, die in ihrem Leben bisher keine einzige richtige geschäftliche Entscheidung getroffen haben. Dein größter Verdienst? Geboren werden. Das ist eigentlich schon einiges, wenn man bedenkt, dass dein werter Vater doch den Dienstboten seiner Frau vorzieht...“
Zahara kam nicht besonders höflich rüber (Überraschung), aber einige der umstehenden Gäste schienen Gefallen daran zu finden. Unser werter Textilhändler-Sohn war nicht sonderlich beliebt in der Gesellschaft und wenn ihm von einer Frau der Arsch versohlt wird, fanden Konkurrenten das zum Anbeißen. Menschliche Natur. Es überraschte also nicht, dass die beiden Frauen einige Sekunden später auch wieder alleine waren und der männliche Andrang rapide auf den Nullpunkt sank. Keiner hatte mehr den Mumm dafür?
Zahara leerte ihr Glas und ließ ihren Blick weiter schweifen. Es gab diverse interessante Persönlichkeiten in diesem Teil des Gartens und neben eingebildeten, stinkreichen Gold- und Regenbogenfischen gab es auch die unscheinbaren Mauerblümchen und offensichtlich fleischfressende Pärchen an der Bar. Nach einem kurzen Gespräch mit Anna entschlossen sich die Beiden, sich einfach aufzuteilen und Mission „unters Volk mischen“ getrennt in Angriff zu nehmen.

Anna lehnte sich seufzend gegen die Bar und nippte missmutig an ihrem Sekt. Neben ihr lehnte ein ziemlich unscheinbarer Mann mit unscheinbarer Fischmaske und unscheinbaren Anzug. Vollkommen unter Durchschnitt, schüchtern und entweder eine riesige Informationsquelle oder ein totaler Reinfall. Einfaches Ziel oder Zeitverschwendung – ihr erkennt das Muster.
„Hallo.“, begann Anna schließlich ganz ungeniert und bemühte sich, einen höflichen und etwas kindlichen Ton zu imitieren. Sie stellte schließlich die Tochter dar – da musste man sich ein wenig anpassen.
Ihr Gegenüber bemerkte sie allerdings für eine ganze Zeit lang nicht oder fühlte sich viel mehr einfach nicht angesprochen. Als er dann endlich den Kopf drehte, stotterte er fast bis zur Unverständlichkeit. „M-m-meinen sie... mich? Tut mir Leid, d-da muss eine V-v-v-... Verwechslung vorliegen.“
„Ich meinte schon Sie. Ist das ein Problem?“ Was war los mit dem Kerl?
„J-ja! Ich m-meine, nein, aber... äh, ich meine, hallo, genau. Hallo.“, erwiderte er und innerlich verfluchte sich Anna ein wenig. Wieso musste sie ausgerechnet an den Problemfall geraten? Allein und abseits an der Bar stehen hätte ein Indikator sein können, gut, aber dennoch...
„Ich kann auch wieder gehen, wenn sie meine Gesellschaft nicht möchten.“, bot sie daher an und hoffte fast schon, dass er sie hier nicht haben wollte. Glück war ihr an diesem Abend aber ebenfalls vergönnt.
„Nein, so ist es nicht, ich meine, das hat nichts mit ihnen zu tun, ich meine...“ Der Mann nahm einen tiefen Schluck eines grünen Getränks und verlor sich anschließend in der Ferne. War er auf Drogen?
„Sie meinen...?“
„Keine Ahnung, meine ich. Ähm... k-kann ich ihnen denn irgendwie helfen?“
Anna zuckte nur mit den Schultern und nahm einen weiteren, kleinen Schluck. „Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich mich nur mit jemandem unterhalten, der nicht... nun ja... sehen sie den da?“, fragte sie und deutete auf einen extrovertierten Mann in der Mitte des Geschehens. Er trug eine aufwendige Goldfischmaske und Anna hätte darauf wetten können, dass es sich dabei zum Einen um echtes Gold und zum Anderen um echte Schuppen handelte. Ihr entging fast, dass sich die Miene des Mannes neben ihr deutlich verdüsterte, als er einfach nur zur Antwort nickte. Er kannte den Kerl! War da doch noch etwas Glück für sie übrig?
„Sie kennen ihn?“
Nach einer kurzen Verwirrung – er fragte sich offenbar, woher Anna das wusste – beruhigte er sich wieder, schaute erneut zum Goldfisch und sagte: „Mein Onkel. Gregor Ganheim. Onkel Gregor. Ich...“ Erneut trat Verwirrung in seinen Blick. Konnte er sich mal entscheiden? „Moment, s-sie kennen ihn nicht? Sind sie von außerhalb?“
„Mein Vater und seine neue Ehefrau wollen hier geschäftlich Fuß fassen. Das hier ist also unser erster Auftritt in der Öffentlichkeit, wie er immer sagt. Ich heiße übrigens Gladys.“, antwortete Anna nickend. Vielleicht war der rot werdende „T-thom.“ doch brauchbarer als es den Anschein hatte. Er schien aber nicht wirklich zu wissen, was er mit einer schönen Frau an seiner Seite anfangen sollte. Anna war froh darüber – Männer zu verführen erschien ihr seit neustem fremd, ekelhaft und sie bezweifelte, dass sie das glaubhaft hätte tun können. Auch nicht für Zahara. Sie entschied sich für ehrliche Neugierde. Und einige Lügen. Lügen waren immer gut.
„Was ist das Problem mit deinem Onkel? Glaub mir, was immer es ist, ich kenne es.“
Thom wirkte unsicher, rieb sich aber die Hände. Moment – warum rieb er sich die... ach, war ja auch egal. „Ich w-weiß nicht, ob ich einfach so über ihn, naja, reden sollte. Er ist ja i-immerhin mein Onkel, und sehr einflussreich, also, e-es tut mir Leid, ich meine, aber...“
„Ich mach' dir ein Angebot: Ich erzähl dir etwas über meinen Vater, was eigentlich keiner wissen sollte und wenn du dann der Meinung bist, mir über deinen Onkel zu erzählen, tust dus. In Ordnung?“, schlug die liebe Gladys erst seufzend, dann aufgeregt vor und freute sich ein wenig über das ihr geschenkte Nicken.
„Siehst du die Frau dort?“, fragte sie und deutete auf Zahara, die sich gerade an die Bar setzte. „Das ist Enyo Rybar. Seine Neue. Nicht viel älter als ich.“ Wirkte Gladys etwa bitter? Pappis Liebling wurde abgesetzt? „Aber weißt du was? Das reicht meinem allzu werten Herrn nicht. Trifft sich regelmäßig mit ihrer Mutter, um... du weißt schon.“ Die letzten Worte wurden nur noch geflüstert. Solch ein Geheimnis durfte schließlich nicht an die Öffentlichkeit geraten! Thom lief indes noch roter an und rieb sich weiter die Hände. Was sollte das? Das machte Anna irgendwann noch verrückt...
„Und sie... sie weiß nichts?“
„Ich glaube nicht, nein.“
„D-dann müssen wir es ihr sagen! Ich meine, es k-kann doch nicht sein, dass er... und dass sie...!“
Anna blinzelt nur erstaunt. „Ist das ein ernst?“
„Ja, natürlich! Ich meine... das ist es. Ja! Ja? Sie sollte doch wissen... ich würde wissen wollen... wobei, es wäre vielleicht besser... nein! Doch. Oder? Hmm..." Kratzt sich am kinn, dann blick zu anna. "Sie/du hast nicht zufällig ein Blatt Papier und einen Stift dabei, oder? Ach, nein, vergiss' es, ich Idiot!“ Erst einmal sah Anna wohl aus wie eine verwirrte, geistig behinderte Teleschnecke, dann aber fing sie sich wieder, krallte sich die Liste, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Boden.
„Lass das! Oder willst du mich in Schwierigkeiten bringen? Sie hat's vermutlich eh nicht anders verdient. Aber - wir hatten einen Deal.“, sagte sie und machte mit einem Nicken in Richtung des Goldfisches klar, wovon sie sprach. Sie hatte die groben Daten über den Minenbesitzer im Kopf, aber wer wusste schon, was Thom sonst noch so in petto hatte?
„Oh, natürlich, Infos zu meinem Onkel. Ähm... du weißt wirklich gar nichts? Na gut. Onkel Greg besitzt einige Minen im ganzen South Blue, auch auf Mountainegro und so. Er hat sein Geld mit allerlei Erzen und Kohle verdient, und obwohl es auf Matsu nichts davon gibt, lebt er hier, weil ihm die Insel einfach besser gefällt.“ Besser als Mountainegro? Welch Überraschung. Anna antwortete nichts sondern sah Thom einfach nur fragend an – sie wollte...
„Mehr? Oh, ähm, in Ordnung. Wobei es eigentlich nicht viel mehr zu erzählen gibt. Er behandelt seine Arbeiter schlecht, doch damit ist er hier in guter Gesellschaft. Ganheim, Denneck, Kaiyori, Silker, Bars... unter den bekannten Händlern ist es ja schon fast ein SPort, seine Leute so schlecht wie möglich zu behandeln. Aber da erzähle ich dir vermutlich nichts Neues.“
Anna schüttelte rege den Kopf. „Aber warum magst du ihn nicht? Ich meine, so gar nicht?“
Die Zofe wurde mit einem fragenden Blick bedacht. „Du siehst ihn dort ganz in Gold stehen, und fragst dich das? Ich meine, seine Leute ausbeuten ist die eine Sache, aber das dadurch verdiente Geld für solchen... solchen... Tand auszugeben, das ist einfach widerlich.“ Das wars? Echt jetzt? Anna musste sich zusammenreißen um nicht aus ihrer Rolle zu fallen. Was für ein Weichei.
„Hm. Stimmt. Wenn du das so sagst, erinnert er mich ein bisschen an meinen Vater. Man müsste denen echt mal ne Lektion erteilen...“
„Ja, ja...“, sagte Thom und schaute dann überrascht. „D-du meinst aber nicht, ich meine, hier, wir beide, o-oder... oder doch?“
Lächelnd nahm sie einen weiteren Schluck Sekt und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bar. Sie hatte ihn.
„Also wenn du so fragst...“

Zeitgleich an einer anderen Bar, nicht weit entfernt konnte die Stimmung nicht unterschiedlicher sein. Ein extrovertiertes Pärchen saß mehr oder weniger auf einem Barhocker und schien unglaublichen Spaß daran zu haben, vorbeigehende Gäste zu beleidigen, triezen oder einfach nur mit herabwürdigenden Blicken zu bedecken. Sie konnten sich es allerdings leisten. Der Mann konnte wohl am ehesten als echter Bad Boy bezeichnet werden. Dreitagebart, verwuschelte Haare, Sonnenbrille und Anglerfisch-Maske machten seinen Auftritt merkwürdig charmant. Seine weibliche Begleitung hingegen konnte man wohl als das Gegenstück zu Zahara selbst bezeichnen. Während sie die dunkle, exotische Schönheit war, handelte es sich hier um eine Blondine mit weißer, reiner Haut, eisblauen Augen und Beinen bis zum Himmel. Ihr gelb-goldenes Engelfisch-Kostüm passte hervorragend zu ihren Haaren und zeigte, dass die Frau ganz genau wusste, wie sie sich in Szene setzen musste. Da es sich bei diesen beiden Individuen offensichtlich um die interessantesten Personen in diesem Garten handelte (zumindest soweit Zahara das beurteilen konnte), nahm sie auch direkt Kurs auf besagte Bar. Sie wäre enttäuscht gewesen, hätte unser Pärchen Zahara nicht auch einen Kommentar geschenkt, aber sie wurde nicht enttäuscht.
„Oh, und wen haben wir denn da? Ein kleiner Fisch auf Beutesuche? Geh weiter, Schätzchen, und steh' mir nicht im Licht.“
Zaharas Mimik wurde von ihrer Maske bedeckt, aber man konnte auch so die etwas versteckte Freude erkennen. Die Vorfreude, die man kurz vor einem aufregenden Spiel in sich trug und die nur darauf wartete, nach außen zu brechen. Genau so ging es auch Zahara – die übrigens direkt auf Tuchfühlung ging und nicht groß herumtanzte. Sie stellte sich so eng vor den werten Bad Boy und beugte weit genug herunter um die Lampe vor dessen Stirn mit der ihren berühren zu können.
„Sonst was?“ Klare Ansage, oder? Sie wollte sehen, ob er bluffte oder auch wirklich etwas zu sagen hatte. Wie weit ging seine Bad-Boy-Attitude wohl? Währenddessen schnalzte der „Engel“ mit der Zunge und wollte sich wohl erheben, doch ihr Freund/Ehemann/Spielgefährte hielt sie zurück und zog sie wieder auf seinen Schoß. Gefiel ihm wohl. Nun, wem würde das nicht gefallen? Aus der Nähe war die Blondine schließlich noch schöner.
„Sonst könnte ich noch glauben, du willst in meinem Revier Wildern. Oder schlimmer, mein Engel hier könnte auf dieselbe Idee kommen.“
Zahara drehte den Kopf, war aber nicht beeindruckt. „Irgendwie beunruhigt mich das nicht sonderlich.“
Die Blondine seufzte allerdings nur leichte. „Das sollte es aber. Oh, Schatz, mir ist auf einmal so furchtbar, furchtbar warm...“, sagte sie und begann, deutlich mehr Haut zu zeigen indem sie Oberteil und Rock etwas stutzte. Man konnte jedoch nicht nur die weiße Haut erkennen, sondern auch das vertraute Blitzen einiger versteckter Messer. Zahara wollte die Gelegenheit ergreifen, ihre Hand schnellte nach vorne, ihre Finger umschlossen den Griff einer der Klingen und... die Hand des Mannes erstickte die Aktion auch an dieser Stelle. Schade. Zahara ließ wieder ab und seufzte enttäuscht. „Ich dachte, ihr wärt Spaß.“
Während die Blondine etwas angepisst wirkte, war der Mann sichtlich amüsiert und grinste.
„Oh, das sind wir auch, nur musst du uns für den echten Spaß erst ein bisschen näher kennenlernen. Und wir dich. Setz dich, trink was, und lass uns sehen, was der Abend noch so bringt." Der Mann wirkte angetan von Zahara. Endlich mal keiner dieser reichen Langweiler. Die Kapitänin fühlte sich auf Anhieb deutlich mehr mit diesem Kerl hier verbunden als dem Rest im Garten. Komisch, eigentlich. Die beiden traten auf, als gehörte ihnen der Laden und dennoch hatte Kai keine Infos über sie.
„Und Engelchen hat damit keine Probleme?“, fragte sie spielerisch und strich besagtem Geschöpf zärtlich über den entblößten Oberschenke. Selbst Schuld, wer solch eine Einladung ausstellte. Erst wirkte die Blondine wütend, als Zahara aber schlanke Finger über ihre Wange fahren spürte, konnte sie auch das verschmitzte Lächeln erkennen.
„Nicht im geringsten.“
„Fein.“ Zahara schwang sich auf den nächsten Barhocker und orderte auf der Stelle eine Flasche Whisky, die einfach festgehalten wurde. Dazu kamen noch drei Shotgläser, die auch direkt für Runde Eins gefüllt und verteilt wurden. Blond und Bad tranken brav mit – sehr schön.
„Enyo Rybar. Und ihr zwei hübschen?“
„Du kannst mich Sieg nennen, und diese bezaubernde Dame ist Nilda.“ Ihr schien der Name nicht zu gefallen, deutete man das Augenrollen richtig.
„Also: Was gibt es kennen zu lernen? Abgesehen von Dekolleté und BlingBling.", fragte Zahara mit einem Seitenblick und Zwinkern in Richtung Nilda. Diese lächelte etwas gequält, während Sieg laut lachte. „So einiges, Schätzchen, aber so wie ich das sehe, steht's zwei gegen eine. Wie wäre es, wenn du mit dem Reden anfängst, und wir sehen, ob uns gefällt, was du sagst.“
„Ich bin hier, weil mir langweilig ist. Niemand hier will des anderen Lebensgeschichte hören.“ Runde Nummer Zwei wurde indes verteilt und auch sofort herunter gekippt.
„Hab' ich gesagt, ich will deine Lebensgeschichte hören? Ich würde mich schon mit dem Grund begnügen, wegen dem du hier bist. Hier auf dieser - Achtung, Sarkasmus - 'Party', genauso wie hier bei uns.“ Während der Mann redete, schaute sich Nilda gelangweilt in der Gegend um. Zahara wurde aber das Gefühl nicht los, sie tat nur so.
„Auf der Party? Weil mein neuer, fettleibiger Ehemann Kontakte knüpfen möchte. Bei euch? Nochmal: Mir ist langweilig. Ihr saht nach Spaß aus.“, antwortete sie ehrlich. Sie sah keinen Sinn darin, hier eine große, komplizierte Lügengeschichte aufzuziehen. Kai meinte, sie sollen sich erstmal nur unters Volk mischen. Es wurde nicht gesagt, dass man dabei keinen Spaß haben sollte. Außerdem konnte es doch nur von Vorteil sein, verschiedene... Schichten zu infiltrieren? Genau, das hörte sich durchdacht und professionell an.
Als das Pärchen das Wort „Ehemann“ hörte, wurde es allerdings hellhörig.
„Dein Mann? Wo ist denn deine kugelrunde bessere Hälfte, wenn man fragen darf? Jemand, den man kennen sollte?“
Zahara zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf, während sie Runde Drei verteilte. „Jared Rybar. Wir sind neu auf Matsu und ich habe keine Ahnung, wo er sich gerade rumtreibt. Aber genug von mir.“
„Keine Ahnung, wo sich dein Ehemann herumtreibt? Oho, rieche ich da Ärger im Paradies?“ War sie nicht deutlich genug gewesen?
„Nochmal: Genug von mir.“ Jetzt aber. Sieg spielte erschrocken, Nilda war amüsiert. Wäre Zahara wohl auch gewesen.
„Whoa, whoa, schon gut. Großer Ärger im Paradies also. Aber wer hat den nicht?“
„Wir?“, warf Nilda ein, wurde aber von ihrem Angehimmelten einfach ignoriert, was ihr nicht sonderlich zu gefallen schien.
„Na gut. Du wolltest Spaß, richtig? Dann zeig' uns doch einfach mal, wie spaßig du selbst sein kannst.“, sagte Sieg und deutete auf einen dicken Kerl im... Welskostüm? War doch klar, dass sie Lonay direkt aus der Menge pickten.
„Wie wäre es mit einem Kuss für diesen netten Fetten? Wir haben was zu gucken, und du kannst deinen Ärger mit etwas Eifersucht bekämpfen.“
Zahara lächelte prompt und dachte tatsächlich darüber nach, entschied sich aber ziemlich schnell dagegen. Nicht nur, dass sie Barc nicht küssen wollte, es würde sie auch einfach nicht voran bringen. Ganz abgesehen von der merkwürdigen Atmosphäre, die auf dem Schiff herrschen würde. Darauf hatte sie keine Lust. Stattdessen tat sie etwas, das wohl nicht erwartet wurde – aber sollte nicht ihre sexuelle Offenheit getestet werden? Das ging nämlich auch anders.
Flink beugte sie sich zur Seite und ehe sich Nilda versah, spürte sie Zaharas Lippen auf den ihren. Die Exotin war mit dem Ergebnis (weich und wohlschmeckend) zufrieden. Dass die Blondine danach noch rot anlief – ob durch Wut oder Scham spielte keine Rolle – machte die Sache nur noch besser. Verschmitzt lächelnd kümmerte sich Zahara dann um Runde Vier.
„Das war zwar nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, aber ich will mich nicht beklagen. Der erste Test wäre damit bestanden. Bevor wir weiter machen... was hast du dir denn für eine Art von Spaß erhofft, als du herkamst?“
„Keinen bestimmten.“ Zwar hatte sie einige Vorstellungen, wie sie nun das Pärchen selbst würde testen wollen, aber Erwartungen? Naa, da waren keine gewesen.
„Schätzchen, du bist nicht sehr ergiebig. Na gut, dann ein weiterer Test. Mal sehen... Au!“
Zahara zog die Augenbrauen empor. Noch ein Test für sie? Nein, erst waren ihre Gesprächspartner dran. Ziemlich schade also, dass es dazu gar nicht kam. Nach dem Zwicken Nildas und einigen Blicken in unerkennbare Fernen, erhoben sich die beiden nämlich. War da etwa Nervosität zu erkennen gewesen?
„Hmm, wie mir scheint, hat unsere kleine Nilda hier ein... Bedürfnis, und da sie mit ihrem Kleid leider nicht allein zurechtkommt, muss ich ihr Geschwind helfen. Warte hier, und genehmige dir ruhig noch ein, zwei Drinks.“, sagte Sieg, zwinkerte Zahara zu und verschwand dann auch schon mit seiner Begleitung in der Menge.
Einige Sekunden wurde gewartet, dann nahm die Fremdländerin aber auch schon die Verfolgung auf. Mysteriöse Gäste, die von jetzt auf gleich abdufteten? Wenn dabei nichts spaßiges herauskam, wäre es zumindest interessant zu wissen, wo es hinging. Zahara hatte das Gefühl, dass sich sehr plötzlich etwas geändert hatte. Ob sie irgend eine bestimmte Person entdeckt hatten? Spätestens als Sieg und sein Engel spurlos in der Menge verschwanden, war sich Zahara eigentlich ziemlich sicher: Sie waren auf diesem Fest nicht die einzigen mit einer Agenda.
Missmutig grummelnd schnappte sie sich ihre Teleschnecke und nach einem bösen Blick verstand diese auch, dass sie besser schleunigst die Verbindung aufbaute. Ob Kai mehr wusste?
„Sagen dir die Namen "Sieg" und "Nilda" etwas? Bad-Boy und blonde Schönheit.“
„Die zwei, mit denen du dich an der Bar vergnügt hast?“, drang aus der Schnecke begleitet, von dem typischen Kichern. „Nein, leider. Ich versuche, die Augen offen zu halten, wenn wir später hinein gehen.“
„Genau die. Sagt mir, falls ihr sie irgendwo entdeckt.“, war die letzte Mitteilung an alle, ehe das kleine Tier wieder in die Tasche wanderte. Nicht ganz zufrieden mit dem Ausgang dieser Situation schlug sich Zahara wieder zurück in Richtung Bar. Irgendwie musste man sich die Zeit ja dann doch noch vertreiben...

Mit einem Seufzen steckte Kai seine silberhaarige Teleschnecke zurück in eine der vielen Taschen seines Kostüms. Obwohl seine Augen die meiste Zeit seit der Ankunft der Gruppe auf dem allgemeinen Geschehen geruht hatten, fand er doch die Zeit, seiner Partnerin dabei zuzusehen, wie sie sich mit zwei Unbekannten unterhielt. Ob Zahara den Kontakt gesucht hatte, weil ihr aufgefallen war, dass ihre Mappe keine Informationen über sie beinhaltet hatte, oder weil sie lediglich Spaß gesucht hatte… das wusste Kai leider nicht zu sagen. Dennoch war er sich ziemlich sicher, dass die Anstrengungen der Fremdländerin dem gemeinsamen Endziel in etwa genauso sehr weiterhalfen, wie Annas Anbändelei mit dem kleinen Ganheim. Sein Onkel war zwar schwerreich, genauso wie sein Neffe, der in Ermangelung eines direkten Nachkommen des Alten der inoffizielle Erbe des Modevermögens war, doch war das Ausnehmen einfältiger Firmenerben nicht das, wofür sieben Piraten eine Oberklassefeier infiltriert hatten.
Andererseits konnte Kai nicht behaupten, dass er selbst bisher viel Herausbekommen hatte. Nachdem er am ehesten seinen Erzeuger trotz Maskierung an Stimme und Gebaren erkennen können würde, hatte er es sich bis jetzt vergeblich zur Aufgabe gemacht, Marco Kaiyori aufzuspüren, wo immer er auch auf eine neue Nachricht der Entführer wartete. Da er dabei jedoch bisher wenig Erfolg gehabt hatte, blieb ihm nur seine zweite Verantwortung: Vidal.
Schon den ganzen Abend hatte der Junge hervorragend die Rolle des jungen Erben gespielt, der lieber ganz woanders wäre, als auf einer Feier mit alten, langweiligen Geldsäcken. Dass dies daran lag, dass Vidal tatsächlich so empfand, beunruhigte Kai im Moment noch minimal. War es relevant, wie sich Vidal fühlte? Teilweise. Es war egal, solange er sich ruhig verhielt und die Tarnung der Piraten nicht sprengte. Machte er allerdings Anstalten, genau das zu tun…
Unvermittelt stutzte Kai. Bei all seinen Plänen hatte er sich noch nicht überlegt, wie er mit so einer Situation umgehen würde. Es war selbstverständlich für ihn, dass Vidal sich seinem Schicksal einfach ergeben würde, doch wieso? Nun, eigentlich lag die Antwort auf der Hand: Weil er, Kian Kaiyori, sich in jenem Alter ebenso verhalten hätte. Daran zu denken erinnerte ihn jedoch nur daran, wie er unbewusst immer wieder Parallelen zwischen sich und dem Jungen feststellte, sich mit ihm verglich, und ihn immer öfter als Bruder sah, denn als Geisel. Die Vorstellung gefiel dem Händler ganz und gar nicht, bedrohte sie doch das Geschäft, wegen dem sie überhaupt hier waren.
Mit einem inneren Seufzer schaute Kai erneut über die Festivalsgesellschaft. Sicherlich war sie insgesamt eine eingenehmere Umgebung als das Chaos der Stadt, doch Kai konnte gleichzeitig niemandem verübeln, wenn er sich hier nicht wohlfühlte. Die Leute standen schließlich einfach nur so herum, tranken, aßen kleine Häppchen, und das alles unter dem Anschein, Geschäftskontakte pflegen zu wollen. Eigentlich ein hehrer Schein, doch wusste Kai genau, dass Kontakte hier kaum florierten. Wer sich unterhielt, kannte sich schon vor dem Fest, und neue Beziehungen wurden nur selten geknüpft, da man sich in den hier vertretenen Kreisen entweder kannte, oder man gehörte nicht dazu und wurde im Regen stehen gelassen. Persönlich, was die Mission betraf, konnte sich Kai darüber nicht beschweren, da es bedeutete, dass Vidal und er in Ruhe gelassen wurde. Dachte er jedoch nur eine Sekunde daran, wie viel Arbeit all diese Leute in der Zeit erledigen könnten, die sie hier für sinnloses Feiern eines für sie sowieso bedeutungslosen Feiertages vergeudeten… Kai war fast versucht, in Lonays Arbeitsgebiet einzusteigen. Aus dem Sklavenhandel hatte er sich bis jetzt immer herausgehalten, weil es ein schmutziges, gefährliches, und insgesamt relativ ineffizientes Geschäft war mit all den logistischen Problemen. Doch Zeiten änderten sich schließlich.
„Das würde nicht funktionieren. Kaum jemand hier ist gut genug in Form, also für vernünftige Arbeit.“
Kai war drauf und dran, mit einem bissigen „Was verstehst du schon davon?“ zu antworten, als er sich bewusst wurde, dass Vidal wieder seinen merkwürdigen Trick angewandt hatte. Natürlich wusste Kai, dass manche Geschwister behaupteten, die oder den anderen auf eine übernatürliche Weise wahrnehmen zu können, doch diese Gedankenleserei seines kleinen Bruders wurde langsam lächerlich. Gleichzeitig meldete sich jedoch auchs eine Neugier zu Wort: Wie machte der Zwerg das? Würde Kai auch Vidal lesen können, wenn er sich Mühe gab? Wollte er das überhaupt?
Nur mit Mühe schaffte es Kai, den Jungen wieder aus seinen Gedanken zu vertreiben, nachdem er ihn mit einem strengen Blick zum Schwiegen gebracht hatte. Jede Sekunde, in der Vidal in seinem Kopf herumspukte, fühlte sich wie ein weiterer Schritt in die falsche Richtung an. In einigen Stunden würde er doch sowieso weg sein, und zwanzig Millionen Berry würden Kai sicherlich über den Verlust hinweghelfen.
Verlust?
Rasch fixierte Kai die Menschenmenge erneut und beobachtete solange kostümierte Händler und ihre Gattinnen, dass seine Augen beinahe zu tränen begannen. Vor lauter Konzentration das Blinzeln zu vergessen… das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Und das nur, um den alten Kaiyori zu finden.
„Er ist nicht hier.“
Verfluchter Bängel. Kai, noch immer an der Seite seines Bruders, der gelangweilt am Rande einer der vier Bars lümmelte, beugte sich mit einem angespannten Lächeln zu dem Jungen herunter und fragte mit vor falscher Höflichkeit triefender Stimme.
„Wer ist nicht hier, kleiner Herr? Euer Vater? Aber der steht doch direkt da hinten, seht ihr?“ Rasch zeigte Kai in Richtung des fülligen Lonay, der überraschend gut mit einer Gruppe ebenso beleibter Händler zurechtkam. Gleich und gleich gesellte sich wirklich gern.
Vidal schüttelte derweil nur den Kopf. „Er ist nicht hier. Wirklich.“
Zwar hatte der Junge Verstand genug, nicht den Namen des Gesuchten auszusprechen, doch dass er auf diesem Thema beharrte, war ein unnötiges Risiko an einer Bar, an der sich immer wieder Leute an den kostenlosen Getränken bedienten. Andererseits, wenn Vidal reden wollte, dann sollte er doch ruhig seinen Trick gebrauchen, um das Gespräch zumindest zur Hälfte im Geheimen zu absolvieren.
Mit einem angestrengten Gesichtsausdruck kratzte sich Kai damit am Kopf, erhob sich wieder, und sagte: „Wie ihr meint, kleiner Herr.“ Gleichzeitig durchzog jedoch eine Frage klar seinen Kopf: Und woher willst du das wissen, hmm? Tatsächlich musste Kai arg an sich halten, als Vidal im exakt selben Moment den Mund öffnete: „Ich kenne ihn. Du kennst ihn. Meinst du, du hättest ihn nicht gesehen, wenn er schon da wäre?“
So ungern er es zugab, sein Bruder hatte recht. Wenn Kais Schätzungen stimmten, hielten sie beriets knapp zwanzig Minuten die Augen offen, und obwohl sich viele Leute in dem großen Garten tummelten, hätte einer der beiden schon längst den gemeinsamen Erzeuger erspähen müssen. Marco Kaiyori hatte einfach diese Art, auch ohne Kostüm aufzufallen. Die Art, wie er sich selbst in einem vollgestopften Raum einen Weg bahnte, wie ihm die Leute ganz selbstverständlich Platz machten, bevor sie sich ebenso verständlich um ihn scharten… Es war nicht zu leugnen: Marco konnte noch nicht hier sein.
Nichtsdestoweniger griff Kai nicht erneut zu seiner Teleschnecke, um seine Kollegen zu benachrichtigen – echte Neuigkeiten gab es schließlich nicht. Das würde warten müssen, bis die Zielperson in Sicht geriet. Kai hatte immerhin selbst gesagt, dass sich die Gespräche auf ein Minimum beschränken sollten.
Dass er damit, und mit seinem fortwährenden Schweigen zudem Vidal die Genugtuung verwehrte, Recht zu haben, war lediglich ein erfreulicher kleiner Nebeneffekt. Nun blieb nur noch dafür zu sorgen, dass seine Zunge und sein Kopf solange still blieben, bis die nächste Phase der Unternehmung anbrach…

Während Anna sich mit Thom unterhielt und ihn in irgend einen Plan einspannte, fand sich Zahara nun ohne Gesellschaft wieder. Es stellte sich also die Frage, wem man hier als nächstes gut ans Bein pinkeln konnte. Blick und Wahl fielen sehr schnell auf den vorhin schon beobachteten Regenbogenfisch. Wenn sich Zahara nicht irrte, handelte es sich um Mara Hanley handelte. Mitte vierzig, Witwe, die wohl einflussreichste Frau auf diesem Fest und ganz offensichtlich sehr beliebt bei den weiblichen Gästen, die sie umringten wie Fliegen den Speck. Als Zahara näher trat und die ersten Worte aufschnappte, hatte sie vor ihrem inneren Auge das Bild eines merkwürdigen Sektenführers, der gerne Hetzreden gegen die Männerwelt strickte. Denn genau danach hörte es sich an. Männer waren böse, Frauen unterdrückt und mussten für ihre Rechte kämpfen. Zahara machte da aber irgendwie keinen Unterschied. Männer und Frauen mussten gleichermaßen kämpfen, mussten genau wie die Anderen Macht ausüben und sich behaupten. Das Geschlecht spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Als sie etwas von einem „ganz bestimmten Typ Frau“ hörte, hätte sie dann am liebsten in den nächsten Blumentopf gekübelt. Die Frau war doch grenzdebil und fehlgeleitet bis zum Sanktnimmerleinstag. Ihr wollt Beweise? Bitteschön:
„Glauben sie mir, meine Damen. Grundsätzlich kann jede Frau genauso erfolgreich und unabhängig sein. Manche von uns erkennen ihr Potential jedoch nicht, oder beachten es absichtlich nicht. Stattdessen ordnen sie sich dem Frauenbild unter, dass die Männer am liebsten sehen, indem sie sich zum Beispiel... nun ja, ich weiß auch, in ein enges, schwarzes Kleidchen zwängen, das mehr Haut nackt lässt als dass es sie verhüllt.“
Oh? Ein kleiner Seitenhieb gegen die Schönen? Etwas Neid an die knackige Jugend? Zahara fühlte sich selbstverständlich angesprochen, aber der abwertende Blick Mara Hanleys und ihren Gefolgsleuten ließ sie ziemlich kalt. Es war aber schön anzusehen, wie einige der Frauen den Zaunpfahl nicht verstanden. Ein intelligentes Publikum war hier versammelt! „Es sind solche Frauen, die es uns anderen so schwer machen, sich von den Ketten männlicher Unterdrückung zu lösen. Doch, und das könnt ihr mir ruhig glauben, es lohnt sich, diese Fesseln zu sprengen! Noch mag Matsu in den fettigen und schmierigen Händen der Männer liegen, doch bald schon, das verspreche ich euch, wird es in die warmen Arme seiner Mütter fliehen und dem grausigen Patriarchat endgültig den Rücken kehren!“
Meine Fresse, die Frau hat echt einen an der Waffel. Ob sie bald zum Krieg aufruft?, dachte Zahara und schüttelte dabei den Kopf. Die Worte des Regenbogenfisches klangen unter den Jubelschreien der Frauen aus (lächerlich, einfach lächerlich) und die Sekte begann, sich zu zerstreuen. Die Anführerin persönlich jedoch trat aus ihrer Gruppe Eingeschworener heraus und direkt auf unsere Kapitänin zu. Was sie wohl nach einer ausgiebigen Musterung zu sagen hatte?
„Klärt mich auf: Ihr seht nicht so aus, als wäret ihr an der Gesellschaft von Männern interessiert, ja nicht einmal an der eures eigenen. Wieso also dieser... Aufzug?“
Es war eigentlich unglaublich einfach, diese Frau für sich zu gewinnen. Einfach davon erzählen, wie der Mann auf dieses Kleid bestand, das hilflose Weibsbild spielen und schon hatte man eine Quelle, die unheimlich gern über die Männerwelt der Insel auspackte. Stattdessen legte Zahara den Kopf schief und ging in Fick-dich-Haltung. Wer kann, der kann.
„Wieso nicht? Etwas zu haben, was Männer wollen, ist schließlich Macht. Sie, als Geschäftsfrau, sollten das wissen.“ Hanley schüttelte energisch den Kopf – sie wirkte ein wenig enttäuscht. Die große Mutti, die ihre Tochter gerade bei etwas dummem erwischt hatte? Das war ein Lächeln wert.
„Du scheint dabei jedoch zwei Dinge zu vergessen: Erstens wirst du dich nicht ewig auf diese Art von Besitz verlassen können. Und zweitens, nun, wie pflegte meine Frau Mutter immer zu sagen? 'Stelle niemals Ware ins Schaufenster, die du zu verlieren nicht bereit bist'. Damit zu werben mag Vorteile haben und brave Kunden anlocken, doch was ist mit denen, die nicht so brav sind? Die gewohnt sind, sich mit Gewalt zu nehmen, was ihnen gefällt?“
Das übrigens auch, wie man erkennen konnte. Zaharas Mundwinkel zogen sich mal wieder von Ohr zu Ohr – diese Frau hier war einfach komplett durch und zu nichts mehr zu gebrauchen. Himmel, was war der Guten nur widerfahren?
„Hören sie zu. Ich habe großen Respekt davor, was sie geschäftlich geschafft haben. Mich gegenüber Männern zu behaupten ist jedoch keines meiner Probleme und ich bin auch nicht an einer Grundsatzdiskussion im Sektenführerstil interessiert. Wenn sie also jemanden beeinflussen möchten, gehen sie bitte zurück zu all den Frauen ohne eigenen Verstand oder auch nur den Ansatz von Willensstärke. Hmmkay?“
Mara seufzte erneut (das gefiel ihr offenbar sehr) und deutete ihren Anhängseln an, dass sie sich dünne machen sollten. Dann kam sie etwas näher und schien nun endlich ernst machen zu wollen. Uuuhlalalalala.
„Was glaubst du eigentlich, dir erlauben zu können, bloß weil du es vielleicht ein, zwei Jahre lang geschafft hast, diesen Fettsack, den du Ehemann nennst, von deinem Hintern fernzuhalten? Wenn du es zwanzig, dreißig Jahre lang geschafft hast, und dennoch an der Spitze eines milliardenschweren Unternehmens stehst, dann könntest du stolz auf dich sein. Für den Moment bist du jedoch nichts weiter als ein kleines Licht von vielen. Gut, du hast mehr Mumm als die Hälfte dieser Püppchen hier, aber was glaubst du, nützt dir das auf lange Sicht, wenn du dir zu fein bist, auf die Ratschläge deiner Gefährtinnen zu hören, ja sie stattdessen sogar zu beleidigen?“ Madame war also nicht nur neidisch auf die schöne Jugend, sondern es auch gewohnt, angehimmelt zu werden. Schwaches Bild. Daher zuckte Zahara nur mit den Schultern – ihr ging das alles ziemlich am Arsch vorbei. Kai wäre wohl nicht sehr stolz auf sie gewesen. Hihihihihi.
„Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, vernünftige Ratschläge zu ignorieren.“
„Offenbar müssen dir diese Ratschläge auf dem Silbertablett geliefert werden. Nun gut. Holen wir etwas weiter aus. Wie, glaubst du, nehmen dich alle anwesenden Männer hier wahr?“
Zahara hob nur abwehrend die Hände. Meine Güte, war diese Frau so schwer von Begriff? Musste man es also noch einmal erklären. „Du scheinst nicht besonders gut zwischen den Zeilen zu lesen. Also noch einmal zum Mitschreiben: Ich bin nicht an einer Grundsatzdiskussion interessiert, ich habe keine Probleme damit, für mich einzustehen und benötige auch nicht deine... nennen wir es Hilfe. Du hörst mir schon zu, richtig?“
Als Reaktion lief der Regenbogenfisch etwas rot an. Scham oder Wut? Vermutlich Zweiteres. So oder so: Es stand ihm nicht.
„Na gut. Du hast keine Probleme, und du willst keine Hilfe. Wie gefällt dir dann das Wort 'Warnung'? Du bist nicht mehr dort, wo auch immer du und seine Sippe herkommen. Du bist auf Matsu, und hier gelten bestimmte ungeschriebene Gesetze, besonders für Neulinge, die sich gerne profilieren möchten. Eine davon lautet, dass man sich besser nicht mit jemandem anlegt, der mehr Geld hat, denn Geld ist das, was Matsu regiert. Nicht Männer, nicht Frauen, sondern Geld. Soll heißen: Wenn du dich weiterhin wie ein Stück Fleisch kleiden möchtest, dann solltest du in Zukunft besser um Festlichkeiten wie diese hier einen großen Bogen machen. Meine Damen!“
Na endlich waren wir dem Kern nahegekommen. Es war eine klassische Ichhabegeldalsomusstdumichrespektieren-Sache. Dass all ihre männerfeindlichen Reden nicht so wirklich dazu passten, spielte ja eh keine Rolle mehr. Die Anhänger glaubten es und himmelten sie an. Reichte. Zahara konnte nur milde lächeln und beugte sich etwas näher an Mara Hanley heran. „Warnung angekommen. Nun noch ein Tipp für dich:“ Heute, in „Wie kann man die erste Dame der Gesellschaft in wenigen Augenblicken so richtig anpissen?“... Zahara Azhir! „Du musst dringend mal wieder flachgelegt werden.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sich die Exotin um und verschwand wieder in der Menge. Bisher war diese Party nicht halb so viel Spaß wie sie gedacht hatte – wann wohl endlich die Tore für Musik und Tanz geöffnet wurden?

Es war deutlich zu spüren, wie das gesammelte Publikum mit fortschreitender Zeit unruhig wurde. Immer wieder trafen teils neugierige, teils zornige Blicke die noch immer verschlossene Tür zum Nordflügel des Anwesens von John Trafford. Die Dienerschaft zuckte derweil durch die Gesellschaft und musste sich immer häufiger dafür entschuldigen, keine Häppchen mehr vorrätig zu haben; nur der Alkohol floss noch in Strömen. Ohne ihn wären sicherlich schon längst einige der Anwesenden gegangen, denn wenn die feine Gesellschaft etwas nicht ausstehen konnte, dann war es im Regen stehen gelassen zu werden. Gut, es regnete nicht wirklich, immerhin blühte der Frühling bereits auf und umfing alle Gäste mit einer frischen, wenn auch kühlen Abendluft. Vor allem die Damenwelt hatte sich jedoch nicht mit den Außentemperaturen im Kopf gekleidet, was hier und da bereits zu leichtem Zittern und von Schauern heimgesuchter Haut führte.
Im Gegensatz dazu stand Kai schon fast gelassen dort, wo er schon den ganzen Abend gestanden hatte, und hielt ein aufmerksames Auge auf die Feiergesellschaft. Seiner Einschätzung nach hätte der Ballsaal zwar schon vor etwa fünf Minuten seine Pforten öffnen sollen, doch wegen einer solch kurzen Zeit bereits nervös zu werden… wären es sechs Minuten gewesen, oder gar sieben, hätte sich der Schatzmeister der Erhabenen schon eher Sorgen gemacht – um die Hintergründe der Verspätung, eine mögliche Verschwörung des Gastgebers mit dem alten Kaiyori, einer Falle, in die die Gruppe tappte, ein Leben im Gefängnis oder gar den Strang, und natürlich den Verlust all seiner Besitztümer, inklusive der Slavery.
Zu seiner Beruhigung trugen seine Kollegen übrigens nicht unbedingt bei. Während sich allein Lonay fast perfekt in eine Riege dicklicher Männer eingegliedert hatte, fehlte von Anna bereits seit einigen Augenblicken jedwede Spur, und Zahara legte sich ausgerechnet mit Mara Hanley an, einer der einflussreichsten Frauen der Insel. Beriets in seiner Jugend, als die Dame noch verheiratet gewesen war, sagte man ihr einen unglaublichen Einfluss auf die Frauenwelt von Matsu nach; ihre Nähkränzchen waren berühmt wie berüchtigt, und so mancher Mann hatte sie bereits für eine betrügerische Ehefrau verantwortlich gemacht. Seit ihrer Scheidung hatte sie von dieser sonderbaren Art von Macht nichts verloren, im Gegenteil: Dank Zaharas zuvorkommendem Auftreten würden sie ab sofort wohl auf Schritt und Tritt Dutzende weiblicher Augen verfolgen. Als ob ihr kleiner Plausch mit den zwei Fremden sie nicht bereits zu einem Risikofaktor gemacht hatte.
Doch apropos Risikofaktor: Neben Lonay hatte sich nun wohl auch Vidal in seine Rolle gefügt, denn schon einige Minuten lang hatte kein Wort mehr seine schmalen Lippen verlassen. Trotzdem glaubte Kai nicht daran, dass der Junge eingesehen hatte, wie wenig sein großer Bruder auf seine Meinung gab. Dieser Glaube ging sogar fast soweit, dass Kai ins zweifeln geriet, ob er bereits wie seine kleinere Hälfte die Gedanken seines Geschwisters erahnen konnte. Sicher mochte das während der Operation ideal sein, um mögliche Fluchtpläne zu vereiteln, doch eine engere Bindung zu dem weißhaarigen Jungen würde die Übergabe nur unnötig verkomplizieren.
Ein Blick auf seinen kleinen Bruder bestätigte indes Kais Vermutung: Vidal schwieg zwar, doch er hatte längst noch nicht aufgegeben. Stattdessen schaute er teils grimmig, teils hoffnungsvoll zu seinem Pirat von einem Bruder herauf, als wollte er sagen: „Wenn du mich nicht aus Bruderliebe freilässt, kümmere ich mich eben selbst darum“. So intelligent, und doch so naiv. Trotz allem glaubte Vidal, es bestünde noch der Hauch einer Chance, dass es sich Kai anders überlegte und 20 Millionen einfach so in den Wind schoss. Gut, natürlich wäre es gelogen, würde man behaupten, Kai hatte sich dieses Szenario nicht bereits durch den Kopf gehen lassen, oder genauer genommen ein ähnliches, in dem er das Geld und seinen Bruder zurück auf die Slavery brachte. Auf diese Weise bekäme er alles, würde jedoch eine Sache auch verlieren: Glaubwürdigkeit. Als Händler, der etwas auf seinen Ruf gab, handelte man nicht aus dem Bauch heraus und schlug seine Geschäftspartner derart offensichtlich übers Ohr. Wollten Zahara und er jemals wieder eine Entführung durchziehen, würden sie nicht mit Geisel und Lösegeld verschwinden dürfen.
Vidals Blick wurde bei diesem Gedanken nur noch grimmiger, doch bevor er oder Kai etwas sagen konnte, ging ein Raunen durch die Versammlung und zahlreiche Köpfe drehten sich in ein und dieselbe Richtung. Auch die beiden Kaiyoris folgten diesem Gruppenzwang, doch ließ sich leicht erraten, was passiert war: Die schwere Doppeltür des Ballsaals öffnete sich. Langsam, stetig, und ohne jemanden, der sie aufzog. Sofort begann ein Drängen, Stoßen und Schubsen in Richtung des Saals, und während Kai und Vidal an der Bar relativ sicher waren, mussten Lonay, Zahara und wohl auch Anna aufpassen, vom allgemeinen Fluss nicht einfach mitgerissen zu werden. Das ganze Chaos von der Seitenlinie aus zu beobachten war indes eine wahre Freude: Edle und pikfeine Männer und Frauen verwandelten sich allesamt in Waschweiber, die ein günstiges Angebot für frische Fisch entdeckt hatten. Alle wollten sie zuerst den Ballsaal erstürmen, sich über das Büffet hermachen, und die besten Stehtische und Plätze reservieren, von denen aus man den besten Überblick über diejenigen haben würde, über die man lästern konnte. Es war das ideale Beispiele dafür, wie schmal die Grenze zwischen arm und reich wirklich war: Wenn beide etwas wollten, vergaßen sie sich einfach komplett.
Als die Doppeltüre zum Ballsaal endgültig verstopft war, erlaubte sich Kai ein leises Kichern, bevor er den überrascht dreinblickenden Vidal an die Seite des Nordflügels führte. Dort, völlig unbeachtet von den eigentlichen Gästen, hatte sich parallel zum Fronteingang eine kleine, unscheinbare Türe geöffnet, durch die ein steter Strom Diener in hauptsächlich dunkel gefärbten Kostümen in das Gebäude strömte. Anders als am Vordereingang ging es hier durch und durch gesittet zu, denn immerhin waren hier wirklich alle gleich, diente doch jedermann irgendeinem Geldsack, für den er den Rest des Abends Getränke würde beschaffen müssen, bevor es dann daran ging, seinen oder ihren vom Alkohol betäubten Körper ins heimische Herrenhaus zurückzuführen. Die Stimmung war dementsprechend gedrückt, doch Kai war das egal, solange er nur zügig ins Gebäude gelangte.
Rasch hatte sich der Händler in die kleine Schlange an der Tür eingereiht, und nachdem etwa ein Dutzend Diener vor ihm das Haus betreten hatten, gelangten auch endlich Vidal und er ins Gebäude – zumindest theoretisch. Vom eigentlichen Ballsaal trennten die beiden nämlich noch eine betriebsame Küche, einige verwinkelte Gänge, sowie ein schlecht belüfteter Aufenthaltsraum für die Dienerschaft. Kai, der sich die ausgehängten Karten schon längst bei seinen Vorbereitungen eingeprägt hatte, navigierte zielsicher durch all jene Hindernisse, sodass er sicherlich lange vor Zahara und Lonay auf eine langgestreckte Empore gelangte, die der Dienerschaft vorbehalten war und somit von den Gästen keines Blickes gewürdigt wurde. Eigentlich geplant für aufmerksame Diener, die im Trubel der Feier kein Augenzwinkern ihres Besitzers verpassen wollten, diente dieser Aussichtspunkt Kai nun dazu, grinsend beim Sturm der Reichen und Schönen auf die Tanzfläche zuzusehen, zurückgehalten allein von den Wänden des Saals und einem langen, marineblauen Band, das vor einer breiten Treppe aufgespannt war. Ebenso wie der Rest des Gebäudes war diese aus dem feinsten Marmor gefertigt, auch wenn der Stein üblicherweise von Wandbehängen, Gemälden und Girlanden verdeckt wurde, alles selbstverständlich mit maritimem Thema. Man sah papierne Lampen in Form aufgeblähter Kugelfische, bunte Teppiche mit stilisierten Fischgesichtern, und zahlreiche Aquarellzeichnungen mystischer und realer Unterseebewohner. Dies alles wurde von einem großen Kronleuchter angestrahlt, der hoch über den Köpfen der Gäste ein überraschend helles und reinweißes Licht spendete, obgleich er mit tausenden von Saphiren geschmückt war. Allein dieser Leuchter wäre vermutlich so viel wert wie der kleine Vidal an Kais Seite, was den Händler an dem vereinbarten Preis kurz zweifeln ließ. Sicher hätte er seinem Erzeuger auch 30, oder gar 50 Millionen Berry abringen können. Für ai hatte er seinerseits zwar nicht einmal einen müden Berry Lösegeld zahlen wollen, doch für das Lieblingskind Vidal…
Rasch verdrängte Kai den Gedanken und konzentrierte sich auf die eigentliche Aufgabe: Seine Teamkameraden und sein Opfer zu finden. Mittlerweile hatte etwa die Hälfte der Gäste einen Weg in den Ballsaal gefunden, doch die allgemeine Unordnung machte es praktisch unmöglich, eine einzelne Person ausfindig zu machen, und zwar trotz der so unterschiedlichen Kostümierungen. Kai musste zugeben, dass der Gastgeber gute Arbeit geleistet hatte, was die Einrichtung anging: Mit dem in verschiedenen Blau- und Grüntönen gehaltenen Ambiente des Saals wirkte die Gesellschaft unten wirklich wie ein merkwürdiger Fischschwarm inmitten des Meeres. Dieser Eindruck passte auch insofern, als sich die Fische zahlreiche böse, fast hungrige Blicke zuwarfen, was die Besetzung von Plätzen anbelangte. Vor allem direkt am seidenen Band, das den Gästen die Treppe in das zweite Geschoss des Saals versperrte, hatten sich etliche Leute versammelt, um über eine Position möglichst weit vorne zu kämpfen. Andere hatten eingesehen, dass dort zu heftig gestritten wurde, und machten es sich am Rande des Saals unter den Tribünen gemütlich, wo etliche Gemälde zu bewundern und hier und da kleine Stehtisch mit hohen Stühlen aufgestellt worden waren.
Wenn schon die Menschen nicht zu analysieren waren, wollte sich Kai zumindest auf das Gebäude konzentrieren. Ein kurzer Blick verriet ihm jedoch, dass die Grundrisse, die er einem unterbezahlten Steinmetz hatte abkaufen können, noch immer stimmten: So war der Saal praktisch in zwei Geschosse geteilt, die eigentliche Tanzfläche unten und eine umlaufende Tribüne, die jedoch in mehrere Teile gespalten war. Nah an der Südwand, sprich am Eingang des Saals, war ein Stück Balkon für die Dienerschaft abgetrennt; dort befand sich Kai. Der restliche Ost, sowie der gesamte Westteil war dagegen für die Gästeschaft gedacht, doch die schmalen Wendeltreppen, die hinauf führten, waren wie die große Treppe noch mit blauen Bändern abgesperrt. Ebenjene große Treppe führte letztlich zum Nordteil des Balkons, dem eigentlichen zweien Stock, von dem aus etliche Gänge in Richtung von Wohn-, Arbeits- und sonstigen Räumen abzweigten. Ähnliches galt für das Erdgeschoss, in dessen Wände in regelmäßigen Abständen dunkle Holztüren eingelassen waren, welche in Lagerräume oder Zimmer der Dienerschaft führten.
Für die Operation der Erhabenen waren letztere mit am wichtigsten, da sie am ehesten für die Geldübergabe geeignet wären: Etwas abseits der Feier, unbeachtet von den Gästen, hätten sie dort die besten Chancen auf einen ungestörten Ablauf. Ähnliche Räume im zweiten Stock wären ebenso geeignet, doch die Fluchtgelegenheiten auf Erdniveau waren wesentlich besser. Fernhalten würden sie sich derweil von der Ostseite des Gebäudes, das praktisch während der gesamten Feier einem steten Strom von Dienern ausgeliefert war, die zwar oftmals viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, doch es genügte ein verirrtes Paar Augen, um den gesamten Handel zu verderben.
Ein ungewöhnlicher Anflug von Angst zog Kais Blick unvermittelt zu seinem kleinen Bruder, der mit großen Augen in die Menge starrte. Der Pirat musste keinen Augenblick suchen, um zu verstehen, wen der Junge anstarrte: Eine korpulente Königsmakrele, die zielsicher auf das blaue Band vor der großen Treppe zusteuerte. Anders als der Großteil der Gäste musste sich der Mann jedoch keinen Weg schaffen, er wurde ihm ganz selbstverständlich geschaffen. Dann, kurz vor dem Band, bog der Mann ab und polterte auf die Westwand des Gebäudes zu. Kais Augen verengten sich, fokussierten den grauen Fisch, und… blinzelten gegen eine plötzliche Dunkelheit an, als schlagartig der Kronleuchter jedweden Glanz verlor und der gesamte Saal in schwarze Schatten gehüllt waren.
Kais Griff verkrampfte sich um das Geländer der Dienerempore. Er war dort gewesen, direkt dort unten, in seinem Blick, und trotzdem…!
Trotzdem die Gesellschaft unten im Saal bereits schrie und brüllte, konnte man deutlich eine leise Musik hören. Nun, es war keine vollendete Musik, sondern mehr eine rhythmische Folge tiefer Töne, mal nur Streicher, mal nur Blechbläser, mal beides zusammen. Trotzdem brachte sie die neugierigen Gäste schnell zum Schweigen, wurde schneller und schneller, bis auf dem Höhepunkt schließlich nach und nach die Kerzen des Kronleuchters erneut von Geisterhand entfacht wurden. Anstatt auch dieses Mal jedoch ein klares Licht zu spenden, glühten die Flammen in einem verhängnisvollen Blau, vermutlich hervorgerufen durch Zugabe irgendeines besonderen Brennstoffs. Das schummrige Licht enthüllte eine schwarze Gestalt am oberen Ende der Treppe, vom Umriss her in kein Kostüm gekleidet. Die Gestalt sah sich demonstrativ um, blickte nach rechts und nach links, zuckte dann mit den Schultern und schlenderte gemütlich nach links ab. Plötzlich sprang rechts aus den Schatten eine zweite Silhouette – diesmal ganz eindeutig als Fisch kostümiert – und stieß dem unwissenden Mann in den Rücken. Die Flammen des Kronleuchters färbten sich Rot, die Musik war laut wie nie, dann verstummte sie plötzlich, und das Licht erlosch erneut. Völlige Stille beherrschte den Saal, niemand wusste, wie ihm oder ihr geschah, bis der Kronleuchter erst dunkelrotes, dann gelbes, dann helles weißes Licht spendete. Selbst von seiner Tribüne aus konnte Kai nun deutlich den verdrehten Körper sehen, der rot befleckt mitten auf der Treppe lag, die Augen aufgerissen und alle Glieder von sich gestreckt.
Wie eine Person schrie und heulte das Publikum, und kreischte noch lauter, als die vermeintliche Leiche mit einem Mal aufsprang und breit grinste.
„Gemach, Gemach, meine lieben und hoch verehrten Freude! Mir, eurem Gastgeber, Jonah Trafford, geht es gut! Das hier?“ Er fuhr sich über sein „blut“verschmiertes Gesicht. „Paprikasoße! Kaum aus der Kleidung zu waschen, doch eine hervorragende Beigabe für die leckeren Fischköstlichkeiten, an denen ihr euch alle heute gütlich tun mögt!“
Unter den neugierigen Blicken seiner Gäste stolzierte Trafford anschließend die Terppe hinunter, stellte sich vor das blaue Band unten, und zückte ein viel zu großes Fischmesser. Eine blitzschnelle Bewegung, und der Stoff war durchtrennt.
„So lasst das Fest beginnen!“